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11.12.2020, 14:59 Uhr
Patricia Blob
Text & Debatte
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Weihnachtsbuchtipp: Der aktuelle Roman von Pierre Jarawan

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Pierre Jarawan © Marvin Ruppert

Pierre Jarawan, 1985 in Amman/Jordanien geboren, gehört zu den erfolgreichsten Slam Poeten Deutschlands und ist als Autor, Moderator und freier Fotograf tätig. „Ein Lied für die Vermissten" ist sein zweiter Roman nach dem internationalen Bestsellerdebüt „Am Ende bleiben die Zedern" (2016). Beide Bücher sind im Berlin Verlag erschienen. Pierre Jarawan lebt in München.

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Der Roman vereint mehrere Handlungsstränge aus drei verschiedenen Zeiträumen: 2011, als der Arabische Frühling schon in vollem Gange ist, erzählt der Protagonist Amin von seinem Leben. Er erinnert sich zurück an das Jahr 1994, als er mit seiner Großmutter von München nach Beirut zurückkehrte. Der Bürgerkrieg, vor dem sie vor 13 Jahren geflohen sind, ist da zwar vorbei, hat aber dennoch tiefe Spuren in Land und Menschen hinterlassen. Zusammen mit seinem Freund Jamil verbringt Amin seine Jugendzeit zwischen zerbombten Museen und gemütlichen Cafés, zwischen jugendlichem Leichtsinn und unbekannten Gefahren. Ihnen entgeht allerdings auch nicht, in welcher Angst die Menschen um sie herum noch leben. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche, um ein Geheimnis zu lüften, das seinen Ursprung in der Zeit des Bürgerkriegs hat.

Die Handlungsorte und das Aufspüren von Geheimnissen erinnern an Pierre Jarawans ersten Roman. Der Einstieg in die Geschichte fällt diesmal aber etwas schwerer, weil sich die einzelnen Fragmente erst nach und nach wie ein Puzzle zusammenfügen. Der Erzähler bleibt zunächst oft vage, deutet eher an, was passiert sein könnte und wo es hinführt. Hinzu kommt das Springen zwischen Orten und Zeiten. Diese anspruchsvolle Konstruktion passt allerdings sehr gut, da auch der Protagonist ein Suchender ist, der sich langsam an ein großes Ganzes herantastet. Die Handlungsstränge sind schlüssig aufeinander abgestimmt und werden meist genau an den richtigen Stellen unterbrochen, um beim Leser Spannung und Neugier zu entfachen.

An Amin, dessen Erzählperspektive man gebannt folgt, zeigt sich besonders eindrucksvoll die Verknüpfung zwischen dem normalen Alltag und der Ausnahmesituation, in der sich die Figuren befinden. In dieser Diskrepanz gelangt Jarawans viel gelobtes Talent, fesselnd zu erzählen, zu voller Blüte: Er schafft es, dem Leser die Innenwelt der Charaktere (be)greifbar zu machen und vermittelt zugleich von Beginn an zwischen den Zeilen eine unheilvolle Grundstimmung, die die Schatten der Geheimnisse vorauswirft.

Die Lektüre des Romans bedarf Aufmerksamkeit und Konzentration, aber umso mehr regt er zum Mit- und Nachdenken an. Auch weil Jarawan brisante politische Fragen aufwirft: Bis heute wird Verantwortlichen von Verbrechen, die im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg 1975–1990 begangen wurden, Straffreiheit gewährt. Versuche, vermisste Personen zu finden, waren bisher größtenteils erfolglos, der Verbleib vieler Verschleppter ist völlig ungeklärt.

Der Roman ist eine fesselnde Lektüre, die den Lesern die Geschichte eines vermeintlich fernen Landes und das leidvolle Schicksal unzähliger Menschen nahe bringt. Pierre Jarawan gelingt es, Realität und Fiktion faszinierend zu verbinden und durch seine bildhafte Erzählweise vielschichtige Figuren zum Leben zu erwecken, die einen nicht mehr loslassen.