„Alles, was uns jetzt noch bleibt“. Von Jakob Hagen

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/corona/klein/river_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/corona/klein/river_500.jpg?width=500&height=260
Bild von Larisa Koshkina von Pixabay

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wird seit 2019 zwei bis dreimal im Jahr herausgegeben. Einer ihrer Beiträger ist Jakob Hagen. Mit dem folgenden Prosatext beteiligt sich der Autor an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

*

Wie an jedem freien Tag, an dem die Sonne oberhalb des Horizonts verglühte, wand sich Joas über unvorhersehbare Wege durch das Waldgebiet, ließ sich von den Zweigen und den Blätterrändern über die Gesichtshaut streichen und jede Schwere von sich tragen.

Sie führten ihn zu seinem neu entdeckten Tempel, wo er sich zwischen Einsamkeit und Stille in dem zartgewellten Spiegelbild verlor, das das Wasser für ihn hielt. Doch an diesem Tag begab es sich, dass nicht er es war, der seinen Beinen folgte, sondern dass ein Duft ihm stets vorauszufliegen schien. Seine Spur verlor sich, fand sich wieder, zog sich schnaubend durch ihn durch. Was am Ufer auf ihn wartete, wirkte gleichwohl fehlgestellt, wie er es stets empfunden hatte. Er wartete, verblieb in Regungslosigkeit und starrte zu dem Mädchen, das an seiner Stelle stand, die nackten Füße von der Wasserwelt umwogen und mit schräg gelegtem Kopf dem Wald entgegenträumend.

„Schön, nicht wahr?“

Er war an sie herangetreten, sprach sie durch ein Lächeln an, sodass ihr Zusammenzucken, dabei die Hände in der Brust begrabend, nicht lang währte und genau wie jenes Leuchten in der Dunkelheit verloren ging.

„Manchmal geht die Sonne genau hinter dem Baum auf dem Felsen unter und immer häufiger beginnt das Wasser rot zu leuchten.“

Seine Finger verschmolzen mit dem Horizont.

„Es gibt nicht mehr viele Orte wie diesen.“

Sie entzog sich seinem Blick, ging auf in unbeholfenem Strahlen, hatte nicht damit gerechnet, weshalb die ungebetene Gesellschaft sie empfindlich traf.

„Gewiss nicht“, war sein Glockenschlag, der ihrem Atem Freiheit schenkte.

Sie entschloss sich, ihren Namen zu verraten, nachdem zuerst nur Augäpfel, dann Kopfpartien rotierten, Blicke sich verbanden, entflogen, kreuzten.

„Ich bin Raya!“

„Ich, ähm, Joas.“

„J o a s.“

Sie formte jede Letter einzeln, dass Joas' Hals zur Seite kippte.

„Ich frage mich nur … also ... Ich weiß nicht, woher dieser Name stammt. Klingt ungewohnt.“

Unvermittelt drängte sich ihm ein Gedanke auf, schien das Mädchen so vertraut. Er schnitt die Blüten von den Wurzelschlangen.

„Ich kenne meine Eltern kaum. Wir gingen uns mit jedem Tag ein Stückchen mehr verloren.“

„Ich glaube, dass jeder Name eine Bedeutung hat, dass er das Seil ist, das uns durchs Leben leitet.“

Und sie sollte recht behalten.

„A cada cerdo le llega el San Martín.“

Ein Lachen schnitt durch seine Einsamkeit, in die er sich mehr und mehr zurückgezogen hatte.

„Wenn das stimmt, bist du soeben hinter diesem Berg verschwunden.“

Raya füllte einen Teil mit bogenhaftem Schweigen, mit Strähnen, die durch ihre Sicht sich wanden, den anderen Teil mit Feingefühl.

„Du wirkst bedrückt.“

„Und du zu froh für diese Zeit.“

Ertappt.

Lediglich die feuchten Steine schenkten Halt, auf denen er sich niederließ, in Gedanken rastend und auf wundersame Weise nicht bedenkend, in ihren ausgeschürften Höhlen Schutz zu suchen. Sie hatte ihn berührt.

„Ich fürchte, wir erkennen bald, dass wir sie doch brauchen.“

Immer noch verständnisvolle Freude in den Augen.

„Weil wir auf sie angewiesen sind. Wir brauchen ihre Hände, ihre Gedanken, ihre Methoden. Und nichts von dem, was man gerade sehen kann, führt in eine auch nur halbwegs lebenswerte Zukunft. Wir schauen einfach nicht mehr hin.“

Zu viele Dinge von sich preiszugeben glich dem selbstgeknüpften Strick, einer um den Hals geschnürten Plastiktüte.

„Was, wenn nicht?“

Da war der Steinschlag, der sich zur Lawine rollte, der talwärts Joas' Spannung mit sich trug. Raya war ihm keine Fremde.

„Was meinst du ...“

„Sieh mal ...“

Joas schöpfte neue Kraft und sie setzte sich dicht neben ihn, als wäre dies das Wiedersehen einer jahrelangen Freundschaft.

„Manchmal, da fühlt sich Richtiges so falsch an und die falschen Dinge richtig.“

Sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und hüllte ihn in eine Wolke weichen Mädchenduftes. Aller Schmutz schien an ihr abzuperlen, nichts, das haftete auf ihrer Haut. Die Haare ordentlich zurückgesteckt, ihre Nägel glänzend, farblos, leuchtend.

„Was, wenn wir seit Hunderten von Jahren einem Irrlicht folgen? Wenn dieser Weg uns nicht zur Zielgeraden führt? Und die halbe Welt geblendet in der Wüste Kreise läuft? Wird es dann nicht Zeit für eine Umkehr?“

Durch sein Grinsen nahm er die Herausforderung an.

„Nicht zwangsläufig.“

Sie erwiderte, während er sich seiner Worte schämte, dann aber die Hemmungen durchbrach.

„Eigentlich gar nicht. Es gibt nicht viele Möglichkeiten.“

Der Bart kratzte durch die Flächen seiner Hand.

„Der Zweig, dass uns die Wissenschaft zum Narren hält, der ist schon lange welk. Zum einen wäre es dann keine Wissenschaft, zum anderen spricht allein die Existenz von Autos oder Radios dafür, dass wir die Natur so gut durchdrungen haben, um ihre Regeln für uns auszunutzen. Sie könnte sich in Teilaspekten irren. Und das tut sie immer wieder. Doch das Irren und der Zweifel sind in den Prozess, wie wir erkennen, unauflöslich eingebunden. Sie sind wie das Herz zum Menschen, bringen uns voran, verfeinern, wo verfeinert werden muss, zeigen, wo wir nachzubessern haben. Schlicht gesagt ist das der größte Angriffspunkt. Doch wenn man versteht, wozu er dient, dann verschwindet er und wird zur eigentlichen Rüstung.“

Leicht verwundert sah sie Joas an. Viele Fragen auf den Lippen.

„Du meinst, durch Zweifeln lernen wir?“

„Sozusagen. Zweifeln, prüfen, korrigieren und das in Dauerschleife. Nach vielen, vielen Runden ist man bei der Wahrheit angelangt.“

„Wie ist es dann dazu gekommen? Wenn das zwangsläufige Ziel die Wahrheit ist?“

„Der Prozess braucht seine Zeit. Gerade dann, wenn die Entscheidung, die man treffen will, auf einem Feld geschieht, das noch nicht vollständig erschlossen ist.“

„Wir hätten länger warten müssen?“

„Gewiss. Aber Eile war geboten und nur die Hälfte war bereits erfasst. Wenn man auf dieser Basis die Entscheidung fällt, dann ist es nicht verwunderlich, dass die Natur nach ihren eigenen Regeln spielt. Aus jedem Fehltritt kann man lernen, doch die Zeit des Lernens ist vorbei.“

Rayas Haut glich dem wellenlosen Wasser. Ihre Finger auf der Bahre starr zur halben Faust gekrümmt. Über ihr in angestrengten Finsternissen kreisend, Manus tosendes Gestirn, sich zwischen sie und den Beleuchtungsstäben schiebend und vor Joas‘ betender Gebärde seinen weiblichen Messias mit der Dornenkrone zu eben der Prinzessin krönend, die sie für ihn gewesen war. Hinter Joas' Rippen brach das Festgemauerte entzwei. Er streifte sich das Weltbild von der Seele; was in seiner Gegenwart geschah, war für ihn nicht einzuordnen. Dort am Ende stand das Abbild seines Freundes, unfreundlich über sein Heiligtum gebückt, mit einer Dreistigkeit, die es für alle Zeit entweihte.

Joas stand in Abwehrhaltung, geistig eher und sprach kein Wort. Beinahe regungslos glitt er voran und spielte mit dem samtigen Gefühl des weißen Überwurfs, der behutsam über Raya schwebend ihre Körperlinien zeichnete, genauso wie es einst das warme Licht des Horizonts getan. Unvermittelt stand er jetzt im Wasser, schloss die Zehen um den Sand und ließ die schwache Kühle in sich fahren.

Nicht im Traum war er so weit gedrungen, doch er kniff sich einen Schmerz unter die Haut, durchsuchte die Umgebung, fand dort keinen Anhaltspunkt, der ihn erschrecken ließ, was ganz in seinem Sinne war. Raya wollte sich in Freiheit wiegen, hatte ihre Kleidung abgelegt und streifte nun leicht hopsend und mit Händen Wasserwellen zu Tröpfchen aller Größen schlagend durch die Sonnenstrahlen, welche Joas in sich aufzunehmen hoffte. Und wie sie sich zeigte, in dem Kleid, in welchem sie die Welt erblickte, nur in einen hellen Duft gewickelt, ließ er ab von aller Weltlichkeit, die sich in Brocken von ihm löste, hinterließ, wovon er glaubte, dass es sich ihm schon viel früher hätte offenbaren sollen.

Sie war ein Nadelstich durch alle Sinneszellen, wie sie mit gottesgleicher Haut durch ihre Wellen schnitt und mit totgeglaubter Farbenpracht ein Bild erschuf, dessen Zeit unlängst verschollen war. Sie war das Treibholz, an das er sich klammerte, um das er seine Arme schlug, gedanklich nur, worauf er sich zu retten hoffte, welches ihn dahintrug, ihn zurücknahm in die Ferne, die einmal bei ihm gewesen war. Und in einem weichen Übergang sah er sich zurückgestellt, spürte, wie sich seine Haut versteifte, wie eine immerdagewesene Kaltfront durch den Stoff sich wälzte, welche ihm zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder ins Bewusstsein trat. Wie er dort stand und fror, so schien es rhythmisch in ihm aufzublitzen. Die Erleuchtung, die ihn stumm an einem Seil nach vorne zog, durch die eng gespannten Abstandszäune, deren Draht in Joas' Fleisch sich schnitt. Und während er dahinglitt, kondensierten dichte Nebelwolken, die ihn fassten, in deren Schaum er seinen Schmerz in eine angsterfüllte Stille schrie, die nur ab und an gebrochen wurde, von dem Reiben, Stahl auf Stahl, welches aus der Dunkelheit zu kommen schien.

Dann ein Rauschen, eine Klangwand ohne Ursprung, in der er unterging, weder sich noch irgendwas Vertrautes, das sich offenlegte. Nichts, das sich erfahrbar zeigte. Schaum zu Wolken schlagend, um ihn türmend, alles mit sich reißend. Inmitten der Verwirbelungen ein Phantom, das gestaltlos aus den Schwüngen wuchs. Keine Regung in den Knochen, wenn es welche waren, die die Glieder des Geschöpfs beisammenhielten. Doch mit der Zeit schien der Raum, der ihn umgab, in sein starres Kleid zurückzuschreiten.

Nichts von dem, was um ihn schwelgte, war im Stande aufzuzehren, all die Träume, die er zu verjagen suchte, und die Wahrheit, die ihn einzuholen drohte. Die bunten Schlangen legten ihre Farbe ab und reckten ihre Hälse, strebten fremdbestimmt in die ihm auferlegte Ordnung, die von außen auf ihn niederregnete. All die Kurven wurden ihrer selbst beraubt, ausgestreckt und jede gleicher als die nächste an die Wand gestellt, wo sie hingen, nicht zu unterscheiden und auf Joas ihre Stimmen legten, so als würden sie ihn zu sich rufen.

 

Jakob Hagen ist Physiker, Musiker, Fotograf, Schriftsteller und Hörspielproduzent, der sich selbst noch weniger zutraut als allen anderen. Wenn ihm etwas gefällt, dann behält er es für sich. Wenn er dich mag, dann sagt er es dir nicht. „Woher sollen dich die Leute kennen, wenn du ihnen nie etwas von dir erzählst?“ Darauf die Antwort aller Fragen. „Ich weiß es nicht. Aber jemand anders zu sein als man selbst, ist so verdammt schwierig.“

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wurde von den Geschwistern Marco und Florian Bötsch gegründet. Neben dem Aufbau eines breiten Netzwerks an Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum möchte sie insbesondere auch diejenigen ansprechen, die sich im klassischen Literaturbetrieb mit seinen Konventionen und (Sach-)Zwängen nicht wiederfinden. Der Fokus liegt auf Untergrundliteratur, junger Literatur und experimentelleren Formen. Die daraus entstehende Zeitung stellt eine Mischung zwischen langen und kurzen, leichten und schweren Texten, solchen von bereits bekannten Schreibenden sowie Neulingen dar.