Valentina. Ein Blog von Sara Gómez Schüller (5)

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2023/klein/ValeBlog_5_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/autorblog/2023/klein/ValeBlog_5_500.jpg?width=500&height=325
Alle Bilder (c) Sara Gómez Schüller

In dem 9-teiligen Blog nimmt die Autorin Sara Gómez Schüller die Leser mit auf eine Entstehungsreise dieses Textes, der zwischen Deutschland und Chile angesiedelt ist. Es handelt sich dabei um den zweiten Teil ihrer Erzählung Valentina. Er ist autobiographisch grundiert, inspiriert von Sara Gómez Schüllers chilenischer Familie, und fokussiert sich auf die Ich-Erzählerin Magdalena, die als Tochter eines chilenischen Exilanten in Deutschland ein Zwitter-Dasein zwischen beiden Ländern führt. Ihre Nichte Valentina, die unter chaotischen familiären Bedingungen aufwächst, stellt ihren Gegenpart dar und ist zugleich Magdalenas Kompass, an dem diese sich orientiert. Seit dem ersten Teil der Erzählung, der zur Zeit von Valentinas Pubertät spielt, sind inzwischen zehn Jahre vergangen. Valentina ist in ihren Zwanzigern und studiert. Magdalena, die Ich-Erzählerin, reist zum Weihnachtsfest der Familie nach Chile. 

Dies ist der fünfte Teil des Blogs in Form eines Werkstattberichts. Mit ihrem Blog beteiligt sich Sara Gómez Schüller an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

*

Über See

Die politischen Ereignisse in Chile machen sicher die eine Hälfte der Triebfedern aus, die dazu führen, dass ich den zweiten Teil einer fertig geglaubten Erzählung schreiben will. Zu unglaublich das Pendel, das da ausschlägt. Unbegreiflich und zum Haare raufen, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem sich der Militärputsch zum fünfzigsten Mal jährt, der rechtsextreme Politiker und Abkömmling einer Nazifamilie, Kast, beste Chancen aufs Präsidentenamt bekommt. 

Mein Vater und ich starrten im September vergangenen Jahres ungläubig auf das Ergebnis. Er hatte sich eine knappe Schlappe ausgerechnet, ich wollte an nichts anderes glauben, als dass die Menschen nach der neuen Verfassung greifen werden, die so viel möglich machen wollte und vermutlich auch einiges gekonnt hätte. 

Heute, ein dreiviertel Jahr nach der Schlappe, starre ich immer noch ungläubig auf die Nachrichten aus Chile und frage mich, welcher Regisseur diesen geschmacklosen Film gedreht hat. 

Schnell wechsle ich dann, wenn die Enttäuschung zu sehr an mir nagt, auf die Insta-Accounts der diversen chilenischen Kreativen – jener Menschen, die mein Herz füllen und bei denen ich mir sicher sein kann, dass sie für APRUEBO gestimmt hätten, würden sie noch leben, oder gestimmt haben. Nicht selten sind sie selbst Kinder exilierter Chilenxs, etwa die Rapperin Ana Tijoux, die gerade einen neuen Song namens ninx rausgebracht hat – queere Wokeness à la chilena, die in keinster Weise sonstigem sozialen und politischen Engagement im Wege steht. Ganz im Gegenteil – man trifft Ana Tijoux überall dort an, wo Missstände in Chile und andernorts angeprangert werden. 

Und dann begegnen mir Chiles Kinder auch in München: Ein verregneter Sommerabend, ein Musikevent in einer Zwischennutzung, Menschen, die sich unter Bäumen und Vordächern zusammendrängen und dazwischen klingt dieser so vertraute Zungenschlag an mein Ohr. Also drehe ich mich um und frage die beiden: „Son chilenxs“? Und siehe da: Ein Kontrabassist, der aktuell ein Stipendium der Villa Waldberta hat und seine Nichte, die ein einjähriges Visum für Dänemark hat. Beide sind sie aus Valparaíso, jener Hafenstadt, die seit Generationen insbesondere Musikerinnen und Musiker an Land spült und Touristenhorden durch seine verlotterte Schönheit schickt. Sie, die gelernte Informatikerin, verdient in Kopenhagen – lavando platos/tellerspülend – deutlich mehr als in Chile, so dass sich der Aufenthalt für sie so oder so lohnt. Es zwickt in meinem Herzen: Ja, Europa mit seinen Sicherheiten und seinen Strukturen. El viejo continente. Aber dann wieder: Diese Engstirnigkeit, diese Vorhersehbarkeit, dieses traumlose Dasein. 

Der Zwiespalt in der Autorin wird an verschiedene Figuren weitervererbt; insbesondere an Magdalena, die von einer gänzlich anderen Hafenstadt kommend ebenfalls von Valparaíso angezogen wird. Einem Ort, an dem sie sich im Laufe des Textes vorstellen kann, zu bleiben und damit mein Parallelleben leben würde. Valparaíso, von den Einheimischen liebevoll Valpo genannt, wurde auf rund 42 Hügeln errichtet und gilt nach wie vor als wichtigster Hafen Chiles. Nerudas Haus, La Sebastiana, thront über ihm und zieht großäugige Besucherinnen und Besucher an, mich eingeschlossen, die über des Dichters Sammelwut staunen. Weder Bücher noch Schneckenhäuser waren vor ihm sicher.

Frauen offensichtlich auch nicht. So schildert er in seinen Memoiren eine Szene, die sich während seiner Zeit in Südostasien mit einer dortigen Hausangestellten ereignet hat und die wir heute als Vergewaltigung, mindestens aber als Nötigung bezeichnen müssen. Meine Verehrung für den Dichter hat schon vor Jahren Risse bekommen, denn als Frau, Autorin und Feministin komme ich nicht umhin, auch die weiblichen Gegenüber der Stars aus jenen Jahren, sei es Neruda, sei es Picasso, mitzudenken.

Im Text soll Magdalena, die für ein führendes feministisches Magazin in Hamburg arbeitet, soweit gehen, dass sie schlicht nichts von Neruda gelesen und sein Werk bis dato ignoriert hat – dann aber in Chile über mehrere Kulturveranstaltungen, die sie erlebt, mit den Worten in Berührung kommen, die sie, nicht-wissend von wem sie stammen, zum ersten Mal aufsaugen und feiern wird. 

Sogenannte Cancel Culture vs. In-Bezug-Setzen, feministische (Re-)Lektüre, Framing – all dies Aspekte, die im Text eine Rolle spielen werden.