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Hannah Goetze: „sara“

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(c) Hannah Goetze

„Von der Selbstoptimierung im Fitnessstudio oder beim Beautydoc bis zu transhumanistischen Eingriffen oder symbionetischen Verfahren: modifizierte Körper sind ein Thema der Gegenwart genauso wie von Zukunftsvisionen, utopisch oder dystopisch. Wie sehen diese veränderten Körper aus, wie bewegen sie sich durch die Welt? Wie verhalten sie sich zueinander und zu anderen Lebewesen? Welche Perspektiven eröffnen, welche Räume schließen sie?“ In dem von Lisa Krusche und Moritz Müller Schwefe geleiteten Seminar „Körpermodifikationen der Gegenwart und Zukunft“ der Bayerischen Akademie des Schreibens wurde diesen Fragen nachgegangen. Das Literaturportal Bayern stellt die Texterzeugnisse, die dabei herauskamen, vor.

Hannah Goetze, Jahrgang 1997, studiert aktuell Komparatistik und Kunstgeschichte in München. Sie hat Interesse an Kreuzworträtseln, puzzelt gerne und wenig.

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sara: [in der mitte eines langen flurs stehend, dessen ende nicht sichtbar ist, mit nach hinten geworfenem kopf lachend, mit weit aufgerissenen augen; ihr lachen hallt von den wänden wider, sie hört ihm zu und blickt ihm nach, sie räuspert sich, sie richtet sich gerade auf, sie spricht] ich bin das kind einer person die längst vergessen hat dass es mich gab

ich bin aufgewachsen in einem schloss das verwinkelt war und verstaubt und in dem jede ecke angst gemacht hat weil hinter ihr jemand sein könnte der sagt spiel nicht hier was machst du hier wieso bist du hier überhaupt

aber die ecke bedeutete auch sicherheit hinter den ecken wenn ich wusste keiner ist da und keiner sieht es habe ich verwahrlosung geküsst wir haben uns liebkost so lange bis wir eins wurden ich habe meine haare nicht gekämmt ich bin nur mit dem finger durch sie gefahren um den zustand der zunehmenden verzottelung fühlbar zu machen zu spüren wie sie hässlicher wurden wie ich hässlicher wurde süßes kind [lächelt lieb]

ich habe meine wangen geschlagen damit sie eine röte annehmen die nicht charmant sein sollte ich war nicht charmant ich war gewaltvoll ich schlug die wangen und anderes
spieglein spieglein – 

[lacht erneut, verbittert, hört dem lachen zu, schnaubt, schließt die augen, tut ein paar schritte rückwärts den gang herunter, augen auf, nun etwas weiter entfernt stehend, den kopf schief legend; blick starr nach vorn, lauter redend] ich habe mich mit dem schaukelpferd angefreundet das der schwester gehört hatte nachdem es der mutter gehört hatte nachdem es der großmutter gehört hatte mir hatte es nie gehört ich hatte es in flammen gesetzt und mich kein bisschen schlecht gefühlt ich beobachtete den brennenden schweif es roch nach plastik der geruch zog durch alle gänge es fühlte sich an wie sieg –

[legt den Kopf schief, dreht sich gedankenlos um sich selbst] während des essens wurde geschwiegen also schwiegen wir aber auch ohne die regel hätten wir es getan

an der suppe verbrannte ich mir die zunge und wollte aufschreien ich durfte nicht also schluckte ich es herunter wie alles äpfel die im hals stecken blieben staub hass sperma
im bauch brodelte es weil sich alles vermischte –

[leckt sich die lippen] alles vermischte sich dort ich träumte beständig wie ich mich übergab auf die stufen ich übergab alles an die stufen apfelstücke staub hass sperma jemand anderes würde es sauber machen nicht ich ich wäre verschwunden zurück in die arme der verwahrlosung die mich inzwischen gut kannte sie hielt mich lange und warm – [hält kurz inne, staunt, blickt sich um] lange und warm [atmet ein und atmet aus] –

[legt sich langsam und bedacht auf den boden, schaut an die decke, die hände auf dem bauch, sie fühlt ihr atmen] an dem einen tag als ich mein gesicht erneut sehen musste schlug ich mit der hand in den spiegel die hand blutete ich verband sie der spiegel war kaputt ich bewahrte die splitter auf als erinnerung wozu ich fähig war und weil man weiß ja nie

ich sah mich selten wieder und dann immer anders

jemand sagte mir dass die verwahrlosung kein gutes zuhause sei aber ich wollte nicht weg ich lachte [macht das lachen nach und eine kindliche Stimme] ha ha aber ich wohne nun mal hier hier ist mein zuhause

die person zog die augenbrauen hoch und meinte wenn ich keine hilfe wollte gäbe es auch keine möglichkeit mir zu helfen

am abend zog ich den verband ab der um meine hand war die aufgeschnitten war von dem spiegel und ich öffnete die wunden erneut die gerade im verheilen begriffen gewesen waren mit den spitzen scherben des spiegels die ich aufbewahrt hatte
ich fand mich wieder –

[ihr atem stockt, ihre hand streichelt den bauch, findet dann wieder ihren platz darauf]
ich fand mich wieder im zimmer der person die längst vergessen hat dass es mich gab aber die person war nicht da ich war allein in diesem zimmer und wie immer wie immer kam die verwahrlosung zuerst sie legte einen neuen verband um die hand sie streichelte die hand –

[nimmt die hände vom bauch, rollt sich zusammen auf eine seite, legt die hände wie ein kissen unter den kopf, spricht langsamer und leiser] sie streichelte die hand sie streichelte die zottigen haare wir küssten uns später in der nacht starb ich –
ich lag in den armen der verwahrlosung die mich hielt und alles fühlte sich warm und sicher an

[schließt die augen] ich hatte keine angst mehr ich wusste was hinter der ecke auf mich wartete es wäre das brennende pferd mein freund ich konnte es riechen es roch bis hierher süß und schön es würde seinen weichen brennenden heißen kopf an meinen brennenden bauch legen wir würden verweilen

ich dürfte mich auf es setzen und wir würden den gang hinuntergaloppieren nach allem war das mein zuhause ich kannte die ecken die verwahrlosung würde mich grüßen das kind das sie so gut kannte das brennende kind mit den roten wangen und den blutenden händen süßes kind –