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Kultur trotz Corona: „Die Frage“. Von Sonja Weichand

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Berlin Alexanderplatz, U-Bahn-Haltestelle

Sonja Weichand (*1984 in Würzburg) schreibt seit ihrer Kindheit Kurzgeschichten, Gedichte und Theaterstücke. Nach ihrem Germanistikstudium und sechs Jahren als Regieassistentin und Theaterregisseurin ist sie seit 2016 freiberufliche Autorin. Zuletzt erschienen ihre Stücke German Angst und and supergirls just fly im Hofmann-Paul-Verlag sowie Sich übergebende Unpaarhufer und Was sicher ist im deutschen theater verlag. Regelmäßig veranstaltet sie Lyrik-Lesungen auf Instagram. An der Universität Würzburg leitet sie als Dozentin die Workshops zum Literarischen Schreiben. Im Oktober 2020 hat Sonja Weichand ihren Debütroman schuld bewusstsein veröffentlicht.

Mit der folgenden Kurzgeschichte beteiligt sich Sonja Weichand an Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Die Frage

 Ich rieche Döner. Natürlich, was sollte man sonst in der U-Bahn essen? Das war sicherlich eine bewusste Entscheidung: Der junge Mann, der zwei Plätze hinter mir sitzt, hat gut abgewogen und sich dann knallhart für die Knoblauchsauce entschieden. Wenn schon, denn schon. Man möchte die anderen Fahrgäste schließlich an seinem Geschmackserlebnis teilhaben lassen. Emma schreit und obwohl ich das Bedürfnis habe, mir die Ohren zuzuhalten und laut „Lalala“ zu singen, entscheide ich mich dafür, sie nicht direkt hier am Alexanderplatz auszusetzen. Schließlich bin ich eine nette Mutter und mir meiner Pflichten bewusst. Selbst wenn mein kleines Monster in letzter Zeit die Kein-Schlaf-Challenge jede Nacht neu organisiert. Ich würde gerne die Teilnahme absagen, aber leider kann Tobi noch keine Muttermilch produzieren.

Nach einer Woche Schlafentzug hatte ich bereits das Gefühl, in Gesprächen mein Gegenüber nicht mehr richtig wahrzunehmen. Alle Eindrücke waren irgendwie verschwommen, weit weg, im Dunst hinter dem Land der körperlichen Notwendigkeiten, die so ein Baby fordert.

Jetzt rieche ich zumindest mal wieder etwas. Ich hätte mir gewünscht, meine erste bewusste Sinneswahrnehmung nach zwei Wochen wäre kein gebratenes Schweinefleisch. Bemüht versuche ich meine Nase in eine andere Richtung zu halten. Berlin bietet ja geruchlich so viel Abwechslung. Mhm, Babywindel. Ich hatte Emma noch gewickelt, bevor wir das Haus verließen, aber sie hat geduldig auf den Moment gewartet, wenn der Po schön frisch und sauber ist. Ich wippe sie in meinen Armen und langsam wird aus dem lauthalsen Brüllen ein leises, fast friedliches Quengeln. Vermutlich könnte ich dem mit Brüsten entgegenwirken, aber dazu fehlt mir der Mut in der vollbesetzten U-Bahn. Nur noch drei Stationen bis zum Kinderarzt, dort kann ich nach Herzenslust stillen und chillen – und neue Bakterien für zuhause mitnehmen.

Emma ist einen Moment ruhig und ich ertappe mich dabei, kurz, an den Kinderwagen gelehnt, wegzudösen. Sekundenschlaf. Meine Augenringe im Fenster der Bahn zeugen davon, dass es kein langes Nickerchen war. Ich überlege mit Blick in diesen Spiegel, wann ich das letzte Mal Wimperntusche benutzt habe, als ich ein bekanntes Gesicht neben meinem entdecke:

„Anna! Dich habe ich ja Ewigkeiten... oh, ist das...? Das ist euer... Baby?“, die Frau mit der sichersten Kombinationsgabe direkt nach Sherlock Holmes ist meine ehemalige Kollegin. Jetzt drehe ich mich zu ihr um. Sie steht etwas hilflos vor meinem blauen Kinderwagen und versucht angestrengt, das Geschlecht meines Kindes zu erraten. Ich sehe die irre Konzentration in ihren dunklen Pupillen.

„Ja“, sage ich, „das ist es.“ Mehr Tipps gebe ich ihr vorerst nicht.

„Schön... Kinder sind ja so ...“, ungefragt tappst sie meiner Kleinen mit ihren ungewaschenen Fingern im Gesicht herum. Emma gibt aber nur ein leises Grummeln von sich. Vermutlich wie alle ihre Aussagen zu übersetzen mit: „Wann gibt’s endlich wieder Milch?“

Da ich keine Anstalten mache, das Geheimnis um die sexuelle Identität meines Kindes aufzulösen, sieht sich Frau Dorsch zu einer Frage genötigt: „Ist es ein Junge? Also... weil...“

„Wegen des blauen Stramplers und dem weiß-grauen Pullover mit den kleinen Schiffen?“, versuche ich ihr zu helfen. Sie nickt strahlend. „Nein, wir haben eine kleine Kapitänin. Das ist Emma.“

Frau Dorsch schluckt: „Ach so. Ja, sieht man auch... Sie ist wirklich süß.“

Ich lache: „Naja, geht so. Aber sie ist sehr willensstark.“

Irritiert sieht mich meine ehemalige Kollegin an.

„Frech würde man wahrscheinlich bei Jungs sagen“, versuche ich erneut, ihr auf die Sprünge zu helfen. Eine weitere Steigerung der Ungläubigkeit in Frau Dorschs Augen ist die Folge.

Sie entscheidet sich, das Thema zu wechseln: „Es war ganz schön schwer in der Firma, ohne dich.“

Das ist nett. Auch wenn ich das geahnt habe: „Wirklich?“, frage ich bescheiden. Emma fängt jetzt wieder an zu quengeln und ich betätige mich vor Frau Dorsch als lebende Wippe. Einige Meter entfernt schaut mich eine alte Dame mit Dackel so an, als würde sie mich gerade für den Preis zur „Horrormutter des Jahres“ nominieren, weil mein Kind nicht aufhört, Geräusche von sich zu geben.

„Natürlich!“, antwortet Frau Dorsch eifrig, „Es ist schade, dass du weg bist. Die Einarbeitung von neuen Mitarbeitern ist immer so stressig. Meinte auch Herr Beck.“ Das ist unser Chef. Ihm ist alles zu stressig, was er selbst machen muss.

„Ich komme ja bald wieder“, sage ich leichtsinnig dahin. Der Schlafmangel muss in diesem Moment einige wirklich wichtige Synapsen im Gehirn blockiert haben.

„Ach ja?“, Frau Dorsch sieht mich überrascht an.

Ich ärgere mich kurz darüber, dass ich so damit herausgeplatzt bin. Vielleicht wollte Herr Beck den Kollegen die freudige Neuigkeit selbst erzählen. Aber es ist kein Geheimnis.

„Ja, ich komme in acht Wochen zurück“, ein bisschen muss ich doch lächeln in der Vorfreude, dann endlich wieder arbeiten zu können. Der Austausch fehlt mir. Ich sehne mich nach Gesprächen, die mehr Inhalt haben als „Eieiei, du hast aber eine Sauerei gemacht“. 

„Oh. Und wer kümmert sich dann um das Baby?“, will Frau Dorsch mit einer Mischung aus Vorwurf und Bestürzung wissen. Es gibt keine richtige Antwort auf diese Frage – ich kann nur das Falsche sagen. Weiß ich denn so schlecht, was meine Rolle in dieser Gesellschaft ist? Sofort hämmert ein kleines, schlechtes Gewissen gegen meine Mutter-Herzwand und ruft: „Hey, du willst Emma alleine lassen? Das geht ja gar nicht!“ Ich senke den Kopf und bereue jede meiner Entscheidungen, die mich zu dieser selbstbestimmten, karrieregeilen Schlampe gemacht haben.

„Naja, Tobi ist dann zu Hause“, nuschle ich leise. Alles daran fühlt sich falsch an. Er ist doch nur der Vater! Ich bin eine Rabenmutter. Schwarz war schon immer meine Lieblingsfarbe. Jetzt habe ich mich endgültig assimiliert.

Zum Glück öffnet sich in diesem Moment die U-Bahn-Türe neben mir und eine letzte wache Gehirnzelle ruft mir zu, dass das da draußen die Häuserfront ist, die mein optisches Nervensystem immer wahrnimmt, bevor mein Körper die Kinderarztpraxis betritt. Voltastraße, richtig.

„Ich muss hier raus“, murmle ich noch und löse eilig die Bremsen des Kinderwagens. Während ich beim anschließenden Rangiermanöver an einem älteren Herrn mit Hut und zwei Jugendlichen in identischen Jogginghosen hängenbleibe, hat Frau Dorsch Zeit, mir „Alles Gute“ zu wünschen. Es klingt, als hätte ich Schlimmes vor und könnte jedes Toitoitoi gebrauchen.

Emma schreit aufgrund der plötzlichen Kälte wie am Spieß. Ich hasse Winter. Das hat sie von mir.

Aber eine Mutter, die gerade mit ihren in rosa Tutus gekleideten Zwillingen in die Bahn steigt, weiß es besser: „Sie hat Hunger“, erklärt sie mir und nickt, als würde sie ihren großen Erfahrungsschatz nach Bildern hungernder Kleinkinder durchsuchen. Ich ignoriere sie und ordne langsam Schal und Mütze, um mich nicht zu erkälten. Dann übertreibe ich es noch richtig mit der Selbstliebe und schließe sogar meine Daunenjacke. Frau Dorsch winkt mir unterdessen aus der wegfahrenden U-Bahn aufmunternd zu.

Ein Blick auf die Uhr verrät, dass nicht mehr viel Zeit bleibt bis zu unserem Termin. Mein Mini-Monster lässt sich jedoch nicht beruhigen und meine unerhörte Frechheit, es in den Kinderwagen zurückzulegen, erzeugt einen regelrechten Wutanfall.

Jetzt klingelt auch noch mein Handy. Ich finde es neben dem dicken Windelpaket in der Wickeltasche mit den gelben Sternchen. Einen Augenblick frage ich mich, ob ich hier nicht auch besser das Einhörner-Motiv gewählt hätte, um mir Gespräche wie das mit Frau Dorsch zu ersparen.

Zum Glück höre ich in diesem Augenblick Tobis Stimme am Handy. Das erinnert mich daran, WARUM ich ein kleines Wesen habe, das mir den Schlaf raubt und für das ich überall im Kreuzfeuer der Ratschläge stehe, sobald ich eine Haarsträhne aus dem elterlichen Schützengraben stecke.

„Ich habe mit Lars geredet wegen der Elternzeit“, erklärt mir mein Lieblingsmann in diesem Moment. Das Handy zwischen Kinn und Schulter geklemmt überquere ich die Kreuzung. Ich muss mich beeilen, wenn ich es noch rechtzeitig zu Dr. Schunk schaffen will.

„Und? Was hat dein Chef gesagt?“, frage ich und bin mir in diesem Moment gar nicht der Tragweite einer möglichen Antwort bewusst. Dennoch verspüre ich ein komisches Glucksen in der Magengegend. Womöglich ist es auch nur Hunger. Seit ich stille, reicht eine Einkaufswagenladung kaum, um ein Sättigungsgefühl zu erreichen.

„Er war nicht so erfreut. Er meinte, ob es denn wirklich acht Wochen sein müssen ...“. Tobi bricht ab.

Ich stehe jetzt vor der Arztpraxis. Von drinnen höre ich Kindergeschrei. Mein Puls versucht, die neue Information zwischen Herz und Hirn hin- und herzuschießen, bis ich wieder mehr fühle als eine vage Furcht. Emma beschwert sich im Wagen lauthals darüber, dass ihr Schnuller zum fünften Mal herausgefallen ist. Wie kann das sein, wenn sie den Mund offen hat? Das will nicht in ihren kleinen, niedlichen Dickkopf. Ich starre auf die große Eichenholztür und fühle mich einen Augenblick lang zu schwach, um den Türknauf zu drücken. Irgendwo in der Straße bellt ein Hund. Womöglich der Dackel der alten Dame, die mich für eine Kinder-Bedrohung hält. In der Leitung herrscht eine kurze, aber sehr vielsagende Stille. Es ist der Moment, wenn die Frau sagen könnte: „Ok, dann machen wir nur sechs Wochen.“ Ich schweige. Ich denke an Frau Dorschs Frage zurück: Wer kümmert sich dann um das Baby? Langsam steigt die Angst in mir hoch. Um mich, um Emma, um diese Gesellschaft, um meine Beziehung zu Tobi. Sieht er das denn nicht? Sekunden verstreichen.

Dann fragt mein Lieblingsmann: „Willst du gar nicht wissen, was ich gesagt habe?“

„Doch, natürlich.“ Ich blicke wieder auf die schwere Tür, die wie eine große Herausforderung vor mir steht.

„Er hat mich mit seiner Ignoranz so aufgeregt, dass ich mich umentschieden habe. Ich meinte zu Lars: Dann bist du jetzt sicher enttäuscht von mir, aber acht Wochen sind mir doch zu wenig. Ich möchte gerne die vollen sieben Monate Elternzeit nehmen. Die Hälfte dessen, was geht. Den Rest macht die Frau, mit der ich mich für unsere wunderbare Tochter entschieden habe.“

Tränen treten mir plötzlich in die Augen und ich weiß wieder, was Liebe ist.