Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 16: Artur Landsberger, Berlin ohne Juden (1925)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
Alles Düstere liegt Landsberger lange fern. Er ist ein Salonlöwe und Weltenbummler, betätigt sich als Filmproduzent, Regisseur, Schauspieler, Redakteur und schreibt emsig Glossen, Rezensionen, Drehbücher und allein 27 Romane, die ihn vor dem Ersten Weltkrieg reich und berühmt machen – und heute vergessen sind. Dies ist durchaus nachvollziehbar, da der Großteil seiner Schriften in rasch niedergeschriebenen Unterhaltungsromanen besteht. Nichtsdestotrotz findet Landsberger beinahe zwei Jahrzehnte lang mit seinen Sittenromanen über das glitzernde und zugleich heruntergekommene Berlin eine treue Leserschaft. In diesen Erzählungen beleuchtet er das Leben von Ganoven und Verbrechern, Habenichtsen und Möchtegerns, Parvenüs und der Haute Volée.
Sein Wohlstand wird 1923 durch die Inflation zerstört, sodass er gezwungen ist, sich finanziell neu zu orientieren. In der Folge arbeitet er als Filmkritiker und Gerichtsreporter für verschiedene Zeitungen. Ursprünglich 1876 in Berlin geboren, hat Landsberger Rechtswissenschaften studiert, ehe er noch vor dem Abschluss zusammen mit Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal die Zeitschrift Der Morgen gründet.
In seinem 1925 veröffentlichten Roman Berlin ohne Juden, der eine Sonderstellung in seinem Gesamtwerk einnimmt, nimmt Artur Landsberger in literarischer Form die Schrecken des Holocausts vorweg. Der Roman erscheint im selben Jahr wie Hitlers Mein Kampf und erzählt die Geschichte vom völligen Triumph des Antisemitismus. Die Inspiration für das Werk zog Landsberger aus einem Buch des Österreichers Hugo Bettauer, das einen ähnlichen Titel trägt: Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen (1922). Bettauer selbst wird ein Opfer der nationalistischen Rechten: Kurz vor der Veröffentlichung von Landsbergers Roman ermordet ihn ein durch die nationale Presse angestachelter Zahntechnikergehilfe.
In Landsbergers Erzählung erlangt eine neu gegründete, nationalsozialistische Partei die Macht und vertreibt alle Juden aus dem Land. Einzige Konsequenz: Es gibt keinen Protest, sondern nur noch zielstrebiges Handeln. Doch die Folgen dieses radikalen Vorgehens sind dramatisch: Wirtschaft, Finanzen, Verkehr und Kultur kommen zum Erliegen – nichts funktioniert mehr ohne die jüdische Bevölkerung. Zudem wird der judenfreie deutsche Staat von der internationalen Gemeinschaft boykottiert. Der utopische Zustand hält jedoch nicht lange an. Schließlich kehren die Juden zurück, und allmählich beginnt sich das Land zu erholen.
In dem Werk treten beinahe hundert Personen auf, die sich in einem dramatischen Akt des Widerstands gegen die vollständige Vertreibung der Juden aus Deutschland opfern. Diese selbstgewählte, von Landsberger als „Tod der Siebenundneunzig“ bezeichnete Massensuizidaktion symbolisiert ihre verzweifelte Protestform. Mit feierlichem Pathos bekunden sie dabei ihr unerschütterliches Recht, „in ihrer Heimat zu sterben und auf deutscher Erde bestattet zu werden“.
Obwohl das Buch zweifellos eine literarische Groteske ist und Landsberger selbst von einer „Tragi-Satire“ spricht, wird der feierliche Tod dieser Hundertschaft von ihm keineswegs als bloße Ironie verstanden. Der Roman beschreibt eingehend eine politische Krise, die durch den betrügerischen Wahlkampf eines nationalfaschistisch-kommunistischen Parteienbündnisses ausgelöst wird, das mit Hilfe von Agitation und Propaganda die bedingungslose Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland durchsetzt.
Der „Tod der Siebenundneunzig“ fungiert in diesem Zusammenhang als Symbol des Weltgewissens, denn dieser tragische Akt wird in Landsbergers Erzählung als entscheidender Wendepunkt dargestellt. Der Tod der Opfer überzeugt die politische Mitwelt letztlich von der Notwendigkeit, den Nationalsozialismus wirtschaftlich zu isolieren und durch einen internationalen Boykott einen Regierungswechsel in Deutschland herbeizuführen. So wird der historische Konflikt im Roman nicht nur dargestellt, sondern durch die symbolische Geste der Opfer auch als überwunden angesehen.
Landsberger entwirft ein Szenario, das nur wenige Jahre später zur erschreckenden Realität wird. Der konkrete politische Ausgangspunkt für sein Werk ist die Landtagswahl im Dezember 1924, bei der sowohl die Nationalsozialisten als auch die Kommunisten überraschend schwere Verluste erleiden. Diese politische Notlage versuchen beide Parteien nicht nur im Roman, sondern auch in der Realität durch einen zeitweiligen Schulterschluss zu überwinden. Obwohl der konservative Landsberger die Bereitschaft der Kommunisten, sich dem gewaltsamen Antisemitismus anzuschließen, in seinem Werk vielleicht übertreibt, gelingt es ihm dennoch, die verheerenden Mechanismen des deutschen Judenhasses mit erschreckender Präzision darzustellen.
Der letzte Teil des Romans zeichnet ein „Berlin ohne Juden“ und stellt eine eindringliche Darstellung des Verlusts dar, den die deutsche Kultur durch die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung erleidet. Heute gilt die Klage über diesen Verlust als anstößig, doch Landsberger illustriert die Provinzialisierung des judenfreien Berliner Lebens so plakativ, dass sie zur erneuten Reflexion über das plötzliche und nachhaltige Absinken der deutschen Kultur zwingt. Der Misserfolg des Romans muss andere Ursachen haben. Besonders die jüdischen Leser Landsbergers verschmähen das Werk, sie ignorieren den Kassandra-Ruf seiner Vision und können oder wollen die Warnungen nicht hören – ein Thema, das auch im Roman selbst ausführlich behandelt wird.
Festhaltend an den aufklärerischen Idealen Lessings, Goethes und Kants sowie an der Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose, missverstehen die jüdischen Leser Landsbergers trotz zahlreicher Warnungen den tiefgreifenden ideologischen Wandel in Deutschland und verkennen die drohende Gefahr einer völkischen Katastrophe.
Obwohl in diesem Aspekt zumindest eine summarische Annäherung an die historische Wirklichkeit erreicht wird, bleibt die Frage offen, warum Landsberger, bei all seinem Realitätssinn, so naiv ist zu glauben, das Ausland würde den deutschen Juden rechtzeitig zu Hilfe eilen.
Als 1927 sein größter Erfolg Liebe und Bananen erscheint – ein Werk, das mit Pola Negri, Olga Tschechowa, Paul Wegener, Albert Steinrück, Wilhelm Dieterle und Curt Bois verfilmt wird – hat Landsbergers schriftstellerisches Glück jedoch bereits an Glanz verloren. Er lebt unter Morddrohungen der aufkommenden Antisemiten und überlebt mit bescheidenen Auftragsarbeiten. Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten gerät Artur Landsberger aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seiner literarischen Arbeiten ins Visier der neuen Machthaber. Er nimmt sich 1933 in seinem Berliner Arbeitszimmer das Leben.
Die Nachricht von Landsbergers Tod dringt bis nach Österreich, wo das Neue Wiener Tagblatt von seinem „pünktlichen Tod“ spricht – ein Hinweis auf die Tatsache, dass Artur Landsberger Jude ist. Dabei denkt man an Namen wie Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Carl Einstein und Stefan Zweig, die ebenfalls vom Faschismus in den Selbstmord getrieben werden. Doch während diese Autoren erst Jahre nach Landsberger sterben, wirft dessen frühes Ende die Frage auf, warum der Romancier bereits so bald nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten den Schritt in den Tod geht. Hat er bereits vor seinen Weggefährten erkannt, dass für die europäischen Juden kein Ausweg mehr zu finden ist? Oder will er mit seinem Suizid ein Zeichen setzen, das die europäische Öffentlichkeit erschüttern und zum Widerstand gegen die rassistische Politik der neuen deutschen Regierung aufrufen soll?
Artur Landsberger: Berlin ohne Juden. Hg. und mit einem Nachwort von Werner Fuld. Weidle Verlag, Bonn 1998
Lesen Sie nächste Woche, welcher Roman an der Seite von Hermann Hesses Unterm Rad und Robert Musils Törleß steht.
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300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Alles Düstere liegt Landsberger lange fern. Er ist ein Salonlöwe und Weltenbummler, betätigt sich als Filmproduzent, Regisseur, Schauspieler, Redakteur und schreibt emsig Glossen, Rezensionen, Drehbücher und allein 27 Romane, die ihn vor dem Ersten Weltkrieg reich und berühmt machen – und heute vergessen sind. Dies ist durchaus nachvollziehbar, da der Großteil seiner Schriften in rasch niedergeschriebenen Unterhaltungsromanen besteht. Nichtsdestotrotz findet Landsberger beinahe zwei Jahrzehnte lang mit seinen Sittenromanen über das glitzernde und zugleich heruntergekommene Berlin eine treue Leserschaft. In diesen Erzählungen beleuchtet er das Leben von Ganoven und Verbrechern, Habenichtsen und Möchtegerns, Parvenüs und der Haute Volée.
Sein Wohlstand wird 1923 durch die Inflation zerstört, sodass er gezwungen ist, sich finanziell neu zu orientieren. In der Folge arbeitet er als Filmkritiker und Gerichtsreporter für verschiedene Zeitungen. Ursprünglich 1876 in Berlin geboren, hat Landsberger Rechtswissenschaften studiert, ehe er noch vor dem Abschluss zusammen mit Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal die Zeitschrift Der Morgen gründet.
In seinem 1925 veröffentlichten Roman Berlin ohne Juden, der eine Sonderstellung in seinem Gesamtwerk einnimmt, nimmt Artur Landsberger in literarischer Form die Schrecken des Holocausts vorweg. Der Roman erscheint im selben Jahr wie Hitlers Mein Kampf und erzählt die Geschichte vom völligen Triumph des Antisemitismus. Die Inspiration für das Werk zog Landsberger aus einem Buch des Österreichers Hugo Bettauer, das einen ähnlichen Titel trägt: Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen (1922). Bettauer selbst wird ein Opfer der nationalistischen Rechten: Kurz vor der Veröffentlichung von Landsbergers Roman ermordet ihn ein durch die nationale Presse angestachelter Zahntechnikergehilfe.
In Landsbergers Erzählung erlangt eine neu gegründete, nationalsozialistische Partei die Macht und vertreibt alle Juden aus dem Land. Einzige Konsequenz: Es gibt keinen Protest, sondern nur noch zielstrebiges Handeln. Doch die Folgen dieses radikalen Vorgehens sind dramatisch: Wirtschaft, Finanzen, Verkehr und Kultur kommen zum Erliegen – nichts funktioniert mehr ohne die jüdische Bevölkerung. Zudem wird der judenfreie deutsche Staat von der internationalen Gemeinschaft boykottiert. Der utopische Zustand hält jedoch nicht lange an. Schließlich kehren die Juden zurück, und allmählich beginnt sich das Land zu erholen.
In dem Werk treten beinahe hundert Personen auf, die sich in einem dramatischen Akt des Widerstands gegen die vollständige Vertreibung der Juden aus Deutschland opfern. Diese selbstgewählte, von Landsberger als „Tod der Siebenundneunzig“ bezeichnete Massensuizidaktion symbolisiert ihre verzweifelte Protestform. Mit feierlichem Pathos bekunden sie dabei ihr unerschütterliches Recht, „in ihrer Heimat zu sterben und auf deutscher Erde bestattet zu werden“.
Obwohl das Buch zweifellos eine literarische Groteske ist und Landsberger selbst von einer „Tragi-Satire“ spricht, wird der feierliche Tod dieser Hundertschaft von ihm keineswegs als bloße Ironie verstanden. Der Roman beschreibt eingehend eine politische Krise, die durch den betrügerischen Wahlkampf eines nationalfaschistisch-kommunistischen Parteienbündnisses ausgelöst wird, das mit Hilfe von Agitation und Propaganda die bedingungslose Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland durchsetzt.
Der „Tod der Siebenundneunzig“ fungiert in diesem Zusammenhang als Symbol des Weltgewissens, denn dieser tragische Akt wird in Landsbergers Erzählung als entscheidender Wendepunkt dargestellt. Der Tod der Opfer überzeugt die politische Mitwelt letztlich von der Notwendigkeit, den Nationalsozialismus wirtschaftlich zu isolieren und durch einen internationalen Boykott einen Regierungswechsel in Deutschland herbeizuführen. So wird der historische Konflikt im Roman nicht nur dargestellt, sondern durch die symbolische Geste der Opfer auch als überwunden angesehen.
Landsberger entwirft ein Szenario, das nur wenige Jahre später zur erschreckenden Realität wird. Der konkrete politische Ausgangspunkt für sein Werk ist die Landtagswahl im Dezember 1924, bei der sowohl die Nationalsozialisten als auch die Kommunisten überraschend schwere Verluste erleiden. Diese politische Notlage versuchen beide Parteien nicht nur im Roman, sondern auch in der Realität durch einen zeitweiligen Schulterschluss zu überwinden. Obwohl der konservative Landsberger die Bereitschaft der Kommunisten, sich dem gewaltsamen Antisemitismus anzuschließen, in seinem Werk vielleicht übertreibt, gelingt es ihm dennoch, die verheerenden Mechanismen des deutschen Judenhasses mit erschreckender Präzision darzustellen.
Der letzte Teil des Romans zeichnet ein „Berlin ohne Juden“ und stellt eine eindringliche Darstellung des Verlusts dar, den die deutsche Kultur durch die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung erleidet. Heute gilt die Klage über diesen Verlust als anstößig, doch Landsberger illustriert die Provinzialisierung des judenfreien Berliner Lebens so plakativ, dass sie zur erneuten Reflexion über das plötzliche und nachhaltige Absinken der deutschen Kultur zwingt. Der Misserfolg des Romans muss andere Ursachen haben. Besonders die jüdischen Leser Landsbergers verschmähen das Werk, sie ignorieren den Kassandra-Ruf seiner Vision und können oder wollen die Warnungen nicht hören – ein Thema, das auch im Roman selbst ausführlich behandelt wird.
Festhaltend an den aufklärerischen Idealen Lessings, Goethes und Kants sowie an der Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose, missverstehen die jüdischen Leser Landsbergers trotz zahlreicher Warnungen den tiefgreifenden ideologischen Wandel in Deutschland und verkennen die drohende Gefahr einer völkischen Katastrophe.
Obwohl in diesem Aspekt zumindest eine summarische Annäherung an die historische Wirklichkeit erreicht wird, bleibt die Frage offen, warum Landsberger, bei all seinem Realitätssinn, so naiv ist zu glauben, das Ausland würde den deutschen Juden rechtzeitig zu Hilfe eilen.
Als 1927 sein größter Erfolg Liebe und Bananen erscheint – ein Werk, das mit Pola Negri, Olga Tschechowa, Paul Wegener, Albert Steinrück, Wilhelm Dieterle und Curt Bois verfilmt wird – hat Landsbergers schriftstellerisches Glück jedoch bereits an Glanz verloren. Er lebt unter Morddrohungen der aufkommenden Antisemiten und überlebt mit bescheidenen Auftragsarbeiten. Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten gerät Artur Landsberger aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seiner literarischen Arbeiten ins Visier der neuen Machthaber. Er nimmt sich 1933 in seinem Berliner Arbeitszimmer das Leben.
Die Nachricht von Landsbergers Tod dringt bis nach Österreich, wo das Neue Wiener Tagblatt von seinem „pünktlichen Tod“ spricht – ein Hinweis auf die Tatsache, dass Artur Landsberger Jude ist. Dabei denkt man an Namen wie Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Carl Einstein und Stefan Zweig, die ebenfalls vom Faschismus in den Selbstmord getrieben werden. Doch während diese Autoren erst Jahre nach Landsberger sterben, wirft dessen frühes Ende die Frage auf, warum der Romancier bereits so bald nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten den Schritt in den Tod geht. Hat er bereits vor seinen Weggefährten erkannt, dass für die europäischen Juden kein Ausweg mehr zu finden ist? Oder will er mit seinem Suizid ein Zeichen setzen, das die europäische Öffentlichkeit erschüttern und zum Widerstand gegen die rassistische Politik der neuen deutschen Regierung aufrufen soll?
Artur Landsberger: Berlin ohne Juden. Hg. und mit einem Nachwort von Werner Fuld. Weidle Verlag, Bonn 1998
Lesen Sie nächste Woche, welcher Roman an der Seite von Hermann Hesses Unterm Rad und Robert Musils Törleß steht.