Das neue Jahr – Teil 1
Der ukrainische Schriftsteller Andrij Krasnjaschtschich schildert einmal mehr, wie der Krieg das Leben der Menschen verändert und auf welche Weise sie, innerlich wie äußerlich, zu überleben versuchen. Was ein Neues Jahr in Zeiten des Krieges bedeutet und wie Tiere den Ukrainerinnen und Ukrainern helfen, lesen Sie in dieser eindrücklichen Erzählung.
*
Was aussieht wie ein Huhn, riecht wie eine Ente und schmeckt wie eine Ente, ist eben ein Huhn.
Meine Tante mag unser Sinfonieorchester. Sie geht nicht sehr oft hin. Ein- oder zweimal im Jahr. Wir waren am Tag der Verfassung dort. Beim Neujahrsfest am 27. Dezember auch, meine Schwester hatte im Voraus Karten gekauft. Um Mama eine Freude zu machen. Heutzutage gibt es nicht viele Anlässe zur Freude. Für die Tante ist ein Konzert ein großes Ereignis. Sie kommt glücklich zurück und erinnert sich noch tagelang daran. In Poltawa gibt es ein sehr gutes Symphonieorchester. Das Neujahrskonzert ist immer etwas Besonderes.
Es waren Melodien aus Hollywood-Filmen. Nicht nur aus Weihnachtsfilmen. Auf den Bildschirmen an der Seite wurden dazu Filmausschnitte gezeigt. Ich drehte den Kopf und schaute erst hin, dann her – auf das Orchester. Herausgeputzt, feierlich, lächelnd, wenn ihnen applaudiert wurde, aber dennoch traurig. In diesem Jahr gab es viele Verluste. Jeder hat eine Liste von Verlusten. Ich versuchte, nicht daran zu denken, und hörte einfach Musik. Der Mann und die Frau, die durch das Programm führten, bemühten sich, Witze zu machen, und lächelten. Ich glaube, ich lächelte zurück. Und Lena, Nadia und meine Tante auch.
Nach dem Konzert warteten wir auf den Trolleybus. „Das Konzert war wunderbar“, sagte die Tante. „Aber das Gefühl von Festlichkeit ist nicht gekommen. Es war leer.“ So ging es Lena, Nadia und mir auch.
Die „Akademischen Symphoniker Poltawa“ (A. d. Ü.: Im Original ukrainische Passagen werden hier und im Folgenden kursiv gesetzt) haben im Telegramm mehrere Videos veröffentlicht. Wir sind auch zu sehen. Ernst, konzentriert auf die Musik, auf uns selbst. Ich dachte, ich hätte gelächelt, aber auf dem Video ist es nicht zu sehen.
Beim Friseur:
„Wir dachten, wir würden für den Sieg applaudieren, aber wir applaudieren für das Leben.“
Am Silvesterabend sollte man etwas Unnötiges oder Altes wegwerfen. In Putins Glatzkopf, den Nadia zu Lenas Geburtstag mit einer ukrainischen Flagge durchbohrt hatte, nisteten sich Fliegen ein. Lena zerbrach ihn und warf ihn in den Mülleimer. Die ukrainische Flagge steckt noch darin.
Wir träumen ständig vom Neujahr, und das ist die beste und schönste Stimmung im Jahr. Besser als vom Geburtstag zu träumen. Neujahr gehört allen, ist für alle da. Dieses Jahr wollten wir kein Neujahr, keine Feier. Wir hatten uns vorbereitet, hatten Essen für den Festtagstisch und Geschenke gekauft, doch die Stimmung war nicht festlich.
Das neue Jahr 2023 haben wir feierlich eingeläutet: Erstens haben wir überlebt. Wir wünschten uns einen baldigen Sieg und die Rückkehr nach Hause. Das wünschen wir uns auch für das Jahr 2024, weshalb es nicht festlich ist.
Das zweite Neujahr in Folge in einer Umsiedlungswohnung ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Eine traurige Normalität.
In der Neujahrsnacht erzählte Nadia am Tisch einen Witz. Nicht über den Jungen mit den Schulpulten, sondern über den Optimisten. Ich habe darum gebeten. Er ist kurz, nur zwei Sätze, und ich denke immer wieder an ihn. „Auf einem Friedhof gibt es viele Pluspunkte.“
Larissa aus Sorrent: „Ihr seid alle so nett und schön, aber trotzdem sehe ich Traurigkeit in euren Augen. Wir haben uns auch mit Freunden getroffen, aber ... Weißt du, das Tischgespräch zieht sich in die Länge, es fließt nicht so richtig, sondern es ist, als würde man jedes Wort mit einer Zange ziehen: Wir müssen reden. Dann haben wir uns hingesetzt und Monopoly gespielt, weil das Gespräch nicht in Gang kam. Egal, womit wir anfingen, es endete immer wieder mit der Ukraine, der Ukraine, der Ukraine.“
Sascha Grebenstschikowa: „... Sie haben uns die Freude gestohlen, den Neujahrsglauben an einen Neuanfang. Den Glauben an die Macht der guten Wünsche, die Wünsche auch. Und sie haben uns auch den 1. Januar gestohlen – den gesetzlich festgelegten Tag des Loslassens, die Erlaubnis, so zu sein, wie wir sind – das war das eigentliche Neujahrsgeschenk. Und auch das haben sie uns gestohlen: Den 1. Januar haben wir dieses Jahr nicht gehabt. Und die Tage drum herum natürlich auch nicht.“
2024, ich habe die Dokumente mit letztem Jahr datiert! „Du lebst noch im Jahr 2023!”
Eigentlich lebe ich immer noch im Jahr 2022.
Zwei Jahre ohne Feiertagswochenenden. Ohne Neujahr, Ostern und Weihnachten. Ohne Dreikönigstag, Tag der Verfassung usw. 2021 waren es elf.
Die Zukunft geht zwischen den Kriegen verloren. Die Welt ist bereits in einer Zukunft angekommen, die bisher nur aus Science-Fiction-Filmen bekannt war: „Ab nächstem Jahr werden Roboter-Englischlehrer an Grund- und Sekundarschulen in Südkorea eingesetzt.“ „Lilium-Flugtaxis sind in der EU zugelassen worden.“ – „Der erste Neuralink-Patient, dem ein Chip ins Gehirn implantiert wurde, kann laut Elon Musk eine Computermaus mit der Kraft seiner Gedanken steuern.“ Der Blick gleitet weiter und stößt auf Meldungen wie: „Die Luftwaffe meldet eine Drohnenbedrohung“ oder „Sumy-, Poltawa- und Charkiw-Region – Raketendrohung“. Die Zukunft: „Es wird 757 Jahre dauern, bis die Ukraine die Schäden der Minenverseuchung ihres Territoriums beseitigt hat“, sagen GLOBSEC-Analysten.“
Zwei Tage vor Neujahr: „Zwischen 5 und 8 Uhr morgens flogen am 30. Dezember 22 Raketen in Charkiw ein“, so Terechow.
„Eine Poliklinik, eine Schule, Wohnhäuser, ein Postamt und Industrieunternehmen der Stadt wurden beschädigt. Sieben Menschen wurden verletzt, es gibt einen Toten. Die Rettungskräfte sind dabei, die Trümmer zu beseitigen.“
In einem Klassenchat:
„Wie geht's?“
„Wir sind ins Bad gegangen und schlafen jetzt dort.“
„Wir sind bereits im Keller angekommen.“
„Wurde heute ein Klassenrat vor den Ferien einberufen?"
„Wir treffen uns mit den Kindern erst nach den Ferien.“
Ludochka: „Hallo, danke. Ich bin heute nicht sehr zuversichtlich. Ich werde wohl kaum arbeiten können.“
„Hallo 🥰. Ich bin gerade aufgestanden. Habe die ganze Nacht Shaheeds gejagt. 🤭”
„Ab zur Drohnenjagd.“
Ich stelle mir Ludotschka mit einem Wischmopp in der Hand vor. Ludotschkas „Shaheeds jagen“ bedeutet, wach zu bleiben, dem mopedähnlichen Zirpen der Drohnen vor dem Fenster zu lauschen, bereit zu sein, ihren Mann und ihren Sohn jeden Moment zu wecken, sich einen Koffer zu schnappen – auch das ist ein Begriff – und mit ihnen in den Keller zu rennen. Aber „jagen“ klingt würdiger.
„Morgen!“
Ljudotschka: „Ein schrecklicher Tag beginnt mit diesem Wort.“
Lena: „Es gibt eine neue Tradition, Leute nicht mit ‚Guten Morgen‘, sondern mit ‚Morgen...‘ zu begrüßen, und dann je nach den Umständen.“
Oft folgt auf „Morgen“ die Frage: „Hattet ihr eine laute Nacht?“
Klassenlehrerin im Chat:
„Morgen allerseits!
Geht es allen gut?
Besonders in Mitte.“
Gemeint ist: „Am 2. Januar gab es in Charkiw wieder einen massiven Raketenangriff.“ – „Es gab Einschläge im Stadtzentrum in Wohngebieten.“ – „Eine 91-jährige Frau starb, nachdem ihr nach der Explosion schlecht geworden war.“ – „Bis jetzt sind 63 Verletzte bekannt, darunter fünf Kinder: drei Jungen im Alter von neun Jahren und zwei Mädchen im Alter von sechs und 13 Jahren. Die verletzten Kinder haben Explosionsverletzungen, Prellungen und akute Stressreaktionen erlitten.“
Und nachts sagen wir nicht mehr „Gute Nacht“ wie früher, sondern „Ruhige Nacht“.
Der Krieg hat das Wort „letzte“ aus dem Wortschatz verbannt. Stattdessen sagt jeder „äußerste“. „Letzte“ klingt fatal.
Früher war „äußerste“ eine Beleidigung: „Bin ich für dich der Äußerste?!“ Wenn man in einer Warteschlange stand, musste man fragen: „Wer ist der Letzte?“, nicht: „Wer ist der Äußerste?“
Der Weihnachtsbaum liegt auf dem Boden. In der Decke ist ein Loch. Die Magnete am Kühlschrank sind genauso wie bei uns. „Die Vergeltung ist bereits in Charkiw angekommen“, verkündet Simonyan. Als Vergeltung für Belgorod wurde der Kindergarten, den ich besucht hatte, plattgemacht. Die Schule, in die ich gegangen bin, bereits früher. Ungefähr zur gleichen Zeit wie die von Nadia. Ein Baumstamm flog in die Nachbarwohnung, zertrümmerte den Balkon. Man dachte, es sei eine Rakete, die nicht explodiert war. Also evakuierte das Rettungsteam das gesamte Gebäude. Im Lehrstuhl-Chat steht: „Guten Tag, liebe Kollegen! Ich hoffe, dass mit Ihnen und Ihren Angehörigen alles in Ordnung ist. Leider sind alle unsere Räume im 6. Stock der Universität unbrauchbar geworden – die Fenster sind zerbrochen, die Türen wurden herausgerissen und überall liegt Schutt.“
„Erinnerst du dich, nicht weit von Nadias Haltestelle entfernt, an ein zweistöckiges, vorrevolutionäres Gebäude mit einer Balustrade und Balkonen? Das gibt es nicht mehr.“
In diesem Gebäude befand sich vor dem Ersten Weltkrieg das deutsche Konsulat.
Wir gaben eine Literaturzeitschrift heraus. Schriftsteller kamen zu unseren Festivals. Ich habe die Russen herumgeführt, ihnen Charkow (russische Namensvariante von „Charkiw“, Anm. der Red.) gezeigt. Erzählte ihnen, wie die Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg aussah und was sie verloren hatte. Einmal lud ein österreichisches oder deutsches Kulturzentrum deutsche und österreichische Schriftsteller ein. Nach den Veranstaltungen führte ich sie auf Juras Wunsch privat durch Charkiw, zeigte ihnen die Stadt und erzählte ihnen, was sie verloren hatte. Das gesamte Stadtzentrum hatte in Trümmern gelegen. „Ich habe Charkiw gesehen. Es muss wie Rom gewesen sein, als die Horden germanischer Barbaren im fünften Jahrhundert durch die Stadt fegten. Ein riesiger Friedhof ...” – schrieb damals Alexej Tolstoi. „Fucking Germans“, sagte nach der Besichtigung ein junger deutscher oder österreichischer Schriftsteller, für den dieser Krieg ewig lange her war. Er sagte es wie im Scherz, aber man spürte, dass er nicht einfach nur scherzte. Die russischen Schriftsteller, die ich durch Charkiw geführt habe, das noch nicht zum zweiten Mal zerstört worden war – wie fühlen sie sich jetzt?
In Charkiw hat sich das neue Jahr unter der Erde versteckt. Dort gibt es einen Weihnachtsbaum, Girlanden und das Haus des Heiligen Mykolaj, dort wird gefeiert. Auch die Schule ist unter die Erde gegangen: in U-Bahn-Klassen.
Der Heilige Mykolaj in Poltawa, der im Haus am Sobornaja-Platz Geschenke an Kinder verteilt, ist ein Umsiedler aus Charkiw.
Während der Exkursion erfuhr ich außerdem, dass auch das Symbol von Poltawa, der Kastanienbaum, ein Umsiedler ist. Kastanien gibt es hier schon seit zweihundert Jahren. Die Kastanienallee im Stadtzentrum. Die Kastanienbäume von Almazny. Und Kastanienbäume auch sonst überall in Poltawa.
Ich hatte keine Lust, jemandem zu gratulieren. Anrufen, schreiben. Frohes neues Jahr 2024! Und immer noch 2023 und immer noch 2022.
Vor einem Jahr haben wir noch von Herzen gratuliert. Nach Charkiw und Cherson warteten wir auf den Sieg, auf das Ende des Krieges. Es schien nah zu sein. Kräfte sammeln, warten, durchhalten.
An wen ich dachte und wen ich anrufen wollte - Andrei. Wir haben uns einmal im Jahr oder seltener getroffen. Wir waren Kumpel aus der Studentenzeit, waren in der gleichen Clique. Jetzt denke ich oft an ihn, eigentlich die ganze Zeit. Wenn ich höre: „Der Teilnehmer ist nicht erreichbar“, wird mir mulmig. Wenn es klingelt, bin ich erleichtert. Wenn Andrei den Hörer abnimmt, wird meine Stimmung sofort besser. Ich mache mir Sorgen um ihn. Er ist mir sehr wichtig geworden. Er ist in der ZSU (Anm. d. Ü.: Ukrainische Streitkräfte).
Wir plauderten über dies und das. Über die Einschläge heute in Charkiw, über die Gebäude. Über alte Gebäude, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten. Darüber, dass er bis zum 11. nicht erreichbar sein würde. Über Vasik, unseren Kumpel und Kommilitonen, der sich jetzt in Polen aufhält. Und darüber, wie Nadia, Lena und meine Eltern zurechtkommen. „Sag ihnen, dass alles gut werden wird. Sag ihnen das. Wir werden siegen.“ Das habe ich ihnen am Festtisch gesagt.
Ich liebe den Satz „Alles wird gut“ und benutze ihn selbst oft. Aber seit Beginn des Krieges habe ich ihn selten verwendet. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal war.
Katzen machen uns menschlich. Sie spenden uns Wärme.
Ich verstehe Nadia, wie sie Lotte an sich drückt: Dort explodiert und kracht es, und hier ist etwas Lebendiges, Weiches und Warmes. Ich verstehe auch die Soldaten an der Grenze, zu denen die russischen Kätzchen von der anderen Seite überlaufen. Sie bringen sie dann nach Hause, nach Charkiw – schon ukrainische Kätzchen.
Tiere sind ein wichtiges Phänomen in unserem Krieg. Wie viele von ihnen wurden zusammen mit ihren Besitzern evakuiert, die sich weigerten, ohne sie zu gehen. Wie viele Menschen sind unter den Bomben geblieben, nur um sie nicht zurückzulassen. „An einem Einschlagsort wird nach einer Katze gesucht: Sie blieb in der Wohnung und die Tür ist verklemmt.“ In einer Schularbeit steht: „In dem Märchen ‚Cat, Cockerel, Locker‘ von Oleksandr Myched werden die Figuren Cockerel, Locker und Cat vorgestellt. Sie haben den Beschuss von Borodianka bei Kijiw überlebt und sind zu Glücksbringern der Familie geworden. ‚Die Katze ist ein Symbol für den guten Geist des Hauses, die Unabhängigkeit und die Beschützerin eines kleinen Kindes.‘ (Enzyklopädisches Wörterbuch der kulturellen Symbole der Ukraine, herausgegeben von V. Kotsur, O. Potapenko und V. Kuibida, V. M. Havryshenko Verlag, Korsun-Shevchenkivskyi: V. M. Havryshenko Verlag, 2015, S. 350).“ Katzen gibt es überall in unserem Krieg. Über den Zweiten Weltkrieg oder andere Kriege habe ich nichts Derartiges gelesen. Andrei Kyrychenko sagt: „Die Menschen sind gütiger geworden.“
„Gütig“ ist ein Wort, das er oft benutzt. „Ich bin ein gütiger Kommandeur.“ Zu Hause hat er zwei Kätzchen, die von einer Nachbarin gefüttert werden, während er an der Front ist. An der Front hat er vierzehn Kätzchen. Ältere Katzen und kleine Kätzchen. „Die Katze hat wieder Zuwachs bekommen – sechs Frontkätzchen.“ – „Kätzchen sind meine Schwäche.“ – „Die Kätzchen sind krank, sie haben eitrige Augen. Wir haben sie mit Tee ausgespült. In den Erste-Hilfe-Kästen ist nichts Geeignetes zu finden. Nur Schmerztabletten und Blutstillungsmittel. In den israelischen Medizinkästchen versteht man eh nix.“
„Kätzchen“ – dieses Wort war in unserem Lexikon nicht vorhanden, es gab nur „Katzen“ und „Kater“. „Kätzchen“ hießen flauschige Knospen an Weidenbäumen. Jetzt sind Katzen und Kater „Kätzchen“ und das bedeutet mehr als „Katzen“ oder „Kater“: eine Art Hilfe, eine Art Psychotherapie, eine Möglichkeit, während des Krieges hinzuschmelzen und sich an der eigenen Menschlichkeit zu wärmen. Es ist wie damals, als wir mit Nadia spazieren gingen, über dies und das sprachen und entdeckten, dass die Wörter „Nadiya“ und „nadiyinost“ (Anm. d. Ü.: ukrainisch für „Verlässlichkeit“) die gleiche Wurzel haben. Nadia ist für uns auch ein Kätzchen.
Nadia und ihre Freundinnen sind Anime-Cosplayerinnen: Sie bestellen ihre Kostüme auf Aliexpress, feiern Partys und laufen in diesen Kostümen durch die Stadt. In ihrer Generation ist das eine eigene Kultur.
„Macht dich jemand an, belästigt dich?“ –
„Nein, sie wollen alle Fotos mit uns machen. Heute kam eine Studentin aus Charkiw auf uns zu. Und ein Soldat von der Front. Er sagte, er würde es seinen Kameraden zeigen. Dass wir uns so herausgeputzt haben und so ungewöhnlich aussehen. Wir haben ihm gedankt, dass er uns beschützt.“
Lena und ich lobten sie und erklärten ihr, wie wichtig es für die Soldaten an der Front ist zu wissen, dass hier ein friedliches Leben weitergeht. Dass ihre Arbeit nicht umsonst ist. Dass Kinder spazieren gehen und sich schick machen können, als gäbe es keinen Krieg. Wenn Kinder mürrisch und bedrückt herumliefen, wäre der Krieg auch hier. Mehr als er jetzt hier ist. Die Soldaten von der Front würden keinen Unterschied zwischen Front und Hinterland erkennen. Sie würden sich schuldig fühlen, den Krieg bis hierher hereingelassen zu haben.
Andrei Kyrychenko fragt: „Wie geht es den Mädchen?“ Ich erzähle ihm, dass Lena arbeitet, Nadia lernt und malt und dass wir in Tschigirin waren. Ich erzähle ihm auch von einigen lustigen Vorfällen. Alles ist gut.
An den Wochenenden versuchen wir, Ausflüge zu unternehmen. In Poltawa, in der Poltawa-Region und in der ganzen Ukraine. Die Reiseleiter verschiedener Agenturen beenden ihre Führungen mit ähnlichen Worten: „Vielen Dank für Ihre Teilnahme und Ihr Interesse. Und vergessen Sie nicht, wem wir es zu verdanken haben, dass wir frei reisen können. Vielen Dank an die ukrainischen Streitkräfte.“
Anlässlich des Weihnachtsfestes veranstaltet die NGO „VPO Ukrainy“ (Anm. d. Ü.: die Vereinigung der Vertriebenen der Ukraine) in der Region Poltawa einen Kinder-Zeichenwettbewerb unter dem Motto „Schenke den Soldaten ein Weihnachtsmärchen.“ Nadia hat eine Krippe gemalt. Anstelle der Heiligen Drei Könige hat sie Soldaten gemalt. Es sind fünf Heilige Drei Könige. Zwei von ihnen haben weiße Flügel, drei haben keine. Dabei sind zwei weiße Hunde, die nicht wie Patron (Anm. d. Ü.: der Hund des Autors) aussehen. Eine erschöpfte Madonna in einem gelben Kleid und einem blauen Umhang. Das Kind, Jesus, schläft.
Am 31. sind viele Soldaten auf den Straßen und in den Geschäften zu sehen. Sie wurden wie Andrei für zwei Tage nach Hause entlassen. Am 1. geht es nachmittags zurück. Am 31. sind die Warteschlangen riesig. „In Militäruniform können Sie ohne Anstehen zu mir an die Kasse kommen.“ – „Schon gut, ich warte.“
Am 1. Januar sagt Nadia: „Auf der Straße herrscht Neujahrsstimmung!“ – „Wo?“ – „Im Park gegenüber von ‚Silpo‘. Dort ist es so cool. Überall bunte Lichter und Illuminationen. Wie im Park ‚Fantasy‘ in Charkiw, weißt du noch?“ Und sie ist wieder spazieren gegangen. Ich habe den Weihnachtsbaum eingeschaltet. Davor hatte ich keine Lust dazu.
Aus dem Russischen und dem Ukrainischen von Boris Borisovich
Das neue Jahr – Teil 1>
Der ukrainische Schriftsteller Andrij Krasnjaschtschich schildert einmal mehr, wie der Krieg das Leben der Menschen verändert und auf welche Weise sie, innerlich wie äußerlich, zu überleben versuchen. Was ein Neues Jahr in Zeiten des Krieges bedeutet und wie Tiere den Ukrainerinnen und Ukrainern helfen, lesen Sie in dieser eindrücklichen Erzählung.
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Was aussieht wie ein Huhn, riecht wie eine Ente und schmeckt wie eine Ente, ist eben ein Huhn.
Meine Tante mag unser Sinfonieorchester. Sie geht nicht sehr oft hin. Ein- oder zweimal im Jahr. Wir waren am Tag der Verfassung dort. Beim Neujahrsfest am 27. Dezember auch, meine Schwester hatte im Voraus Karten gekauft. Um Mama eine Freude zu machen. Heutzutage gibt es nicht viele Anlässe zur Freude. Für die Tante ist ein Konzert ein großes Ereignis. Sie kommt glücklich zurück und erinnert sich noch tagelang daran. In Poltawa gibt es ein sehr gutes Symphonieorchester. Das Neujahrskonzert ist immer etwas Besonderes.
Es waren Melodien aus Hollywood-Filmen. Nicht nur aus Weihnachtsfilmen. Auf den Bildschirmen an der Seite wurden dazu Filmausschnitte gezeigt. Ich drehte den Kopf und schaute erst hin, dann her – auf das Orchester. Herausgeputzt, feierlich, lächelnd, wenn ihnen applaudiert wurde, aber dennoch traurig. In diesem Jahr gab es viele Verluste. Jeder hat eine Liste von Verlusten. Ich versuchte, nicht daran zu denken, und hörte einfach Musik. Der Mann und die Frau, die durch das Programm führten, bemühten sich, Witze zu machen, und lächelten. Ich glaube, ich lächelte zurück. Und Lena, Nadia und meine Tante auch.
Nach dem Konzert warteten wir auf den Trolleybus. „Das Konzert war wunderbar“, sagte die Tante. „Aber das Gefühl von Festlichkeit ist nicht gekommen. Es war leer.“ So ging es Lena, Nadia und mir auch.
Die „Akademischen Symphoniker Poltawa“ (A. d. Ü.: Im Original ukrainische Passagen werden hier und im Folgenden kursiv gesetzt) haben im Telegramm mehrere Videos veröffentlicht. Wir sind auch zu sehen. Ernst, konzentriert auf die Musik, auf uns selbst. Ich dachte, ich hätte gelächelt, aber auf dem Video ist es nicht zu sehen.
Beim Friseur:
„Wir dachten, wir würden für den Sieg applaudieren, aber wir applaudieren für das Leben.“
Am Silvesterabend sollte man etwas Unnötiges oder Altes wegwerfen. In Putins Glatzkopf, den Nadia zu Lenas Geburtstag mit einer ukrainischen Flagge durchbohrt hatte, nisteten sich Fliegen ein. Lena zerbrach ihn und warf ihn in den Mülleimer. Die ukrainische Flagge steckt noch darin.
Wir träumen ständig vom Neujahr, und das ist die beste und schönste Stimmung im Jahr. Besser als vom Geburtstag zu träumen. Neujahr gehört allen, ist für alle da. Dieses Jahr wollten wir kein Neujahr, keine Feier. Wir hatten uns vorbereitet, hatten Essen für den Festtagstisch und Geschenke gekauft, doch die Stimmung war nicht festlich.
Das neue Jahr 2023 haben wir feierlich eingeläutet: Erstens haben wir überlebt. Wir wünschten uns einen baldigen Sieg und die Rückkehr nach Hause. Das wünschen wir uns auch für das Jahr 2024, weshalb es nicht festlich ist.
Das zweite Neujahr in Folge in einer Umsiedlungswohnung ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Eine traurige Normalität.
In der Neujahrsnacht erzählte Nadia am Tisch einen Witz. Nicht über den Jungen mit den Schulpulten, sondern über den Optimisten. Ich habe darum gebeten. Er ist kurz, nur zwei Sätze, und ich denke immer wieder an ihn. „Auf einem Friedhof gibt es viele Pluspunkte.“
Larissa aus Sorrent: „Ihr seid alle so nett und schön, aber trotzdem sehe ich Traurigkeit in euren Augen. Wir haben uns auch mit Freunden getroffen, aber ... Weißt du, das Tischgespräch zieht sich in die Länge, es fließt nicht so richtig, sondern es ist, als würde man jedes Wort mit einer Zange ziehen: Wir müssen reden. Dann haben wir uns hingesetzt und Monopoly gespielt, weil das Gespräch nicht in Gang kam. Egal, womit wir anfingen, es endete immer wieder mit der Ukraine, der Ukraine, der Ukraine.“
Sascha Grebenstschikowa: „... Sie haben uns die Freude gestohlen, den Neujahrsglauben an einen Neuanfang. Den Glauben an die Macht der guten Wünsche, die Wünsche auch. Und sie haben uns auch den 1. Januar gestohlen – den gesetzlich festgelegten Tag des Loslassens, die Erlaubnis, so zu sein, wie wir sind – das war das eigentliche Neujahrsgeschenk. Und auch das haben sie uns gestohlen: Den 1. Januar haben wir dieses Jahr nicht gehabt. Und die Tage drum herum natürlich auch nicht.“
2024, ich habe die Dokumente mit letztem Jahr datiert! „Du lebst noch im Jahr 2023!”
Eigentlich lebe ich immer noch im Jahr 2022.
Zwei Jahre ohne Feiertagswochenenden. Ohne Neujahr, Ostern und Weihnachten. Ohne Dreikönigstag, Tag der Verfassung usw. 2021 waren es elf.
Die Zukunft geht zwischen den Kriegen verloren. Die Welt ist bereits in einer Zukunft angekommen, die bisher nur aus Science-Fiction-Filmen bekannt war: „Ab nächstem Jahr werden Roboter-Englischlehrer an Grund- und Sekundarschulen in Südkorea eingesetzt.“ „Lilium-Flugtaxis sind in der EU zugelassen worden.“ – „Der erste Neuralink-Patient, dem ein Chip ins Gehirn implantiert wurde, kann laut Elon Musk eine Computermaus mit der Kraft seiner Gedanken steuern.“ Der Blick gleitet weiter und stößt auf Meldungen wie: „Die Luftwaffe meldet eine Drohnenbedrohung“ oder „Sumy-, Poltawa- und Charkiw-Region – Raketendrohung“. Die Zukunft: „Es wird 757 Jahre dauern, bis die Ukraine die Schäden der Minenverseuchung ihres Territoriums beseitigt hat“, sagen GLOBSEC-Analysten.“
Zwei Tage vor Neujahr: „Zwischen 5 und 8 Uhr morgens flogen am 30. Dezember 22 Raketen in Charkiw ein“, so Terechow.
„Eine Poliklinik, eine Schule, Wohnhäuser, ein Postamt und Industrieunternehmen der Stadt wurden beschädigt. Sieben Menschen wurden verletzt, es gibt einen Toten. Die Rettungskräfte sind dabei, die Trümmer zu beseitigen.“
In einem Klassenchat:
„Wie geht's?“
„Wir sind ins Bad gegangen und schlafen jetzt dort.“
„Wir sind bereits im Keller angekommen.“
„Wurde heute ein Klassenrat vor den Ferien einberufen?"
„Wir treffen uns mit den Kindern erst nach den Ferien.“
Ludochka: „Hallo, danke. Ich bin heute nicht sehr zuversichtlich. Ich werde wohl kaum arbeiten können.“
„Hallo 🥰. Ich bin gerade aufgestanden. Habe die ganze Nacht Shaheeds gejagt. 🤭”
„Ab zur Drohnenjagd.“
Ich stelle mir Ludotschka mit einem Wischmopp in der Hand vor. Ludotschkas „Shaheeds jagen“ bedeutet, wach zu bleiben, dem mopedähnlichen Zirpen der Drohnen vor dem Fenster zu lauschen, bereit zu sein, ihren Mann und ihren Sohn jeden Moment zu wecken, sich einen Koffer zu schnappen – auch das ist ein Begriff – und mit ihnen in den Keller zu rennen. Aber „jagen“ klingt würdiger.
„Morgen!“
Ljudotschka: „Ein schrecklicher Tag beginnt mit diesem Wort.“
Lena: „Es gibt eine neue Tradition, Leute nicht mit ‚Guten Morgen‘, sondern mit ‚Morgen...‘ zu begrüßen, und dann je nach den Umständen.“
Oft folgt auf „Morgen“ die Frage: „Hattet ihr eine laute Nacht?“
Klassenlehrerin im Chat:
„Morgen allerseits!
Geht es allen gut?
Besonders in Mitte.“
Gemeint ist: „Am 2. Januar gab es in Charkiw wieder einen massiven Raketenangriff.“ – „Es gab Einschläge im Stadtzentrum in Wohngebieten.“ – „Eine 91-jährige Frau starb, nachdem ihr nach der Explosion schlecht geworden war.“ – „Bis jetzt sind 63 Verletzte bekannt, darunter fünf Kinder: drei Jungen im Alter von neun Jahren und zwei Mädchen im Alter von sechs und 13 Jahren. Die verletzten Kinder haben Explosionsverletzungen, Prellungen und akute Stressreaktionen erlitten.“
Und nachts sagen wir nicht mehr „Gute Nacht“ wie früher, sondern „Ruhige Nacht“.
Der Krieg hat das Wort „letzte“ aus dem Wortschatz verbannt. Stattdessen sagt jeder „äußerste“. „Letzte“ klingt fatal.
Früher war „äußerste“ eine Beleidigung: „Bin ich für dich der Äußerste?!“ Wenn man in einer Warteschlange stand, musste man fragen: „Wer ist der Letzte?“, nicht: „Wer ist der Äußerste?“
Der Weihnachtsbaum liegt auf dem Boden. In der Decke ist ein Loch. Die Magnete am Kühlschrank sind genauso wie bei uns. „Die Vergeltung ist bereits in Charkiw angekommen“, verkündet Simonyan. Als Vergeltung für Belgorod wurde der Kindergarten, den ich besucht hatte, plattgemacht. Die Schule, in die ich gegangen bin, bereits früher. Ungefähr zur gleichen Zeit wie die von Nadia. Ein Baumstamm flog in die Nachbarwohnung, zertrümmerte den Balkon. Man dachte, es sei eine Rakete, die nicht explodiert war. Also evakuierte das Rettungsteam das gesamte Gebäude. Im Lehrstuhl-Chat steht: „Guten Tag, liebe Kollegen! Ich hoffe, dass mit Ihnen und Ihren Angehörigen alles in Ordnung ist. Leider sind alle unsere Räume im 6. Stock der Universität unbrauchbar geworden – die Fenster sind zerbrochen, die Türen wurden herausgerissen und überall liegt Schutt.“
„Erinnerst du dich, nicht weit von Nadias Haltestelle entfernt, an ein zweistöckiges, vorrevolutionäres Gebäude mit einer Balustrade und Balkonen? Das gibt es nicht mehr.“
In diesem Gebäude befand sich vor dem Ersten Weltkrieg das deutsche Konsulat.
Wir gaben eine Literaturzeitschrift heraus. Schriftsteller kamen zu unseren Festivals. Ich habe die Russen herumgeführt, ihnen Charkow (russische Namensvariante von „Charkiw“, Anm. der Red.) gezeigt. Erzählte ihnen, wie die Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg aussah und was sie verloren hatte. Einmal lud ein österreichisches oder deutsches Kulturzentrum deutsche und österreichische Schriftsteller ein. Nach den Veranstaltungen führte ich sie auf Juras Wunsch privat durch Charkiw, zeigte ihnen die Stadt und erzählte ihnen, was sie verloren hatte. Das gesamte Stadtzentrum hatte in Trümmern gelegen. „Ich habe Charkiw gesehen. Es muss wie Rom gewesen sein, als die Horden germanischer Barbaren im fünften Jahrhundert durch die Stadt fegten. Ein riesiger Friedhof ...” – schrieb damals Alexej Tolstoi. „Fucking Germans“, sagte nach der Besichtigung ein junger deutscher oder österreichischer Schriftsteller, für den dieser Krieg ewig lange her war. Er sagte es wie im Scherz, aber man spürte, dass er nicht einfach nur scherzte. Die russischen Schriftsteller, die ich durch Charkiw geführt habe, das noch nicht zum zweiten Mal zerstört worden war – wie fühlen sie sich jetzt?
In Charkiw hat sich das neue Jahr unter der Erde versteckt. Dort gibt es einen Weihnachtsbaum, Girlanden und das Haus des Heiligen Mykolaj, dort wird gefeiert. Auch die Schule ist unter die Erde gegangen: in U-Bahn-Klassen.
Der Heilige Mykolaj in Poltawa, der im Haus am Sobornaja-Platz Geschenke an Kinder verteilt, ist ein Umsiedler aus Charkiw.
Während der Exkursion erfuhr ich außerdem, dass auch das Symbol von Poltawa, der Kastanienbaum, ein Umsiedler ist. Kastanien gibt es hier schon seit zweihundert Jahren. Die Kastanienallee im Stadtzentrum. Die Kastanienbäume von Almazny. Und Kastanienbäume auch sonst überall in Poltawa.
Ich hatte keine Lust, jemandem zu gratulieren. Anrufen, schreiben. Frohes neues Jahr 2024! Und immer noch 2023 und immer noch 2022.
Vor einem Jahr haben wir noch von Herzen gratuliert. Nach Charkiw und Cherson warteten wir auf den Sieg, auf das Ende des Krieges. Es schien nah zu sein. Kräfte sammeln, warten, durchhalten.
An wen ich dachte und wen ich anrufen wollte - Andrei. Wir haben uns einmal im Jahr oder seltener getroffen. Wir waren Kumpel aus der Studentenzeit, waren in der gleichen Clique. Jetzt denke ich oft an ihn, eigentlich die ganze Zeit. Wenn ich höre: „Der Teilnehmer ist nicht erreichbar“, wird mir mulmig. Wenn es klingelt, bin ich erleichtert. Wenn Andrei den Hörer abnimmt, wird meine Stimmung sofort besser. Ich mache mir Sorgen um ihn. Er ist mir sehr wichtig geworden. Er ist in der ZSU (Anm. d. Ü.: Ukrainische Streitkräfte).
Wir plauderten über dies und das. Über die Einschläge heute in Charkiw, über die Gebäude. Über alte Gebäude, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten. Darüber, dass er bis zum 11. nicht erreichbar sein würde. Über Vasik, unseren Kumpel und Kommilitonen, der sich jetzt in Polen aufhält. Und darüber, wie Nadia, Lena und meine Eltern zurechtkommen. „Sag ihnen, dass alles gut werden wird. Sag ihnen das. Wir werden siegen.“ Das habe ich ihnen am Festtisch gesagt.
Ich liebe den Satz „Alles wird gut“ und benutze ihn selbst oft. Aber seit Beginn des Krieges habe ich ihn selten verwendet. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal war.
Katzen machen uns menschlich. Sie spenden uns Wärme.
Ich verstehe Nadia, wie sie Lotte an sich drückt: Dort explodiert und kracht es, und hier ist etwas Lebendiges, Weiches und Warmes. Ich verstehe auch die Soldaten an der Grenze, zu denen die russischen Kätzchen von der anderen Seite überlaufen. Sie bringen sie dann nach Hause, nach Charkiw – schon ukrainische Kätzchen.
Tiere sind ein wichtiges Phänomen in unserem Krieg. Wie viele von ihnen wurden zusammen mit ihren Besitzern evakuiert, die sich weigerten, ohne sie zu gehen. Wie viele Menschen sind unter den Bomben geblieben, nur um sie nicht zurückzulassen. „An einem Einschlagsort wird nach einer Katze gesucht: Sie blieb in der Wohnung und die Tür ist verklemmt.“ In einer Schularbeit steht: „In dem Märchen ‚Cat, Cockerel, Locker‘ von Oleksandr Myched werden die Figuren Cockerel, Locker und Cat vorgestellt. Sie haben den Beschuss von Borodianka bei Kijiw überlebt und sind zu Glücksbringern der Familie geworden. ‚Die Katze ist ein Symbol für den guten Geist des Hauses, die Unabhängigkeit und die Beschützerin eines kleinen Kindes.‘ (Enzyklopädisches Wörterbuch der kulturellen Symbole der Ukraine, herausgegeben von V. Kotsur, O. Potapenko und V. Kuibida, V. M. Havryshenko Verlag, Korsun-Shevchenkivskyi: V. M. Havryshenko Verlag, 2015, S. 350).“ Katzen gibt es überall in unserem Krieg. Über den Zweiten Weltkrieg oder andere Kriege habe ich nichts Derartiges gelesen. Andrei Kyrychenko sagt: „Die Menschen sind gütiger geworden.“
„Gütig“ ist ein Wort, das er oft benutzt. „Ich bin ein gütiger Kommandeur.“ Zu Hause hat er zwei Kätzchen, die von einer Nachbarin gefüttert werden, während er an der Front ist. An der Front hat er vierzehn Kätzchen. Ältere Katzen und kleine Kätzchen. „Die Katze hat wieder Zuwachs bekommen – sechs Frontkätzchen.“ – „Kätzchen sind meine Schwäche.“ – „Die Kätzchen sind krank, sie haben eitrige Augen. Wir haben sie mit Tee ausgespült. In den Erste-Hilfe-Kästen ist nichts Geeignetes zu finden. Nur Schmerztabletten und Blutstillungsmittel. In den israelischen Medizinkästchen versteht man eh nix.“
„Kätzchen“ – dieses Wort war in unserem Lexikon nicht vorhanden, es gab nur „Katzen“ und „Kater“. „Kätzchen“ hießen flauschige Knospen an Weidenbäumen. Jetzt sind Katzen und Kater „Kätzchen“ und das bedeutet mehr als „Katzen“ oder „Kater“: eine Art Hilfe, eine Art Psychotherapie, eine Möglichkeit, während des Krieges hinzuschmelzen und sich an der eigenen Menschlichkeit zu wärmen. Es ist wie damals, als wir mit Nadia spazieren gingen, über dies und das sprachen und entdeckten, dass die Wörter „Nadiya“ und „nadiyinost“ (Anm. d. Ü.: ukrainisch für „Verlässlichkeit“) die gleiche Wurzel haben. Nadia ist für uns auch ein Kätzchen.
Nadia und ihre Freundinnen sind Anime-Cosplayerinnen: Sie bestellen ihre Kostüme auf Aliexpress, feiern Partys und laufen in diesen Kostümen durch die Stadt. In ihrer Generation ist das eine eigene Kultur.
„Macht dich jemand an, belästigt dich?“ –
„Nein, sie wollen alle Fotos mit uns machen. Heute kam eine Studentin aus Charkiw auf uns zu. Und ein Soldat von der Front. Er sagte, er würde es seinen Kameraden zeigen. Dass wir uns so herausgeputzt haben und so ungewöhnlich aussehen. Wir haben ihm gedankt, dass er uns beschützt.“
Lena und ich lobten sie und erklärten ihr, wie wichtig es für die Soldaten an der Front ist zu wissen, dass hier ein friedliches Leben weitergeht. Dass ihre Arbeit nicht umsonst ist. Dass Kinder spazieren gehen und sich schick machen können, als gäbe es keinen Krieg. Wenn Kinder mürrisch und bedrückt herumliefen, wäre der Krieg auch hier. Mehr als er jetzt hier ist. Die Soldaten von der Front würden keinen Unterschied zwischen Front und Hinterland erkennen. Sie würden sich schuldig fühlen, den Krieg bis hierher hereingelassen zu haben.
Andrei Kyrychenko fragt: „Wie geht es den Mädchen?“ Ich erzähle ihm, dass Lena arbeitet, Nadia lernt und malt und dass wir in Tschigirin waren. Ich erzähle ihm auch von einigen lustigen Vorfällen. Alles ist gut.
An den Wochenenden versuchen wir, Ausflüge zu unternehmen. In Poltawa, in der Poltawa-Region und in der ganzen Ukraine. Die Reiseleiter verschiedener Agenturen beenden ihre Führungen mit ähnlichen Worten: „Vielen Dank für Ihre Teilnahme und Ihr Interesse. Und vergessen Sie nicht, wem wir es zu verdanken haben, dass wir frei reisen können. Vielen Dank an die ukrainischen Streitkräfte.“
Anlässlich des Weihnachtsfestes veranstaltet die NGO „VPO Ukrainy“ (Anm. d. Ü.: die Vereinigung der Vertriebenen der Ukraine) in der Region Poltawa einen Kinder-Zeichenwettbewerb unter dem Motto „Schenke den Soldaten ein Weihnachtsmärchen.“ Nadia hat eine Krippe gemalt. Anstelle der Heiligen Drei Könige hat sie Soldaten gemalt. Es sind fünf Heilige Drei Könige. Zwei von ihnen haben weiße Flügel, drei haben keine. Dabei sind zwei weiße Hunde, die nicht wie Patron (Anm. d. Ü.: der Hund des Autors) aussehen. Eine erschöpfte Madonna in einem gelben Kleid und einem blauen Umhang. Das Kind, Jesus, schläft.
Am 31. sind viele Soldaten auf den Straßen und in den Geschäften zu sehen. Sie wurden wie Andrei für zwei Tage nach Hause entlassen. Am 1. geht es nachmittags zurück. Am 31. sind die Warteschlangen riesig. „In Militäruniform können Sie ohne Anstehen zu mir an die Kasse kommen.“ – „Schon gut, ich warte.“
Am 1. Januar sagt Nadia: „Auf der Straße herrscht Neujahrsstimmung!“ – „Wo?“ – „Im Park gegenüber von ‚Silpo‘. Dort ist es so cool. Überall bunte Lichter und Illuminationen. Wie im Park ‚Fantasy‘ in Charkiw, weißt du noch?“ Und sie ist wieder spazieren gegangen. Ich habe den Weihnachtsbaum eingeschaltet. Davor hatte ich keine Lust dazu.
Aus dem Russischen und dem Ukrainischen von Boris Borisovich


