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26.02.2013, 11:25 Uhr
Hans Pleschinski
Text & Debatte
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Ende November reisten die SchriftstellerInnen Dagmar Leupold, Georg M. Oswald, Norbert Niemann, Nina Jäckle und Hans Pleschinski nach Moskau. Aus Russland kommen Alexander Skidan, Alisa Ganieva, Natalja Kljutscharjowa, Andrej Gelassimow und Alexander Ilichewskij im Mai 2013 nach Bayern, wo sie unter anderem zu Gast in den Literaturhäusern München und Oberpfalz sein werden.

[Moskau-Blog]: Moskauer Tage

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Hans Pleschinski ergreift das Wort in der Diskussion mit den russischen KollegInnen

Moskau weiß nicht, wohin es will. Nach Europa oder nach Asien? Hoch hinaus oder noch mehr in die Breite? In die Zukunft oder stark in die Vergangenheit zurück? So ist der Besuch auch lohnend, um eine Gesellschaft, ja, eine Zivili­sation, die russische, an Scheidewegen kennenzulernen. Indi­vidual-Touristen ist eine Visite Moskaus dennoch nicht ohne weiteres zu empfehlen. In vielfacher Weise kann er unter die Räder geraten. Ein­mal unter jene der Autos, die selten bremsen. Dann, im Winter, unter die Ketten der Schneepflüge, die sich auf acht-trassigen Straßen in geschlossener Forma­tion nähern, und deren Keilpflüge alles beiseite räumen, was hinderlich ist: Schneemassen und Passanten, die sich über die Fahrbahnen wa­gen. Wie antike, allerdings vermummte Wa­genlenker, stehen Männer auf den Räumko­lossen und scheinen nach Schneewehen und Opfern Ausschau zu halten. Der Fußgän­ger hat in Moskau Unter­füh­rungen zu benutzen, die zugleich Ba­zare sind und ein ähnliches System von Ein- und Ausgängen aufweisen, wie die U-Bahn: ein undurchschaubares. Wer den falschen Ausgang benutzt, ist fürs erste verloren.

Das Ausmaß dieser Stadt wird gleich nach der Ankunft deut­lich. Auf dem Transfer vom Flughafen ins Zentrum er­klärte eine schätzenswerte Schriftstellerkollegin im Anblick der endlosen Gebäudemassen: "Um die Russen kennenzulernen, müßte man an jeder Wohnungstür klingeln und dann um einen Wohn­zimmer­tisch ins Gespräch miteinander kommen."

Ja, gerne! Aber bei geschätzten fünfzehn Millionen Einwoh­nern hätten wir bei diesem Verfahren jetzt erst eine drei­viertel Straße bewältigt und hätten noch vier- bis fünftau­send vor uns. Dennoch, es wäre die einzig rich­tige Methode fürs Kennen­lernen, jeden Einwohner zu fragen: "Guten Tag. Wir sind aus Deutschland. Wie geht es Ihnen? Was heißt es für Sie, Russe zu sein?"

Das Gros der Moskowiter - was für eine poe­tisch würzige Bezeichnung! - wäre gewiß überrascht, aber wahrscheinlich bald aus­kunftswillig. Die Moskowiter sind summa summarum durch die Alltagsanforderungen sehr gehetzte Menschen, aber sicherlich auch noch gerne ländlich schwatzhaft. Bei unge­fähr einhundert diversen Völkerschaften, die in der Metro­pole wohnen, käme man aber im Gespräch auch mit per­fektem Russisch nicht immer sehr weit: "Ach, Sie sind Dage­staner? Was bedeutet das für Sie und die Zukunft?"

Etliche Moskowiter sollte man, wie finstere Zeitgenos­sen in jedweder Weltstadt, besser über­haupt nicht anspre­chen, schon gar nicht nachts in einer unbelebten Gegend. Das Völker­-Ge­misch bleibt undurchdringlich. Extrem schick gekleidete Pas­santen bahnen sich ihren Weg durch die Massen hart schuften­der Menschen, bisweilen belauert von Gestalten, die mit ge­heimen Zielen an einen Kiosk lehnen oder sich um die Bahn­höfe herum­treiben. Hier, das meint man zumindest als Westler und womöglich fälschlicherweise, könnte man jene Rächer din­gen, die man zur endgültigen Be­reinigung einer Fehde auch nach Bayern losschicken könn­te. - Junge Kriegsinvalide gewahrt man da und dort, oft als Straßenhändler.

Behinderte hingegen sind fast nirgendwo zu sehen. Sie gelten als nicht vorzeigbar und werden von ihren Familien im Ver­bor­genen versorgt.

In die noch unabsehbarere Breite wächst Moskau, doch auch zunehmend in die Höhe. Die Skyline Frankfurts läßt sich am Horizont gleich mehrfach erkennen. Zum unverdaubaren Wechsel der Eindrücke gehört das Nebeneinander von Glanz und mancher Abgewrackheit. Hinter prächtigen Fassaden bröckelt in Hin­ter­höfen der Putz auf Müllhaufen. Die Fenster rundum sind selten geputzt. Man glaubt zu verstehen, warum: Wie kann man eine Stadt, ihre Fenster immer rein halten, wenn länger als ein halbes Jahr Schnee, Matsch und abermals Schnee sich ab­wech­seln? Moskau kann nicht überall westlich sauber sein; (wa­rum auch?)

Dann er­fahre ich, daß Russen ihre Fenster im Grunde niemals putzen. Dies gilt seit Menschengedenken, also seitdem es Ver­folgung in diesem Land gibt, als eine Schutzmaßnahme. Kein Fremder soll in die Wohnräume spähen können. Zu solchem Selbstschutz gehört es auch und maßgeblich, Nachbarn nicht zu grüßen, sogar jahrelang deutlich abweisend zu bleiben, denn jeder Fremde konnte und kann ein zaristischer, ein sow­jeti­scher und nun schon wieder ein staatlicher Schnüffler und Denunziant sein. Autokratische Regime weiten sich auch nach unten als ängst­liches, schroffes Verhalten aus. Um so unvergleichlich herz­licher dann jene Russen, deren Vertrauen man gewinnen darf.

Die Reise nach Moskau war der Literatur gewidmet. Die Stadt selbst ist in jeder Ecke, aus jeder Perspektive teils noch ungeschriebene Literatur.

Sie überwältigt durch ihre Dimen­sion, durch die großen Reste ihrer Ehrwürdig­keit, den Kreml, die allgegenwärtigen Dich­ter-Denkmäler. Die Stadt befremdet durch bizarre Geschich­ten: In den Wintern unter der Diktatur Stalins wurden eisige Tempe­ra­turen rigoros ins Wärmere gefälscht; man fror dann so­­zu­sagen unberechtigt. Sogar bei Frost sollten die Menschen an den Ver­kaufsbuden, bisweilen unter künstlichen Pal­men, Spei­se-Eis schlecken, um Wohlleben zu de­mon­strie­ren.

Moskau ist durch­flu­tet von Schicksalen, die uns fremd sind und zutiefst er­regen können. Woher stammt der Kellner mit seinem faszinierenden asiatischen Gesicht? Welche Musik hört er am liebsten, reist er oft in seine Heimat? Ist es Usbe­ki­stan? Hat er von dort seine eleganten Bewegungen? Die fül­li­ge Rezep­tioni­stin war vorzeiten Kapitänin auf einem Wolga­frach­ter gewesen. Was könnte sie alles von ihren Fahrten er­zäh­len! Wie, möchte man dauernd erfahren, halten die Russen die un­geheure Spannung aus, aus einem untergegangen Imperium zu stammen und nun ein mehr oder minder korrekt gewähltes Staatsoberhaupt gegen die allgegenwär­tige Korrup­tion pre­di­gen zu hören, deren Teil er laut Hö­rensagen selbst ist? Oder wollen die meisten Moskowi­ter nur Ruhe und ihr sicheres Ein­kommen? Wahrscheinlich.

Und wie gehen die Bewohner von Rußlands Hauptstadt damit um, ehedem zu Atheisten erzogen worden sein, während nun in ihrer Stadt ungefähr einhundert­fünfzig Kirchen neu erbaut oder wiederhergestellt wer­den? Die Orthodoxie ist sicht­­bar und massiv zurück und trennt sich abermals nicht, als eine Glaubensgemeinschaft, vom Staat, sondern arbeitet tüch­tig daran mit, das Land mit einer Art von Klerikaldespotie zu überziehen.

Das Fernsehprogramm in Moskau ist trügerisch bunt. In seiner kontrollierten Schein-Vielfalt sieht man nicht, worüber auch kritisch berichtet werden könnte. Das russische Fernsehen schwappt über von Historien­filmen. Nach der Ver­nich­tung von Wissen um die Geschichte des Landes unter dem Kom­munis­mus, wird nun in Heldenepen Rußlands Macht neu her­auf­beschworen. Großfürsten und ihre Schlachtensiege verdrängen möglichweise kurzzeitig die Beklemmung über jetzige Mächtige und ihre ma­fiosen Verstrickungen.

Moskau ist ein Fragenkatalog. Eindrucksvoll ziehen von weit­her die Kreml-Türme die Blicke auf sich, doch hinter dem roten Mauerring, der bis ins 19. Jahrhundert weiß getüncht war, scheint sich wie eh die Verwandlung von anfangs viel­leicht gutwilligen Re­gieren­den zu selbstherrlichen Poten­ta­ten zu vollziehen. Trauig' altes Lied, also wohl ein rus­sisches.

Dabei steht insbesondere der Kreml für eine russisch-euro­päische Verbundenheit. Aber nicht viele wissen, daß Zaren ehedem italienische Baumeister zur Errich­tung ihrer Residenz an die Moskwa ge­holt hatten. Die Zinnen und Türme des Kreml sind vergrößerte Kopien des Ka­stells Sforza in Mailand. Außen die nach Ruß­land verpflanzte Lom­bardei, innerhalb der Kreml-Mauern die Gottes­häuser der Orthodo­xie, die ihren Gläubigen stets die Mög­lich­keit zur inneren Ver­senkung vor irdischem Grauen geboten hat. Auf die Hin­führung der Schutz­befohlenen zum selbst­­bewußten Gottesge­schöpf wird noch ge­wartet. Der Patriarch von Moskau sammelt lieber kost­spielige Uhren und preist Unterwerfung.

Voller Lebensromane ist Moskau. Begierig saugt man jeden Gesprächsfetzen auf, versucht die Gesichter zu entschlüs­seln, bastelt sich Geschichten um die Türwächter der fünften Etage unseres Hotels zusammen, wo sich unleugbar ein sepa­rates Nobel-Bordell befinden muß. Die Damen und Herren, die dort verkehren, strömen aus dem Flockentreiben herein und betreten direkt ihr Moulin Rouge. La Grande Russie. Die ari­sto­kra­tische Dekadenz der späten Zarenzeit haben die neuen Oliga­rchen jedoch längst nicht erreicht. Heutzutage scheint Reichtum eher grob oder schrill daherzukommen.

Um Literatur ging es beim bayerisch-russischen Autoren­tref­fen. Ich möchte es nicht missen und werde es nie ver­gessen.

Allein der Umstand, daß es in der ehemaligen Botschaft der DDR, dem jetzigen Goethe Institut stattfand, ist einmalig. Was für eine begrüßenswerte Nachfolge, daß deutsche Kultur und Sprache ­nun dort vermittelt werden, wo vordem die kom­munistische Geheimpo­li­tik verhandelt wurde. Ob sämtliche sow­jeti­schen Abhör­anlage abmontiert - oder vielleicht sogar durch neue ersetzt worden sind - weiß ich nicht. Was ließe sich aus einem Goethe Insti­tut heraushorchen?

Zwei Tage saßen wir mit russi­schen Autorenkol­legen bei­sam­men. Von vornherein genoß ich es, daß Schrift­steller, gleich wo auf der Welt, ziemlich problemlos mitei­nan­der debattieren kön­nen. Alle Anwesenden, wie in eine unverse­hens zusammen­geströmten Familie, konnten nicht umhin, nach und nach ihre Literatur-, ihre Welt- und Lebensan­liegen zu offenbaren oder zumindest anzudeuten.

Verblüffend wirkte es, daß nach eini­ger Zeit russische Kol­le­gen bekannten, noch nie oder selten derartig offen und in­tensiv gemeinsam mit Frem­den über Bü­cher, also über ihre per­sönlichen Botschaf­ten ge­redet zu ha­ben. Als geistige Minderheit in der Welt rückt man fraglos zusammen.

Daß deutsche Auto­ren häufiger von den priva­ten L­ebenskrisen ih­rer Buchgestal­ten sprachen, überraschte nicht. Für die rus­­si­­schen Kollegen hin­gegen waren der Tschet­sche­nien-Krieg und seine Folgen wich­ti­ger oder welche Identität im unruhi­gen Osten man als Kau­ka­sierin besitzt.

Jedwedes Thema ließ sich endlos vertiefen. Und Zuhören er­wies sich als hohes Kulturgut.

Doch als Schauplatz fortwährend Moskau: Als vor den Fenstern des Ta­gungsraums Schnee fiel, dachte ich daran, daß einund­sieb­zig Jahre zuvor die deutschen Truppen, in ebensolchem Winterwetter, ihren Angriffs­ring um Moskau schließen woll­ten. Und blutig scheiterten. Auch mein Vater, als junger Soldat, wich damals vor den Verteidi­gern zurück; und ich saß nun - mitten in der Stadt - friedlich im Kreis mit russi­schen Autoren. Auch solche Gedan­kensplitter gehörten zum Treffen. Dazu je­des Händeschütteln, jeder freundliche Blick, vielleicht auch eine gewisse Neu­gierde auf uns, auf Deutsch­land, zu der wir womöglich an­regen konn­ten. Deutschland ist für Rußland nicht maßgeblich. Aber nie brach auch die innere Verbindung zwischen dem weiten und unserem so viel kleineren Land ab.

Wohin will Rußland? Brennend stellt sich diese Frage be­son­ders vorort. Rußland besitzt alle Mittel, um modern, demo­kra­tisch und zivil zu sein.

Tüchtige Russen reparieren auch bei minus zwanzig Grad unverdrossen Dächer und Wasserlei­tun­gen. Rus­sen haben aus ihrer fremdartig-vertrauten Welt der Mensch­heit vor­zügliche Kunstwerke, in der Literatur, Musik, geschenkt. Warum nur scheint das wohl größten­teils ­so West-durstige Land abermals in alte Mißwirt­schaft und Repression zu versin­ken? Jede Le­sung aus meinem Roman 'Bildnis eines Un­sicht­baren' war, wie ich erfuhr, mög­licherweise straf­bar, weil in dem Buch auch gleich­ge­schlecht­liche Liebe zu ihrem Recht kommt.

Während unseres Aufenhalts bahnten sich weitere bedrückende Gängelungen und Vorschriften an. Liberalen Universitäten Ruß­lands wurden Geldmittel gekürzt. Jenes 'Herodes'-Gesetz war in Vorbereitung, das die Adoption russischer Waisen durch US-Amerikaner verbietet, - aus kleinlichstem poli­ti­schen Kal­­kül heraus. Und die Geistlichkeit sekundierte: russische Kinder, die unorthodox in Amerika aufwüchsen, würden ohnehin in die Hölle kommen. Mittlerweile könnte ich aus meinem Roman innerhalb der Russischen Föderation über­haupt nicht mehr öf­fentlich vortragen und mit Zuhörern darüber disku­tieren. Nach neuestem Gesetz würde ich durch die Buchthematik die öffent­liche Ordnung gefähr­den, also Rußland mit in den Ab­grund stürzen, und empfind­lich bestraft werden.

Warum nur, bei einem so mächtigen Land, solche altmodische Unter­drückungs­lust, und zwar in vielen Berei­chen? Aus Tra­ditionen heraus? Auch Rußland besitzt bessere, die für die Zu­kunft taugen. Zum Beispiel den freien, tole­ran­ten Moskauer Kaufmannsgeist der vorletzten Jahrhundert­wende, das Bürger­tum Sankt Petersburgs, das weltoffen war und moderne Errun­gen­schaften genoß.

Es ist derzeit oft schmerzhaft, Rußland zu schätzen.

Es sollte vornehmlich eine Freude sein, es zu lieben.

Rußland ist uns fremd und kann uns bereichern.

Und wir könnten es loben für seine Kraft und Vielfalt. Und würden es gerne tun. Rußlands freizügiges Wohlergehen wäre auch ein Teil des unsrigen.

Wie reizend Rußland sein kann, voller unvermutetem Charme, erfuhr ich an einem Moskauer Schnellimbiß, wo ich mir, ziem­lich ausgehungert, rasch einen Cheeseburger kaufen wollte. Doch wie sollte ich auf Russisch, in Ky­rillisch einen Chee­se­bur­ger bestellen, den ich nur an seiner Abbildung er­kann­te? Ich bat auf Eng­lisch einen jung­en Moskowi­ter hinter mir, ob er mir einen Cheeseburger bestellten könn­te. Der junge Mann wirkte über meine Frage etwas ver­wirrt, nickte dann und bestellte für mich: "Cheesebürrger!"