„20 km vom AKW entfernt“. Von Florian Bötsch

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/corona/klein/power-plant_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/corona/klein/power-plant_500.jpg?width=500&height=280
Bild von Denny Franzkowiak von Pixabay

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wird seit 2019 zwei bis dreimal im Jahr herausgegeben. Einer ihrer Beiträger ist der aus Würzburg stammende Florian Bötsch. Mit dem folgenden Prosatext beteiligt sich der Autor an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

*

AKW Saporischschja, Raketen fliegen durch die Wolken, 20 Kilometer AKW.

mit Dank an M.B. & A.B.

 

Dem Kühlturm entwachsen die großen Fragen nach cui bono, causation und Dampf- oder Wolkenmaschine. Ich biotoptypkartiere 20 km vom AKW entfernt, vermerke Arten mit großen Herzen kleinerer Köpfe und interpretiere ihr Verhalten als Antwort auf die Umstände mit -999. Dampfwolken am Horizont kumulieren. Trockener Wind peitscht über industriell-genutzte Agrarflächen – ungebremst. Es war ein schöner Wind. Der Auftrag, umfassende Kartierarbeiten und Gespräche zur Dokumentation der Vielfalt und Veränderungen im Naturraum aufzunehmen, ist ein täglicher. Zirkulierend arbeite ich auf verschiedenen Flächen um das AKW und erstatte Bericht. Seit sechs Jahren wende ich ein Triade-Konzept an und berücksichtige neben ökologischen und wirtschaftlichen Parametern auch soziale. Menschen sind in diesem Konzept Teil der Animalia, so Cricetus cricetus equals Homo sapiens sapiens. Grundlegende Auffälligkeiten und Tendenzen in dem bisherigen Projektzeitraum sind die Zunahme von gefährlichem Elektroschamanismus, Zunahme von Sonderkulturen, der Rückgang des Grundwassers, Rückzug verschiedener Arten und gleichbleibend hohe Stickstoff-Belastung des Grundwassers. Werde ich nach meiner Arbeit gefragt, antworte ich „das ist vollkommen unentgeltlich, ich gebe dem Ort, der mich erzog, etwas zurück – in Form der eigenen Medizin“. Ob man mir dafür dankbar sei – war ich es?

Mitten im Sommer, mitten in einer der langfristigen Trockenperioden laufe ich einen Stoppelacker ab. Das geerntete Korn enthält auch in diesem Jahr zu wenig Protein und wird in den Trögen von Vieh und Viechern landen, so erzählte mir der Landwirt. Es läge an der fehlenden Düngung und den Düngeverordnungen des Staates. Mit seinem Traktor stand er schon vor dem Bezirksamt, um ein Zeichen zu setzen. Wo ich konnte, hatte ich Verständnis für ihn und die Einbußen, die miteinzukalkulieren waren. Viehfutterweizen ließe sich für weitaus weniger am Markt verkaufen. Ich dankte ihm dafür, dass er überhaupt noch Weizen anbaut. Es wäre ja wichtig für den Feldhamster als Nahrungsquelle, erhöhe seine Chancen zu Überwintern und fördere das Überleben der Kernpopulation hier im Naturraum. Er lachte, denn er hatte keine andere Wahl. Ich wiederholte meinen Dank und drehte meine Runden den Acker auf und ab, um nach Feldhamsterbauten zu suchen. Er stieg in seinen Traktor und fuhr zurück ins Dorf.

Nur 20 km vom AKW entfernt bin ich aufgewachsen. Verschwörerisch glaubte ich daran der Ursprungsort all des Schlechten würde sich zwischen den Brennelementen befinden. War Mutter krank — AKW, die Kopfschmerzen zu groß für den Schulbesuch — AKW, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Brustkrebs, Darmkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Hautkrebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs, Schilddrüsenkrebs — AKW.

Was das AKW antrieb, die ursprüngliche Schmelze, das trieb auch mich voran: Vater holte uns einmal mehr aus dem Dorf ab, manchmal waren es auch verabredete Treffpunkte gewesen. Warum trafen sie – bald geschiedene Eheleute, Vater und Mutter – an einem klirrkalten Oktobermorgen sich an der Fähre zwischen Wipfeld und Kolitzheim? Kinder wurden auf neutralem Boden übergeben in Hände, denen man nicht mehr vertraute. Manchmal dachte ich daran, wie wir es nicht auf die andere Seite schaffen würden und wer überhaupt der Fährmann war, der Mann, der die Fähre bediente (ich war ja noch sehr klein). Heute weiß ich: Das Mainwasser kühlte das AKW, der Fluss war darin und das AKW im Fluss; wenn es also Tentakeln ausbildete, würde es uns verschonen? Oder würde es uns holen kommen, zu sich ziehen und uns gegeneinander schießen, bis wir mit der Wolkenmaschine in die Atmosphäre stiegen (mittlerweile bin ich schon ganz jugendlich)? Im Gegensatz zu meinem großen Bruder war ich kein Ministrant in unserem Dorf, mir fehlte diese Leichtgläubigkeit gegenüber ausgetrockneten Familienfrauen und deren Abkömmlingen, die er besten Freund nannte – und doch quittierte mein Blick, als wir, überirdisch, rechts des Kraftwerks Richtung Schweinfurt passierten, seine Architektur mit ein wenig fantastischer Heiligkeit.

Die zahlreichen Umzüge unseres Vaters boten Annäherungen und sich wiederaufbauende Distanzen zum AKW. Was blieb, ist das Panorama; auf den wöchentlichen Fahrten zu Amateur-Fußballplätzen des Kreises und vor Ort, wo kehliges Geschrei nur selten verhalf, die Ungerechtigkeiten des kleinen Mannes wieder gerade zu biegen. Und trotzdem, unser Vater schrie mit, er empfand es als lustig. In einem prüfenden Sinne, doch sehen zu können, dass seine Worte nicht wie wochentags in einer Fabrikhalle antwortlos verhallen, sondern scheinbar das aktive Geschehen beeinflussen. Schrie er, sah er uns kurz danach an und lachte, wir lachten mit, wenn wir gerade mal neben ihm standen und nicht auf dem Nebenplatz selbst bolzen waren.

Meine Finger reiben sich an dem losen Weizenkorn, welches zwischen ihnen eingezwängt ist; ich mache den Feldtest und führe es zwischen meine Lippen den Zähnen zu, welche mahlen. Anschließend gibt es das, was meine Brotzeitdose zutage bringt. Nicht schlecht, das eine wie das andere, und während ich auf diesem Brocken am Rande des Feldes sitze und die agromlerate Prärie übersehe, beinahe auf das Haus eines Freundes, sage ich mir: schö wenn’s schö is. In der Kindheit seines Vaters waren die Hamster noch so zahlreich gewesen, dass man sich ein Taschengeld verdienen konnte, so viele als möglich zu erschlagen und ihnen das Fell abzuziehen. Ungeziefer, so hatte er sie einmal im Gespräch mit uns genannt, war dann jedoch schnell dazu gekommen zu sagen, wir würden am Ende die Zeche zahlen müssen. Was mich an meinen eigenen Vater denken lässt, gleichzeitig an die Grenzen der Population, die Grenzen der Kartierbarkeit, die Grenzen des Feldes. Und ob es etwas ändern würde, wenn man all die Hamster in ihren unterirdischen Kornkammern ins Internet der Tiere The Catalogue of Life einspeisen würde, um per Animal Tracker jede ihrer Bewegungen einsehen zu können. Vielleicht würde man erstaunt herausfinden, dass Hamster atypisch sich verhalten zum gesicherten Stand der Wissenschaft, und ebenso reisen wie eigenwillige Amseln, die – statt fügig Spanien anzusteuern ohne Rast – nurmehr Südfrankreich und zurück machen. Zuletzt seufze ich doch, und schelte mich innerlich; weil ich mich frage, wenn ich die Wahl hätte, ob es besser sei, die Zeche am Ende nicht zahlen zu müssen und stattdessen Hamster zu erschlagen. Ich schüttle den Kopf: da ist es besser, mehr an Vater zu denken. Er steht vor einem AKW. Unglaublich gern ist er hier. Hier, wo er in kalten Nächten aus seinem Auto den Fremdenverkehr auf der Hauptstraße beobachtet und im Dunkeln des verglimmenden Scheinwerferlichts wartet. Und wenn das eine bekannte Auto kommt, dann steigt er aus. Dann will er wieder nach Hause und sehen wie sein zu Hause, unter Tentakeln begraben, fremd wird. Und wenn der nächste Umzug ansteht, dann bleibt das AKW so wie Fremdes fremd bleibt.

 

Florian Bötsch wurde 1998 in Würzburg geboren. Studium der Geografie und Biologie in Würzburg und Frankfurt. Er ist Co-Geschäftsführer im Verlag Rotscheibe, Co-Herausgeber der Kollektiven Literaturzeitschrift Würzburg und schreibt Kritik, Lyrik und Erzählungen.

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wurde von den Geschwistern Marco und Florian Bötsch gegründet. Neben dem Aufbau eines breiten Netzwerks an Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum möchte sie insbesondere auch diejenigen ansprechen, die sich im klassischen Literaturbetrieb mit seinen Konventionen und (Sach-)Zwängen nicht wiederfinden. Der Fokus liegt auf Untergrundliteratur, junger Literatur und experimentelleren Formen. Die daraus entstehende Zeitung stellt eine Mischung zwischen langen und kurzen, leichten und schweren Texten, solchen von bereits bekannten Schreibenden sowie Neulingen dar.