„Minikäse“. Von Sebastian Schmidt

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Bild von Raka C. von Pixabay

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wird seit 2019 zwei bis dreimal im Jahr herausgegeben. Einer ihrer Beiträger ist der in Würzburg lebende Sebastian Schmidt. Mit dem folgenden Prosatext beteiligt sich der Autor an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

*

Aber wahrscheinlich will Vilma gar nicht lachen. Sie tut es trotzdem. Gluckst in sich hinein, saugt dabei wie immer einen Teil ihrer Gesichtshaare in das breite Mäulchen, immer von links, eigentlich komisch, immer von links.

Vilma pfeift, sie lacht. Wir stehen am Strand, da, wo der Fluss kommt, und versuchen unfassbar viel Müll einzusammeln.

Was ist los?, frage ich Vilma. Warum kicherst du? Du weißt, dass das gemein ist, zu lachen und anderen nichts zu sagen… .

 

Aber Vilma lacht umso mehr, jetzt lacht sie dreckig, während sich ein abgewetztes Stück meiner Sohle von den alten Galoschen löst und in die kleinen Wellen verloren geht.

Ich hatte bereits damit gerechnet.

Vilma wirft ihren Kopf zurück und ihren sehr breiten Mund in die Luft, ihre Augenpartien in die fast fettige Sonne. Sie besitzt ein sonderbares, ein seltenes Fell, hat mir Mutter damals erklärt, als ich ein Kind war.

Vilma und ich sind befreundet, seit ich denken kann. Wir waren eine sehr lange Zeit Nachbarn. Spielten zusammen im Tipi bei uns im Garten oder bei Vilma auf dem Kletterbaum, dem Spielplatz oder am Strand. Ich zählte fünf Möwen, die über dem kleinen Abschnitt, über dem Müll kreisten. Wir konnten alle nichts Brauchbares darin finden. Vilma hatte keine Lust mehr. Mit ihrer rechten Pfote tippte sie noch einmal zaghaft an das gefundene Papier eines Melonen-Lollis.

 

Mutter rief mich vor fünf Tagen an und sagte, sie bräuchte meine Hilfe. Die Stadt bräuchte meine Hilfe.

Was soll das Mama?, hatte ich gefragt. Was soll denn das heißen, ‘die Stadt braucht meine Hilfe’?

Nicht eigentlich die Stadt, das Wasser, wollte ich sagen, sagte Mutter.

Aha, Mama, das ist das gleiche, sagte ich. Das macht gleich wenig Sinn.

Macht es nicht, sagte meine Mutter. Viele Menschen helfen mit am Wasser im Moment. Komm doch einfach her.

 

Alles andere hatte ich auf der Homepage unserer kleinen Stadt gelesen.

Alle Vermutungen mit den Containern, mit den bösen Banden, die über das Wasser gekommen wären, um die Gegend zuzumüllen, mit dem versunkenen Schiff, das sich plötzlich am Grund aufgelöst hatte und eine unbekannte Menge Müll freigesetzt haben soll.

So ein Quatsch, dachte ich. In unserer Gegend war noch nie ein Schiff gesunken, schon gar nicht mit Nusswaffeln und kleinen Salamis an Bord. Das ist Bullshit.

 

Unsere kleine Stadt hängt jedes Jahr eine Aidsschleife in die Weinhänge und beleuchtet sie. Menschen votieren für eine Klimaanlage in der Straßenbahn. Man sagt hier keff statt kaufen.

In so einer Stadt sind wir aufgewachsen, haben Vilma und ich uns verspielt. Wir hatten gemeinsame Freunde, am Anfang jedenfalls noch. Dann wurde ich älter, meine Welt wurde cool. Ich wollte Vilma nicht dabeihaben, wenn ich mit den anderen am Strand lag, vor allem, wenn Mädchen dabei waren.

Vilma nahm mir das übel, eine ganze Weile schaute sie in den blauen Himmel, jedes Mal, wenn wir uns begegneten. Ich besuchte sie trotzdem noch regelmäßig mit einer mir unangenehmen Heimlichkeit. Nur mit ihr ausgehen, das machte ich nicht mehr so oft, weniger.

 

Nur so, sagt Vilma. Man wird doch noch lachen dürfen. Du bist so ein Idiot, Daniel, manchmal.

Verrat mir, weshalb du lachst, sonst … .

Vilma und ich verstehen uns schneller als andere Menschen und sie wird ernst. Ich bücke mich, um den nassen Sand in die Hand zu nehmen. Vilma quiekt und rennt ihren weißen Pfötchen ungeschickt davon, sie ruft um Hilfe aber alle kennen sie und lachen. Ich habe seit dem Sieg über die seltene Krankheit nicht mehr geweint.

 

Viel gibt es davon nicht, vom Sand, nur einen kleinen Fleck. Unser Strand besteht eigentlich aus Gras.

Jetzt besteht er überwiegend aus Plastik.

Heute erst traf ich mich mit Vilma hier, zusammen mit erstaunlich vielen Helfer*innen. Immer wieder kommt neues Plastik. Jeden Morgen sieht der Strand aus, als hätte jemand lasterweise Müll abgeladen, seit drei Tagen diese Scheiße, sagt meine Mutter.

Aber der Müll kommt aus dem Wasser, behauptet Vilma, wird jede Nacht hier angeschwemmt. Es handelt sich ausschließlich um Verpackungsmüll. Minikäse, Käsesticks, Schokoriegel, Chips und Flips.

Vilma liebte diese Dinge früher mal, ich liebe sie noch immer, aber heimlich. Wir haben uns beide darauf geeinigt, sie nicht mehr zu essen. Der Verpackung und dem Palmöl wegen und unserem Hang zum Körperfett. Wir haben zusammen ferngesehen, als eine Sendung über die Abholzung Borneos kam. Über die Äffchen. Dann über das Mikroplastik von den vielen Verpackungen, vor allem in den Gewässern.

Uns liefen Tränen.

Ab und zu mache ich eine Ausnahme, von der Vilma nichts weiß. Würde sie das rauskriegen, wäre sie sauer. Besser nicht. Vilma hat einen Onkel, der ist Zauberer, ich fürchte mich ernsthaft vor diesem Menschen. Wenn wir uns streiten droht sie mir mit ihm.

 

Dass wir uns nach langer Zeit am Strand wieder treffen, ist nur richtig. Wir waren so oft hier gewesen, hatten geredet und gesoffen. Ich hatte sie schon während des Studiums weniger besucht. Der weite Weg von der Stadt im anderen Land bis hierher.

 

Ich fing an mich zu langweilen dort oben, ich wurde krank, das Wetter war fast immer sehr schlecht.

Mutter und ich telefonierten in dieser Zeit fast täglich:

Daniel, wie geht’s?

Ich antwortete immer das Gleiche. Die Antworten von Kindern in der Ferne. Immer rief Mutter an, wenn die Arbeit wieder weg war.

Sie sagte: Uns geht’s gut, mach dir keine Sorgen. Entropie und Hitze, seit Wochen das Gleiche.

Dann wurde ich wieder gesund, machte einen Abschluss. Und Mutter sagte, auch die Entropie sei weg. Vilma sagte eines Tages am Strand, ich stieg ins Wasser, als wolle ich über einen Zaun steigen, als wir uns wieder trafen.

 

Vilma und ich hatten uns in den zehn Jahren, seit denen ich weg war, nur wenige Male gesehen. Das letzte Mal bei einer Geburtstagsfeier unserer Nachbarin, Vilmas Mutter, vor zehn Monaten. Vilma und ich betranken uns bis in die Puppen. Vilmas Mutter hatte das eigentlich streng verboten, wegen dem Herzen. Aber Vilma war das egal. Wir hatten das oft und lange diskutiert, bevor ich aufgab.

Vilma zog mich an der Hand hinter sich her an den Strand. Sie hatte einen sehr kleinen Rucksack auf. Nur ich wusste gleich, was drin war. Wobei, eigentlich hätte das jeder wissen müssen, der Form wegen. Man schenkte uns auf solchen Festen einfach wenig Beachtung, sagte immer nur Sätze wie: hach ja, die beiden, oder: schön, dass es Daniel endlich besser geht.

Vilma und ich haben uns lange unterhalten und ins Wasser gespuckt. Wir haben Fische raten gespielt, obwohl man kaum etwas sah. Vilma konnte fantastisch Schneidersitz machen und dann stundenlang so verharren. Sie zog ihre Flasche Vodka aus dem Rucksack, schenkte ein. Vilma ließ immer erst eine Weile verstreichen, bis sie anfing mit mir zu trinken. Alles hatte den Anschein großer Feierlichkeit, Vilma schaute immer ernst. Ich erinnere mich noch daran, wie wir anstoßen wollten, sich aber eines von Vilmas langen Haaren aus dem Gesicht gelöst hatte und quer rüber auf unseren beiden Schnapsgläsern gelandet war. Vilma nahm es weg und warf es sehr genervt ins Wasser. Sie schüttelte dabei mehrmals den Kopf, fluchte vor sich hin.

Ich hatte Vilma erst an diesem Treffen vor zehn Monaten wirklich von der Krankheit damals erzählt, und dass sie nun vorbei sei. Dass ich sie also wieder öfter besuchen könne in der nächsten Zeit.

Das ist total schön, hatte Vilma gesagt und charmant gezwinkert.

Ja, Vilma, ich finde es auch schön.

Kommst du dann wenigstens für länger wieder her?, wollte sie wissen. Und bring doch mal irgendwas Cooles mit von da oben. Schnaps oder sowas. Ein gutes Streu. Vilma lachte.

 

 

In der zweiten Nacht hatte die WaPo angefangen verstärkt zu patrouillieren. Aber es waren nur wenige Boote und sie fanden gar nichts, was die Herkunft des Plastikmülls hätte erklären können.

 

Es gelingt nicht, das Wasser am Tag meiner Ankunft komplett zu reinigen. Es schwimmen noch Stückchen von Verpackungen im Wasser, man kann noch Firmennamen von Riegeln oder einer Trinkpackung erkennen. Wo der Müll herkommt, bleibt unklar. Aber es wird besser, findet auch Vilma.

Ich bleibe nur wenige Tage, dann fahre ich wieder. Viele Menschen sind hergekommen, um zu helfen. Söhne und Töchter, Enkel*innen, Großeltern. Ich verabschiede mich lange von Vilma. Sie weint schwere Katzentränen. Vilma lacht heiser, sie klingt eher verschnupft. Wie oft in solchen Situationen wirft sie ihren Kopf nach hinten und sagt: Ach du.

Vilma winkt mit einer Pfote ab als verscheuche sie Fliegen. 

Keine Ahnung, Daniel, irgendwas von da oben halt. Bring mir eine Mütze, ein T-Shirt mit Namen drauf mit.

Ich weiß noch nicht, wie lange ich das nächste Mal bleiben werde, sage ich.

Es ist sehr früh am Morgen, so früh, dass noch überall Nebel steht.

 

Es dauert nicht lange, da klingelt das Telefon. Ich bin erst wenige Stunden unterwegs, sitze noch im Zug. Meine Mutter sagt, ich solle umkehren, es sei wichtig. Der Müll sei zurück. Diesmal richtig.

 

Und Vilma weint nicht aus Freude, weil ich zurückgekommen war, sondern weil sie Ärger mit ihrer Mutter hat. Wegen der vielen Verpackungen, die man unter ihrem Bett fand. Sobald ich zurück war, kommt sie zu uns rüber und ich merke gleich, dass etwas nicht stimmt. Ich sehe das an Vilmas Art, ihren Kopf zu halten. Vilma springt an mir hoch, erst aufs Knie, dann am Bauch entlang und schmeißt sich in meine Arme und ich mache die Zimmertür zu. Was los sei, will ich wissen, und wische ihr ein paar Klümpchen aus dem Gesicht.

Es sind Verpackungen von Schokoriegeln und Trinkpäckchen, von Minikäse und Fertigsalaten, zwei Säcke voll. Vilma hat so viele Säcke davon unter ihrem Bett versteckt, gehortet, so viele.

 

Sebastian Schmidt. Geboren 1983, aufgewachsen in und um Heidelberg. Studium Geografie und Anglistik in Deutschland und Großbritannien. Prosa, Lyrik und Essays erschienen in Zeitschriften, Anthologien und online. Sebastian Schmidt rezensiert Bücher für die Wiener Zeitschrift TAGEBUCH und ist Mitglied der Gruppe Other-Writers, die sich mit dem Thema Care-Arbeit und Schreiben im Literaturbetrieb auseinandersetzt. 2021/22 erhielt er das Stipendium „Junge Kunst und neue Wege” des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. 2022 erschienen seine Erzählung Alle Instrumente im Berliner Verlag VHV, sowie sein Lyrikdebut so stelle ich mir den gesang von erst kürzlich mutierten finken vor im Verlag parasitenpresse (Köln). Für Gedichte daraus wurde er u.a. mit Yevgeniy Breyger und Mara-Daria Cojocaru für den Dresdner Lyrikpreis 2022 nominiert. 2023 erscheinen Kurzessays des Autors zum Thema Elternschaft und Autorenschaft in der Anthologie Other Writers Need to Concentrate im Verlag SuKuLTuR, Berlin/Hamburg. Sebastian Schmidts Texte wurden bislang ins Tschechische, Französische und Englische übersetzt. Der Autor lebt in Würzburg.

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wurde von den Geschwistern Marco und Florian Bötsch gegründet. Neben dem Aufbau eines breiten Netzwerks an Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum möchte sie insbesondere auch diejenigen ansprechen, die sich im klassischen Literaturbetrieb mit seinen Konventionen und (Sach-)Zwängen nicht wiederfinden. Der Fokus liegt auf Untergrundliteratur, junger Literatur und experimentelleren Formen. Die daraus entstehende Zeitung stellt eine Mischung zwischen langen und kurzen, leichten und schweren Texten, solchen von bereits bekannten Schreibenden sowie Neulingen dar.