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17.07.2025, 11:11 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 23: Adrienne Thomas, Die Katrin wird Soldat (1930)

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Adrienne Thomas 1935. Retuschierte Fotografie © Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Adrienne Thomas wird 1897 in St. Avold in Lothringen als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie unter dem Namen Herta Strauch geboren und wächst in Metz auf. Während der ersten Kriegsjahre meldet sie sich freiwillig als Rote-Kreuz-Schwester und kommt auf dem Bahnhof in Metz zur Betreuung der Verwundeten zum Einsatz. So erlebt sie als junges Mädchen unmittelbar die Folgen des Krieges und hält die Ereignisse in einem Tagebuch fest. Dieses bildet die Grundlage für den 1930 erscheinenden Roman Die Katrin wird Soldat. Es ist ihr erstes Buch, und es entwickelt sich zum internationalen Bestseller. Der Roman erscheint in 16 Sprachen und erreicht eine Millionenauflage. Die nationale Presse verwirft ihn als „gehässige“ Stimme eines „Judenmädels“, die linke und liberale Presse feiert ihn als eine der stärksten Anklagen gegen den Krieg. Einer Untersuchung des Börsenvereins der deutschen Buchhändler aus dem Jahr 1931 zufolge platziert sich der Roman hinter Remarque, Renn und Beumelsburg an vierter Stelle auf den Verkaufslisten (mit 100.000 Exemplaren im ersten Jahr).

Die Behandlung der deutsch-französischen Grenzproblematik, gespiegelt in den Erfahrungen der jüdischen Krankenschwester Katrin in einem Metzer Lazarett, liest man als erstmalige Darstellung der unkontrollierten Gewalt des Krieges aus weiblicher Sicht. Katrin entwickelt sich wie eine Liebesgeschichte im ersten Teil des Romans, doch durch den Verlust des Geliebten in einem Emanzipationsprozess zur Pazifistin.

1933 wird eine französische Übersetzung mit einem Vorwort von Jean Giraudoux eingeleitet. Im gleichen Jahr steht der Titel auf der ersten Schwarzen Liste der Bücher, die von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt werden. Während des Dritten Reichs bleiben ihre Bücher verboten. Thomas emigriert 1933 in die Schweiz (Lugano), dann nach Österreich. Ihre Schwester Alice wird in ein deutsches Konzentrationslager deportiert und ermordet. Nach der Besetzung Österreichs durch Deutschland 1938 führt eine abenteuerliche Flucht sie über südost- und südeuropäische Länder zurück nach Frankreich.

Nachdem sie im Frühjahr 1940 kurzfristig in Frankreich im Lager Gurs zusammen mit Hannah Arendt und Emma Kann interniert worden ist, gelingt ihr mit Hilfe des „Emergency Rescue Committee“ und des Engagements des Schriftstellers Hermann Kesten im März 1940 über Portugal und Spanien die Flucht in die USA. Sie bleibt in New York, arbeitet in Emigrantenorganisationen und für europäische Zeitungen, pflegt Kontakte zu den Revolutionären Sozialisten (eine Gruppierung innerhalb der SPD) und setzt ihre weitgehend autobiografisch gefärbte literarische Tätigkeit auch unter schwierigen Lebensbedingungen fort. Ab 1942 ist Thomas für Free World, eine von Exilanten und US-Amerikanern gegründete Zeitung, die für eine demokratische Neuordnung Europas eintritt, verantwortlich.

Im Exil lernt sie den österreichischen Politiker und Spanienkämpfer Julius Deutsch kennen, den Gründer des sozialdemokratischen Schutzbundes und Anführer des Februaraufstandes von 1934 in Wien. Ihm folgt sie 1947 nach Österreich, wo sie ihn 1951 heiratet. Ihre Wohnung in Grinzing (19. Wiener Gemeindebezirk) führt sie als offenes Haus, in dem zahlreiche Künstler und Intellektuelle verkehren. Adrienne Thomas stirbt am 7. November 1980 in Wien.

Die Katrin wird Soldat ist ein Roman in Tagebuchform, der am 27. Mai 1911 beginnt, dem vierzehnten Geburtstag der Tagebuchschreiberin Catherine (Katrin) Lentz, und mit einem bewegenden Nachtrag am 7. Dezember 1916 endet, der den Tod der jungen Frau verkündet. Ähnlich wie die Autorin selbst meldet sich auch die Protagonistin Katrin zum Rotkreuzdienst am Metzer Bahnhof, der sich zu einem zentralen Knotenpunkt des Krieges entwickelt. Auf der einen Seite erlebt sie das Jubelgeschrei der Soldaten, die mit festem Schritt und lauten Siegesrufen in den Krieg ziehen, während sie wenig später, am gegenüberliegenden Gleis, die schreckliche Rückkehr der verwundeten und verstümmelten Kriegsheimkehrer beobachtet. Aus purer Mitmenschlichkeit hilft Katrin Soldaten beider Nationen, wobei sie den Krieg von Anfang an als sinnlos und zutiefst abstoßend empfindet. Hinzu kommt die persönliche Tragik einer unerfüllten Liebe zu einem jungen Mann, von dem sie durch die Kriegswirren getrennt wird und der schließlich sein Leben im Kampf verliert.

Der Erfolg des Romans ist, gewissermaßen im Kontext des im Vorjahr erschienenen Bestsellers Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, auf die ausgeprägte Antikriegsaussage zurückzuführen, die bei Thomas geschickt mit einer Liebesgeschichte sowie einer klaren weiblichen Perspektive verbunden ist. Ein wesentlicher Reiz des Werks liegt zweifellos in der Aura des Authentischen, die es umgibt. Tatsächlich bewegt sich der Roman, wenn auch mit einer gewissen stilistischen Ausprägung, entlang der Biografie seiner Autorin und basiert auf dem Tagebuch der realen Hertha Strauch.

„Der seinerzeit sensationelle Erfolg“, so Walter Hinck, „von Adrienne Thomas' Tagebuchroman beruhte weitgehend auf einer Gunst der Stunde: dem leidenschaftlichen Streit um die historische Bewertung des Weltkriegs, dessen Materialschlachten eine verstörte, 'verlorene' Generation hinterlassen hatten. Den heroisierenden Romanen, die den Schützengraben als die neue Geburtsstätte der Nation feierten, trat eine desillusionierende Literatur entgegen. Mit der Elterngeneration ging Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902 (1928) ins Gericht, zum Welterfolg katapultierte nicht zuletzt der amerikanische Film Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues (1929). An diesem Romanerfolg ließ kein anderer sich messen, doch konnte Die Katrin wird Soldat wenigstens eine Zeitlang aus seinem Schatten heraustreten.“

Adrienne Thomas: Die Katrin wird Soldat und Anderes aus Lothringen. Mit einem Nachwort von Günter Scholdt. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2008

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