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29.05.2025, 09:18 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Einer gegen alle. Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 17: Hermann Ungar, Die Klasse (1927)

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Hermann Ungar © gemeinfrei. (Quelle: https://audiovis.nac.gov.pl/obraz/234908/)

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Hermann Ungar erblickt das Licht der Welt im Judenghetto von Boskowitz, einer kleinen mährischen Stadt in der Nähe von Brünn. In den ersten Jahren seiner schulischen Laufbahn wird er zunächst von seinem Vater, später von einem jüdischen Privatlehrer unterrichtet. Erst im September 1905 tritt er als regulärer Schüler in das Zweite deutsche Staats-Gymnasium in Brünn ein. Nach dem Abitur immatrikuliert sich Ungar im Wintersemester 1911/12 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, um Orientalistik zu studieren. Auf Drängen seines Vaters nimmt er im Sommersemester 1912 ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in München auf, welches er ab dem Sommersemester 1913 an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag fortsetzt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldet sich Ungar freiwillig zum Dienst und wird verwundet. Als Offizier schließt er im November 1917 sein Studium in Prag mit der Staatsprüfung ab.

In der Hoffnung, ein Leben als Schriftsteller führen zu können, verbringt Ungar zunächst einige Zeit in München, findet sich jedoch bald als Bankangestellter in Prag wieder, bevor er 1921 als Attaché der tschechoslowakischen Botschaft nach Berlin entsandt wird. Die beiden Novellen Ein Mann und eine Magd und Geschichte eines Mordes verschaffen ihm nach begeisterten Besprechungen von Stefan Zweig und Thomas Mann rasch Berühmtheit. Thomas Mann lobt die „vom Osten empfangene Kunst“, die Fähigkeit, „das seelisch Extreme, Exzentrische, ja Groteske als das eigentlich Menschliche empfinden zu lassen“, und würdigt die „genaue, abwägende, verantwortliche Art, dies Menschliche zu behandeln“.

Ungars Gesundheit ist jedoch durch einen schweren Autounfall, wiederkehrende neurasthenische Anfälle und wiederholte Blinddarmreizungen stark beeinträchtigt, sodass man ihm bald einen längeren Urlaub gewährt. 1928 quittiert er den diplomatischen Dienst und zieht sich als freier Schriftsteller zurück. Doch sein Leben währt nur noch von kurz: Am 28. Oktober 1929 stirbt er an einem Blinddarmdurchbruch.

Im Gegensatz zu den im Schulmilieu angesiedelten Romanen Unterm Rad von Hermann Hesse und Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von Robert Musil, in denen die Schüler Opfer des Systems werden, steht in dem Roman Die Klasse der Lehrer Josef Blau im Mittelpunkt. Blau ist ein Mensch aus einfachen Verhältnissen, der am Gymnasium die Söhne der oberen Gesellschaftsschichten unterrichtet. Er empfindet sich ihnen gegenüber als unterlegen und wittert in ihren Blicken oft Hass und Verachtung. Um dieser scheinbaren Übermacht zu begegnen, glaubt er sie lediglich mit Strenge und Kälte bändigen zu können. Jede Regung im Klassenzimmer wird von ihm mit einem nervösen Blick verfolgt, und er interpretiert jedes Lächeln, jedes Stirnrunzeln als potenzielle Bedrohung für seine Autorität. Sein ständiger Versuch, keine Angriffsfläche zu bieten, offenbart seine Unsicherheit. In seinem schlecht sitzenden Anzug fühlt er sich den Jungen in ihren eleganten Matrosenanzügen angreifbar – und zugleich von deren erwachender Körperlichkeit bedroht. „Er wusste, dass die Blicke der Knaben ihn umzingelten, dass jede Blöße, die er sich gab, sein Verderben bedeuten konnte.“ Blau meint, nur „Zucht“ könne ihn retten: „Wenn die Schranke der Zucht gefallen war, wusste er, war alles vergeblich, der Hinweis auf die bedrohte Stellung des Lehrers wie das Flehen um Gnade.“

Zur Seite steht ihm ein Vertrauter aus der Kindheit, ein bösartiger Charakter, der mit hinterhältigem Vergnügen den Verschwörungsgedanken des Lehrers Stoff liefert.

Für Blau steht fest: Die Revolte seiner Schüler ist längst im Gang, sein drohender Sturz in den Abgrund der Lächerlichkeit unvermeidlich; alles, was er mit seiner Strenge noch erreichen kann, ist Zeit zu gewinnen. So macht seine Paranoia den Lehrer blind dafür, dass gerade jener Schüler, den er verdächtigt, der Kopf der Verschwörer zu sein, in Wahrheit seine Hilfe sucht. Josef Blau erkennt nicht, dass sein diabolischer Jugendfreund das Verderben seiner Schutzbefohlenen will: Erst werden die Schüler von Modlizki zu unsittlichen Handlungen verführt, dann in den Selbstmord getrieben. Dies alles, weil sich hinter der Maske des gehorsamen Lakaien ein kalter Revolutionär verbirgt, der seinen Herrschaften ihre schützenden Formen wegnehmen will, um die „Massen“ an die Macht zu bringen.

Das Drama der Klasse entfaltet sich in fünfzehn prägnant gestalteten Kapiteln und schildert den tragischen Verfall eines Mannes, der in den Strudel seiner eigenen Projektionen gerät. Nach und nach verliert er jegliches Gespür für die Realität, wird durch den Suizid eines Schülers vermeintlich zum Mörder und verliert zugleich den Halt in seiner familiären Existenz mit Frau und Kind.

Oskar Loerke sagte voraus, dass der Roman als „Dokument unserer Zeit“ fortbestehen werde. Als der mährisch-jüdische Dichter Hermann Ungar 1929 in Prag verstarb, war er erst 36 Jahre alt. Sein Werk umfasst eine kleine Sammlung bedrückender Erzählungen, die eng mit der Erzählwelt Kafkas verwandt sind. Die Klasse ist ein erschütternder und literarisch herausragender Roman, der über viele Jahrzehnte in Vergessenheit gerät und erst in den 1980er-Jahren wiederentdeckt wird.

Hermann Ungar: Die Klasse. Roman. Nachwort von Ulrich Weinzierl. Manesse, Zürich 2012

Lesen Sie nächste Woche von einem Schelmenroman aus dem Ersten Weltkrieg, den die Nationalsozialisten verboten und verbrannten.