Oskar Panizza: Eine Erinnerung der Nachkommin Christine Harder

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Oskar Panizza (c) Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Eine digitale Ringvorlesung mit Begleitprogramm will neue Blicke auf den Schriftsteller ermöglichen, mit der Monacensia im Hildebrandhaus und dem Literaturportal Bayern als Kooperationspartner.

Der folgende Beitrag wird im Kontext dieser von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben als Auftakt von Blogbeiträgen verschiedener Art in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.   

 

Christine Harder:
Oskar Panizza (1853-1921)

I.

Meine Urgroßmutter Mathilde Panizza geb. Speeth (1821-1915) hinterließ uns 2 Bände handgeschriebener Memoiren, die ich von meiner Mutter erbte und inzwischen meinem Neffen Heinrich Walter übergab. Das Literaturarchiv Monacensia in München hat eine Kopie der beiden Bände.

Oskar Panizzas Großvater Andrea Bonaventura Leopold Panizza (1772-1833) stammte aus Italien und ließ sich 1794 in Würzburg nieder. Dessen Sohn Karl (1808-1855) arbeitete sich hoch vom Kellner zum Besitzer des Hotels „Russischer Hof“ in Bad Kissingen. 1844 heiratete er (katholisch) Mathilde Speeth, eine strenggläubige Protestantin. Entgegen der Abmachung der Eheleute verlangte die Kirche, dass alle Kinder katholisch getauft werden sollten.

Das Hotel war hoch verschuldet. Wenn der Gerichtsvollzieher kam, so wurde in der Familie kolportiert, verreiste Karl und überließ seiner Frau die Verhandlungen. 1855 starb er an Typhus und hinterließ seine Frau und 5 Kinder (Maria, Felix, Carl, Oskar, Ida). Zwei Tage vor seinem Tod hatte er seiner Frau zugesichert, sie könne die Kinder in ihrem Glauben erziehen. Dem widersprach der katholische Pfarrer: ihr Mann sei da nicht mehr bei klarem Verstand gewesen. Mathilde P. ließ trotzdem ihre Kinder evangelisch umtaufen. Sie wurde verklagt, und es folgten jahrelange Prozesse („Der Bad Kissinger Konfessionsstreit“), die Mathilde P. durch alle Instanzen verlor. Ihr wurden Gefängnis angedroht und Geldstrafen verhängt, die sie nicht bezahlte. Zeitweise versteckte sie ihre Kinder außerhalb Bayerns bei Verwandten oder schickte sie auf das Knabeninstitut der pietistischen Brüdergemeinde Kornthal (Württemberg). 1859 endlich akzeptierte der bayerische König Maximilian II. die Nichtdurchsetzbarkeit der Gerichtsurteile und entschied, das Privatleben der Familie müsse respektiert werden („Man soll die Frau in Ruhe lassen“).

Mit eiserner Energie und großem Fleiß konnte Mathilde P. das Hotel schuldenfrei machen und ein großes Vermögen erwirtschaften. Da keins ihrer Kinder das Hotel übernehmen wollte, verpachtete sie es später und setzte sich im Alter in München zur Ruhe, wo sie ihre Memoiren schrieb.

Oskar Panizza hat als Kind die Auseinandersetzungen seiner Mutter mit der katholischen Kirche miterlebt; möglicherweise beruht darauf sein Hass gegen die katholische Kirche. Die antikatholische Schrift Der teutsche Michel und der römische Papst widmete er seiner Mutter mit einem Vergil-Zitat: „Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor“ (Aeneis).

II.

Mein Großvater Carl Panizza (1852-1916) hatte einen ähnlichen schulischen Bildungsgang wie sein jüngerer Bruder Oskar. Er verließ die Schule mit dem ‚Einjährigen‘ (=mittlere Reife) und wurde Weinkaufmann. Mit 35 Jahren beschloss er, das Abitur nachzuholen, dann studierte er Jura. So hat er erst mit 43 Jahren geheiratet. Er wurde Referendar und Assessor in Hamburg, dort sind seine vier Töchter geboren (in Groß-Flottbek). Danach wurde er Amtsrichter in Leck / Nordfriesland, später in Kiel.

So kam meine mütterliche Familie von Bayern nach Schleswig-Holstein.

Meine Mutter Mathilde Harder geb. Panizza (1899-1995) erzählte, dass sie als Kind einmal im Bücherschrank ihres Vaters ein Buch fand mit der Widmung ‚Meinem lieben Bruder Carl von Oskar'. Ganz verblüfft habe sie ihren Vater gefragt: „Du hast einen Bruder Oskar?“ Der sei rot geworden: „Darüber spricht man nicht.“ So wurde die Existenz von Oskar Panizza in der Familie unterdrückt, er wurde ‚totgeschwiegen‘.

Wann und wie meine Mutter Näheres über ihren Onkel erfahren hat (der damals ja noch lebte), weiß ich nicht. Mein Großvater starb 1916, ein Jahr nach seiner Mutter.

Meine Mutter hat in den zwanziger Jahren antiquarisch aufgekauft, was sie von Oskar Panizza auftreiben konnte. Damals war er in der literarischen Öffentlichkeit vergessen. Erst nach dem 2. Weltkrieg begann eine zögernde Wiederentdeckung, zunächst in Frankreich. In Deutschland meldete sich 1962 ein Glücksburger Verlag (Petersen Press), der das Liebeskonzil herausbringen wollte. Dann folgte 1964 der Luchterhand-Verlag mit einer Auswahl Das Liebeskonzil und andere Schriften. Meine Mutter wurde die Bevollmächtigte der Erbengemeinschaft. Sie korrespondierte mit dem Herausgeber Hans Prescher und mit dem Autor Michael Bauer über dessen Dissertation Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt (1984). Sie verhandelte mit den Verlagen und verteilte die Honorare an ihre letzte noch lebende Schwester und an ca. 15 Großneffen und Großnichten von Oskar Panizza, die alle in Süddeutschland lebten. Näheren Kontakt hatten wir nur zu Rainer Wirth, einem Nachkommen von Maria Collard geb. Panizza (Oskars Schwester). Ihre Mutter hatte der Tochter in Bad Kissingen bei ihrer Heirat ein Hotel gekauft, „Haus Collard“. Rainer Wirth hat in dem ehemaligen Hotel Eigentumswohnungen und Ferienwohnungen eingerichtet.

1991, 70 Jahre nach Oskars Tod, konnten seine Werke frei veröffentlicht werden. In der DDR endete die Frist nach 50 Jahren, dort war schon ohne unser Wissen ein Auswahlband erschienen.

In ihren Lebenserinnerungen schreibt meine Mutter über Oskar Panizza, ihren Onkel: „Neben schaurigen und unsympathischen Stücken finden sich immer wieder Goldkörner. Wie hätte man diesem unglücklichen Menschen eine solche Ehrenrettung zu Lebzeiten gewünscht.“ (1981)

III.

Persönlich habe ich mich von Jugend an für Literatur interessiert, angeregt durch meine Mutter.

Schon früh las ich die Erzählungen von Oskar Panizza und war fasziniert. Sie haben alle einen ‚doppelten Boden‘; meistens ist es ein Ich-Erzähler, der die Welt anders wahrnimmt als die Realität und den Leser in seine Wahrnehmung mit hineinzieht. Es entsteht eine besondere unheimliche Atmosphäre. Ich fand durchaus Parallelen zu Kafka-Texten.

Ebenso wie meine Mutter bedauerte ich, dass O.P. hauptsächlich als Skandalautor des Theaterstücks Das Liebeskonzil wahrgenommen wurde. Diese geistreiche Satire beruht auf historischen Tatsachen und ist ein heftiger Angriff auf die katholische Kirche. Die blasphemische Darstellung der himmlischen ‚Dreifaltigkeit‘ war eine unerhörte Provokation, besonders im katholischen Bayern. Die Folgen für O.P. sind bekannt.

Die Erzählungen, veröffentlicht in den Sammlungen Dämmerungsstücke (1890) und Visionen (1893) entstanden noch vor dem Drama – offensichtlich wurden sie von dem Skandal überdeckt. Literarisch halte ich sie für bedeutsamer als das provozierende Theaterstück. Sie changieren zwischen Naturalismus und Expressionismus und bringen eine neue Facette in die damalige Literatur Ende des 19. Jahrhunderts.

Es ist das Verdienst des Verlages Matthes & Seitz, dass er 1981 die Gesammelten Erzählungen (Der Korsettenfritz) herausgebracht hat. Auch weitere Panizza-Texte wurden in diesem Verlag veröffentlicht.

Die originelle phonetische Schreibweise Panizzas findet man im 20. Jahrhundert so ähnlich bei Arno Schmidt. Dieser Autor hat sich besonders für vergessene Schriftsteller eingesetzt; Oskar Panizza ist aber nicht dabei. Er ist ein Außenseiter geblieben, nur wenigen Literaturexperten bekannt.

Panizzas persönliches tragisches Schicksal ist bestimmt durch seine psychische Erkrankung, die sich z.T. im Verfolgungswahn äußerte. So verbrachte er die letzten 16 Jahre seines Lebens in einem Sanatorium, nachdem er 1905 durch die Familie entmündigt worden war. Die psychische Krankheit tritt in der Panizza-Familie wiederholt auf; auch zwei Schwestern meiner Mutter waren davon betroffen.

„Ich bin kein Künstler, ich bin Psichopate, und benutze nur hie und da die künstlerische Form, um mich zum Ausdruck zu bringen. Mir ist es durchaus nicht um ein Spiel von Form und Farbe zu tun, oder, daß sich das Publikum amüsirt, oder, daß es gruselt – ich will nur meine Seele offenbaren, dieses jammernde Tier, welches um Hilfe schreit.“ (Notizbuch 1997 S. 101. In: Oskar Panizza: Das Rothe Haus, hg. v. Michael Bauer. edition monacensia, S. 19)