Oskar Panizzas „Wachsfigurenkabinet“ und die Erfindung des Kinos

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Leonardo da Vinci (1452-1519): Das (letzte) Abendmahl. Mailand, Santa Maria delle Grazie, Refektorium (1495-1497)

Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Der folgende Beitrag wird im Kontext einer von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten digitalen Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.

Dietmar Schmidt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Erfurt und arbeitet in Berlin als Dramaturg in der Freien Theaterszene.

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Beschreiben und erzählen

In Oskar Panizzas Text Das Wachsfigurenkabinet [sic!] aus dem Jahre 1890 gehen Verfahren des Beschreibens und des Erzählens eine denkwürdige Verbindung ein. Beinahe zögert man, diesen Text eine Erzählung zu nennen.

Gewöhnlich stehen Beschreibungen dem Fortkommen einer Geschichte im Weg. Sie verharren beim bedeutungslosen Detail, sie stauen den Fluss des Erzählens. In seinem berühmten Essay zum effet de réel hat Roland Barthes aus dieser Gegenläufigkeit von Beschreiben und Erzählen seine Theorie des realistischen Schreibens gewonnen. Wenn die Details, in die sich Beschreibungen verstricken, für den Fortgang der Narration keine Bedeutung haben, was ist dann, so fragt Barthes, die Bedeutung dieser Bedeutungslosigkeit? Diese Bedeutung besteht in nichts anderem als in dem Eindruck des Wirklichen an sich, in der Erzeugung eines „Wirklichkeitseffekts“.[1]

In Panizzas Wachsfigurenkabinet dominiert das Beschreiben; der Text ergeht sich in Umständen. Man sieht geradezu eine Poetik der Aufzählung, der Liste am Werk. Aber die Beschreibungen von Einzelheiten durchkreuzen nicht nur das Erzählen, sondern sie befeuern zugleich das Geschehen. Das Detail tendiert dazu, ein Vorfall zu sein. In dem, was zu sehen und zu beschreiben ist, knistern sozusagen Ereignisse, so dass das Ganze in Bewegung gerät und sich verändert, verkehrt, auf ungeahnte Weise.

Auch in Panizzas Text stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Bedeutungslosigkeit – jedoch anders, als wir es den Überlegungen von Roland Barthes entnehmen. Auf dem genuinen Feld des Realismus, das Barthes in der Literatur des 19. Jahrhundert erkennt – in den Verfahren der Deskription – stößt Panizza auf Eindrücke des Wirklichen, die verstören und überwältigen. Mit Lust und Entsetzen entdeckt er eine Maschinerie der Hervorbringung von Wirklichkeitseffekten, die kaum mehr beherrschbar ist. Panizza, so möchte ich behaupten, erfindet das Kino.

Die Grenzen des Vorstellungsvermögens

Wovon Panizzas Text handelt, ist schnell resümiert. Auf einem Jahrmarkt in Nürnberg entdeckt der Ich-Erzähler eine Schaubude, die mit der Aufschrift wirbt: „Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi.“[2] Fasziniert und abgestoßen zugleich wohnt der Ich-Erzähler einer merkwürdigen Aufführung bei: Mit Hilfe mechanischer Wachsfiguren wird das Abendmahl, die Kreuztragung und die Kreuzigung Christi gezeigt. Dabei verzeichnet der Beobachter dieses Spektakels nicht nur minutiös die Beschaffenheit der wächsernen Automaten, ihr Aussehen und ihre mechanische Beweglichkeit sowie die technischen Pannen, die sich während der Darbietung ereignen; sondern er interessiert sich zugleich für die Reaktionen des Publikums, das vom Fortgang der Aufführung immer stärker ergriffen wird und sich zunehmend ereifert. Als die Christus-Figur ans Kreuz geschlagen wird, kommt es schließlich zum Tumult, „zu einer förmlichen Rauferei“ (34). Hier nun interveniert Maria Magdalena, als welche eine lebendige Darstellerin figuriert, die Kassiererin der Schaubude, die nun aus der Rolle fällt: „Meine Herrschaften“, ruft sie, „die Vorstellung ist zu Ende!“ „Dies wirkte. Alle ließen von einander ab.“ (35) Und damit ist auch die Erzählung zu Ende: Während auf der Bühne die Automaten nicht aufhören, ihre rudimentären Bewegungsabläufe zu wiederholen, Pilatus etwa fortwährend sich die Hände wäscht, und während „von hinten aus dem nun ganz verfinsterten Bühnen-Raum die Christusleiche starr und wächsern hervorglänzte, […] verließen die Letzten das Wachsfigurenkabinet“. (35) Um diese merkwürdige Vorstellung geht es, und um den Sprechakt, der ihr ein Ende macht. „Meine Herrschaften, die Vorstellung ist zu Ende!“

Es fragt sich, welche Art von Imagination dies ist, die hier gleichsam zur Räson gerufen wird; und weiter ist zu fragen, welche andere Art der Imagination sich mit diesem so wirkungsvollen Weckruf vielleicht unmerklich fortsetzt. Ohne dessen gewahr zu werden, stehen die Menschen, die das Wachsfigurenkabinett verlassen, unter dem Einfluss des Zurufs, der sie, wie es scheint, in die Wirklichkeit zurückgeholt, dessen Performanz aber in Wahrheit diese Wirklichkeit erst geschaffen hat.

Bei Panizza wird von den Einbildungen anderer Bericht erstattet. Immer wieder findet sich ein Ich-Erzähler, der, wie im Wachsfigurenkabinet, auf Reisen ist, und so Gelegenheit erhält, zu beobachten, wie sich Menschen aus unverständlichen Gründen auf äußerst befremdliche Weise verhalten. Immer wieder gibt es einen Ich-Erzähler, der nicht etwa selbst phantasiert, sondern der Zeuge von Einbildungen ist, die anderen widerfahren: individuelle und, häufiger noch, kollektive Phantasmen, die zu seltsamen Übereinkünften führen, von denen der Beobachter ausgeschlossen ist, und die sich dann in einer Art kultischen Handlung, die sinnlos und unverständlich erscheint, entladen.

Der Ich-Erzähler ist von dem, was er beobachtet, zutiefst befremdet. So genau er die seltsamen Verrichtungen der anderen festzuhalten versucht, so sehr verschließen sich ihm gleichwohl die verrückten Intentionen und unverständlichen Reglements, denen sie zu folgen scheinen. Und so sehr er sich nichts von der Mimik und Gestik dieser Menschenwesen entgehen lässt, mit denen sie ihre Verrichtungen begleiten, so wenig wird ihm darin eine verstehbare Körpersprache ersichtlich. Daher gerät seine Rede ihm aus den Fugen; sie ergibt keine geordnete Erzählung, keinen Plot, der sinnvoll und in sich geschlossen wäre, sondern akkumuliert eine unzusammenhängende Menge deskriptiver Details. Der Bericht des Beobachters ist bei Panizza durchsetzt mit versuchsweisen Schlussfolgerungen und Hypothesen, die aber nie einen wirklichen Sinn in das Geschehen hineindeuten können. Daher wird die Wahrnehmung und werden die Worte, die die Wahrnehmung zu formen versuchen, idiosynkratisch. Sie sind durchdrungen von Affekt. Man lese etwa die folgende Beschreibung, die Panizza von einem Spaziergang zu der auf dem Nikolausberg bei Würzburg gelegenen Wallfahrtskirche, dem sogenannten Käppele, gegeben hat, bei dem ihm eine Gruppe von Pilgerinnen begegnete:

Es war an einem Sonntag-Vormittag und die Sonne vergoldete die dem Herbst entgegenreifende[n] Weinhügel. Ich hatte einige der gewiß über Hundert Stufen betragenden Serpentinen hinter mir, als ich bei einer Biegung des Wegs einen dick zusammengepferchten Haufen junger Mädchen, es waren meist Bauerndirnen, gebückt und knieend die blanken Steinstufen langsam, eine nach der andern hinaufrutschen sah. Gleichzeitig schlug ein unverständliches Summen an mein Ohr, welches das Resultat einer mit fabelhafter Schnelligkeit produzierten Gloßolallie war. Näher kommend bemerkte ich, wie jedes der Mädchen auf jeder Steinstufe längere Zeit sich aufhielt; und aus dem Lippenschnurren erkannte ich […] nur einige Laute […] Bald war mir klar, daß der Aufenthalt auf jeder Stufe nicht der Zeit nach, sondern der Lippen-Arbeit nach sich berechnete, da immer nach einer ganz bestimmten Phrase mit entsprechendem Tonfall das Hinauf-Rutschen auf eine nächsthöhere Steinstufe statt fand. […] In der Hand hielten die Mädchen alle Zählketten, eine Art Kerbholz, welches aber biegsam war […]. Nicht nach einer bestimmten Zeit, sondern nach einem bestimmten Silben-Quantum rollte an der Holzschnur eine Kugel ab, und mehrere Kugeln entsprachen einer Steinstufe. Ich kam jetzt der Lösung näher […]: Es war ein Wettrennen mit dem Maul, welches durch den kleinen Holzapparat in der Hand controllirt, und durch Übertragung auf die Knie äußerlich-räumlich executirt wurde. […]. Das Weiße des Auges trat bei Einigen heraus; viele gurgelten und stöhnten die letzten Perioden, und auf der letzten Stufe angekommen, stürzten Etliche wie erschöpft zu Boden […].[3]

Die groteske Choreographie dieser Menschengruppe, das Mechanische und Automatenhafte der Bewegungen, die Verunstaltung des Sprechens zum Geräusch, die Umfunktionierung von Lippen und Kiefern zu Gehwerkzeugen, die Dissoziation einzelner Sinnesorgane, die anderweitig beschäftigt sind, das gegengeschlechtliche, tierische Gebaren der Frauen, ihre erbarmungswürdige und zugleich völlig sinnlose Erschöpfung: all diese Wendungen, die die Beschreibung hervorbringt, artikulieren, dass das Vorstellungsvermögen des Beobachters überschritten ist. Daher ist es kein Zufall, dass eine Vielzahl von Redundanzen den Text durchzieht. Es gibt demnach einen polemischen Exzess der Darstellung, an dessen Ende nicht nur die Frauen erschöpft sind, sondern auch deren Beschreibung. „Das Weiße des Auges trat bei Einigen heraus“, so heißt es; aber assoziiert damit ist das hervorgekehrte Weiß im Auge des Beobachters selbst: „Wenn ich mich heute dieser Szene erinnere, […] dann steht mir der Verstand still“[4] ...

Von einem „Ende der Vorstellung“ kann daher in doppeltem Sinne die Rede sein: einerseits in dem Sinne, dass eine Vorführung oder Aufführung, eine Darbietung oder ein Zeremoniell abgebrochen oder beendet wird. Das sind die zu bloßen Schatten oder Automaten gewordenen Menschen, die sich in ihren angestrengten Wiederholungen schließlich physisch erschöpfen. Genau dies ist auch der Fall, wenn Maria Magdalena im Wachsfigurenkabinett das Ende der Vorstellung ausruft, um der Prügelei der Zuschauer und den leerlaufenden Bewegungen der mechanischen Wachsfiguren Einhalt zu gebieten. Andererseits aber ist mit dem Ende der Vorstellung die Begrenztheit der Phantasie bezeichnet, das Versagen und Aussetzen einer Imagination, die einer Darbietung nicht mehr zu folgen vermag. Es gibt eine Beschränkung des Vorstellungsvermögens, die Panizza deutlich artikuliert. Er begreift sie als Zumutungen für die Einbildungskraft, die in aller Schärfe zurückzuweisen sind. Panizzas Erzählungen setzen dort ein, wo es diese Zumutungen gibt, wo ein Sachverhalt oder Geschehen nicht mehr in die eigene Vorstellung eingehen kann. Auf diese Weise begründet sich eine besondere Form der Empirie, die allein dort möglich ist, wo die Vorstellung an ihr Ende gerät: eine Empirie, die sich in den Realitätseffekten unabschließbarer Beschreibungen und Auflistungen ergehen wird.

Das Medium des Unbegreiflichen

Schon im Titel der Erzählung wird ein Medium bezeichnet, das Wachsfigurenkabinett. Es trägt von vornherein die Begrenztheit seiner Darstellung, die Unechtheit zur Schau. Viel wichtiger aber noch ist, dass hier ein Publikum den Wachsfiguren gegenübertritt, das ebenso wie diese unter der Beobachtung des Ich-Erzählers steht. Einerseits also gibt es die wächsernen Automaten, deren Aussehen, deren mechanische Bewegungen und deren Geräusche der Beobachter registriert. Andererseits aber gilt die Aufmerksamkeit des Betrachters der Menge, die auf diese Automaten reagieren. Was in diesem Text unvorstellbar und was unglaublich ist, spielt sich genau zwischen diesen beiden Beobachterperspektiven ab: zwischen der Betrachtung der Automaten und der Betrachtung der Menschen, deren Verhalten diese Automaten gewissermaßen determinieren, so dass die Verhaltensweisen der Menschen der Tendenz nach selber automatisch geworden sind.

Während Panizzas Beschreibung der Prozession auf dem Würzburger Nikolausberg eine groteske, automatenhaft bewegte Gruppe junger Frauen zeigt, wird im Wachsfigurenkabinet der Ursprung dieser unheimlichen Verwandlung offenbar: Er liegt im Zusammentreffen von Menschen und Automaten, die miteinander verbunden, miteinander kurzgeschlossen sind, so dass sich Bewegungen mitteilen, die von den Automaten auf die Menschen übergehen. Dieser Zusammenhang von Mensch und Automat aber erklärt bei Panizza nichts: Er ist vielmehr selbst unglaublich, unvorstellbar. Nichts anderes also als diese Vermittlung, dieser seltsame mediale Zusammenhang wird im Wachsfigurenkabinet zu jener Frage, die das eigentliche Rätsel ist. Wie kann, so fragt sich der Ich-Erzähler und Beobachter der Szene, die bloße Betrachtung der Wachsfiguren zu solchen Reaktionen des Publikums führen – eine Betrachtung von Wachsfiguren, die im Grunde ja lächerlich sind?

Auf einer Estrade […] befand sich eine große Gruppe dunkler, steifer Gestalten, sitzend, bunt gekleidet, zum Teil mit höchst pathetischem Gesichtsausdruck […]. In der Mitte Christus mit einer fein gearbeiteten, blonden Perücke; er hat die größte Ähnlichkeit mit einem englischen Lord, wie man sie bei uns auf dem Theater in komischen Stücken darstellt; […] die gleiche blasierte Langeweile auf dem regungslosen Gesicht; man erwartet jeden Moment, daß er den Mund zum Gähnen öffnet; der Blick, regungslos blau den Beschauer anstarrend, hat etwas Lammfrommes, Trauriges, Kindlich-Unbewußtes; der bleiche, glatte Unterkiefer ragt etwas vor, und fordert zu Vergleichen mit Repräsentanten aus dem Tierreich auf; der Wachsguß ist etwas zu fettig ausgefallen; man meint Christus schwitze Fett, was nicht zur Heiligkeit beiträgt.

Immer wieder hebt Panizzas Text das Komödienhafte der Wachsfiguren-Darbietung hervor. Dieses Komödiantische wird dabei in der Beschreibung, die der Ich-Erzähler gibt, durchgehend mit den Defizienzen der Wachsautomaten verknüpft. Mit den Bewegungen, die die Wachsfiguren vollziehen, hapert es deutlich: „Christus streckt mit brünstiger Geberde die beiden lang-gefalteten Hände über den Fisch aus; doch ist es offenbar, er kann zu keiner Verteilung der Brode schreiten, denn beide Hände sind vorn an den Fingerspitzen zusammengepappt.“ (S. 15) Jene Wachsfigur, die Johannes darstellen soll, ist durch eine „geheime Konstruktion“ befähigt, „die Arme flügelähnlich vom Körper auf und nieder zu heben“ (S. 20). Jede dieser Bewegungen exponiert vor allem und zuerst den Umstand, dass die Automaten in Bewegung zu bringen sind. Es geht um die Aufführung der Beweglichkeit der Wachsfiguren selbst, vor aller Darbietung bestimmter Bewegungen, die eine kohärente Geschichte voranbringen könnten. So ruckartig und automatisch die Bewegung auch immer sein mag, und so schnarrend und mechanisch die Stimme auch immer klingt, so sehr wird hier, gerade aufgrund dieser Unzulänglichkeiten, das Auftauchen von Bewegung und Stimme als solches exponiert.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer hingegen erwarten, das dargestellt zu sehen, was ihnen angekündigt worden ist; und das Erstaunliche ist: Sie scheinen auch genau dies zu erleben. Zunehmend ergreift das Bühnengeschehen von dem Publikum Besitz; „tiefe, Entsetzen verratende Atemzüge [wurden] hörbar“; jemand „[schlug] seinen Mantelkragen hinauf“ (S. 19). Als dann das Kreuzigungsgeschehen beginnt – in einer Umbaupause hat man inzwischen der Christus-Figur einen anderen Kopf aufgeschraubt – dämmern dem Beobachter allmählich die angestauten Aktionspotentiale: „[A]uf Momente hatte ich die Empfindung, das vor Entrüstung fassungslose Publikum möchte […] irgend Einen […] ergreifen und als ›Verräter‹ halb [tot]schlagen“ (S. 26)... Auch der Budenbesitzer fürchtet nun, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte: „›Ich ersuche das hochverehrliche Publikum im Namen der Direktion keine Schmähungen gegen die weniger beliebten Persönlichkeiten der heiligen Handlung auszustoßen; es ist ja Alles nur von Wachs; es ist ja nur ein Vorgang; das Alles hat ja vor zweitausend Jahren stattgefunden‹“ (S. 31). Als dann ein Kriegsknecht mit seiner Lanze dem Christus in die Seite sticht und sich eine große Menge Theaterblut ergießt, entsteht jener Tumult, den erst Maria Magdalena mit ihrem Ruf unterbricht: „Meine Herrschaften, die Vorstellung ist zu Ende!“

Gerade dieses Ende der Vorstellung wird in Panizzas Text beständig aufgeschrieben. Dieses Ende ist nicht ein Moment, ein bestimmter Zeitpunkt, in dem der Vorhang fällt, sondern dieses Ende wird fortwährend exponiert, in allen komödiantischen Aspekten, die der Text beschreibt, im Zwischenruf des Budenbesitzers, dass „ja Alles nur von Wachs“ sei, und schließlich durch Maria Magdalena, die aus ihrer Rolle fällt. Im Text ist das Ende der Vorstellung die ganze Zeit schon da; nur hat es das Publikum noch nicht bemerkt, es ist nicht bis zu den Zuschauern durchgedrungen. Noch einmal in den Worten des Budenbesitzers: „das Alles hat ja vor zweitausend Jahren stattgefunden“!

Schon der Tod Christi hätte das Ende der Vorstellung bedeuten sollen: das Ende der Aufführung, die der historische Jesus gegeben, aber auch das Ende der Phantasien, in denen er sich ergangen hat. Stattdessen aber dauerten diese Aufführung und diese Phantasien fort. Sie koexistierten neben dem Ende der eigentlichen Vorstellung – mit theatralen Mitteln. Gerade hier situiert sich Panizzas Text: Er exponiert die Theatralität als Medium, um der Vorstellung – im doppelten Sinne von Aufführung und von Phantasie – ein endgültiges Ende zu setzen. Panizzas Text beginnt dort, wo das Medium des Theatralen zu sich selbst gelangt, wo es sich der Darstellungen und Erzählungen, der Charaktere und der Handlung weitgehend entledigt hat, um dem bloßen Auftauchen und Verschwinden von Figuren und Stimmen Raum zu geben. Man kann dies als einen Akt der Häresie begreifen, sofern die Gestalten und Geschichten der Heiligen, wenn sie dem Medium der Theatralität überantwortet sind, notwendig aufs Spiel gesetzt werden. Man kann darin aber auch eine mediale Zäsur erkennen, eine Transformation des Mediums selbst.

Panizza arbeitet an einer medialen Konstellation, die einerseits etwas zeigt und zu sehen gibt, und die andererseits zugleich jede Einbildung, die sich daran knüpfen könnte, relativiert. Dieser Zielsetzung, die in seinem Text Das Wachsfigurenkabinet als Medien-Problem thematisch wird, hat schon in der Schilderung jener seltsamen Prozession auf dem Würzburger Nikolausberg eine ganz bestimmte Schreibweise entsprochen: indem eine hundertfach immer und immer wiederholte kultische Handlung – das Beten des Rosenkranzes von Stufe zu Stufe – so beschrieben worden ist, dass sich keine kohärente Handlung mehr daraus ergibt, keine Narration, und vor allem keine Spur einer Gewohnheit oder Konvention, sondern einzig und allein ein isoliertes Verhalten ohne Sinn. Wie diese Art der Wahrnehmung, die Panizza durch seine Schreibweise zu vermitteln versucht, funktioniert, hat er auf bemerkenswerte Weise selbst benannt: „mein Inneres arbeitete wie ein photographischer Schnellapparat, um alles, was sich mir darbot, aufzunehmen“...[5]

Was ist ein photographischer Schnellapparat? Ich würde sagen: Panizza spricht hier vom Film. Er spricht vom Film, obwohl es ihn noch gar nicht gibt, weil nämlich die ersten Filme 1895, fünf Jahre nach Erscheinen der Erzählung, zu sehen sind. Vorzeitig wird hier, mit den Mitteln der Literatur, eine Systemstelle markiert, die der Film künftig einnehmen wird.

Der frühe Film zeigt ein einmaliges Geschehen: Er gibt genau all das zu sehen, was sich im Moment der Aufnahme ereignet hat, und er führt vor, dass er imstande ist, es als ein Spiel von Helligkeit und Dunkel zu reproduzieren. Es geht im Kino der ersten Jahre um das Ereignis des kinematographischen Apparates selbst, und nicht um zusammenhängende Erzählungen. Insofern zielte das Kino in seinen Anfängen nicht darauf, die Einbildungskraft zu mobilisieren. Daher übernimmt es genau jene mediale Funktion, die bei Panizza mit dem Ende der Vorstellung aussteht. Das Entscheidende am frühen Kino, so argumentiert Thomas Elsaesser, war eigentlich nicht, dass, wie man immer sagt, die Bilder laufen lernten, sondern dass die Zuschauer verlernten, nach dem Sichtbaren zu greifen.[6] Das ist genau das, was das Publikum in Panizzas Wachsfigurenkabinet noch nicht beherrscht, und was ihnen das Kino beibringen wird: nicht nach dem zu greifen, was sie sehen, sondern zu begreifen, dass das Sichtbare ein technisch hervorgebrachter Wirklichkeitseffekt ist. Das „Ende der Vorstellung“ im Sinne Panizzas ist dem Kino auf diese Weise strukturell inhärent. Und mehr noch: Das Kino der Attraktionen,[7] das ebenso wie die Wachsfiguren auf den Jahrmärkten gezeigt wurde, hat den Wachsfigurenkabinetten selbst ein Ende bereitet und sich an deren Stelle gesetzt. Es ist ein Medium der freigesetzten Bilder, das sich auf diese Weise konstituiert. Die Bilder sind herausgelöst aus der Sphäre des Sakralen; sie sind getrennt von kultischen Zusammenhängen und von den Wiederholungen des Rituals; und schließlich fallen sie sogar aus den kohärenten Erzählungen heraus. Die Bilder sind entlassen aus dem kulturellen Gedächtnis: Das ist es, was Panizza mit dem „Ende der Vorstellung“ meint. Dem Beobachter vergeht Hören und Sehen. Er kann nicht mehr glauben und kann sich nicht mehr vorstellen, was er wahrnimmt – und genau diese Lektion hatten auch die frühen Filmzuschauer zu lernen. Das Band zwischen dem, was Bedeutung hat, und dem, was wiederholt wird, wird durchtrennt, indem sich alles wie zum ersten Mal zu sehen gibt. Es ist diese Grundsituation, die in Panizzas Texten verhandelt wird.

 

[1] Roland Barthes: „Der Wirklichkeitseffekt“. In: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Frankfurt/Main 2006, S. 164-172.
[2] Oskar Panizza: „Das Wachsfigurenkabinet“. In: ders.: Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählungen. München 1981, S. 13. Im Folgenden werden Seitenzahlen dieser Ausgabe eingeklammert im Text angegeben.
[3] Oskar Panizza: Der teutsche Michel und der römische Papst. Altes und Neues aus dem Kampfe des Teutschtums gegen römisch-wälsche Überlistung und Bevormundung in 666 Tesen und Zitaten. Leipzig 1894, S. 36-38.
[4] Ebd., S. 38.
[5] Panizza: Der teutsche Michel und der römische Papst, S. 37.
[6] Vgl. Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München 2002, S. 74f.
[7] Vgl. Tom Gunning: „The Cinema of Attraction[s]. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde“. In: Wanda Strauven (Hg.): The Cinema of Attraction Reloaded. Amsterdam 2006, S. 381-388.