Valentina. Ein Blog von Sara Gómez Schüller (2)

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Alle Bilder (c) Sara Goméz Schüller

In dem 9-teiligen Blog nimmt die Autorin Sara Gómez Schüller die Leser mit auf eine Entstehungsreise dieses Textes, der zwischen Deutschland und Chile angesiedelt ist. Es handelt sich dabei um den zweiten Teil ihrer Erzählung Valentina. Er ist autobiographisch grundiert, inspiriert von Sara Gómez Schüllers chilenischer Familie, und fokussiert sich auf die Ich-Erzählerin Magdalena, die als Tochter eines chilenischen Exilanten in Deutschland ein Zwitter-Dasein zwischen beiden Ländern führt. Ihre Nichte Valentina, die unter chaotischen familiären Bedingungen aufwächst, stellt ihren Gegenpart dar und ist zugleich Magdalenas Kompass, an dem diese sich orientiert. Seit dem ersten Teil der Erzählung, der zur Zeit von Valentinas Pubertät spielt, sind inzwischen zehn Jahre vergangen. Valentina ist in ihren Zwanzigern und studiert. Magdalena, die Ich-Erzählerin, reist zum Weihnachtsfest der Familie nach Chile.

Dies ist der zweite Teil des Blogs in Form eines Werkstattberichts. Mit ihrem Blog beteiligt sich Sara Gómez Schüller an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Millennials und Revolte

Mit manchen meiner Figuren habe ich vorweggenommen, was später eine Rolle in meinem eigenen Leben oder Schaffen gespielt hat. Mit anderen kann ich zurückliegende Prozesse durchspielen und wieder andere sind mir so fremd, dass es mich Jahre kostet, ihrer Geschichte auf die Schliche zu kommen. 

Magdalena wird in dieser (Fortsetzungs-)Erzählung jemand an einem Scheidepunkt sein: Sie versucht, eine Art „ordentliche Existenz“ in Deutschland zu führen und nicht so ein Zwitterwesen wie ihr Vater zu sein, der nie ganz heimisch in Deutschland geworden ist, aber auch nicht mehr zurück nach Chile gehen kann.

Allerdings muss sie feststellen, dass, obwohl sie scheinbar ein ganz anders Leben als ihr Vater führt, sich auch an sie Konflikte der Vatergeneration vererbt haben. Darunter fallen ihre Beziehungsschwierigkeiten, ihre Ausbruchsphantasien, ihre psychische Verfasstheit, ihr Hang zu Süchten etc. Und je mehr sie sich dagegen wehrt, wie ihr Vater zu werden, desto größer ist nun der Schrecken über die letztlich auffälligen Parallelen. Annehmen und Aufatmen kommen erst langsam im Laufe der Geschichte. 

Valentina hingegen wird eine Millennial-Repräsentantin à la chilena: einer Kombination aus politischer Wokeness, dem Hang zum ständigen Gegenchecken auf dem Handy und einer Verschmelzung mit den ganz reellen Geschehnissen und Herausforderungen Chiles. Insbesondere seit Millionen Menschen, vor allen Dingen Valentinas Generation, vor dreieinhalb Jahren auf die Straße gegangen sind und der estallido social alles hinweggefegt hat (um dann in einem negativen Entscheid über eine der „wokesten“ Verfassungen weltweit zu münden).

Die Pandemie, die sie mit voller Wucht am Ende ihres Studiums getroffen hat, verschärft ihre Angststörung. – In meiner Vorstellung bringt ihr dieser Rückzug letztlich die Welt aber näher, da sie beginnt, sich intensiv mit den Themen Angststörungen und soziale Phobien zu beschäftigen. Sie schreibt darüber auch ihre Abschlussarbeit, die sie mit wichtigen Psychologinnen und Psychologen Chiles in Kontakt bringt; verschafft sich ihren ersten Job und auch mit Magdalena ist sie gegen Ende der Erzählung auf neue Weise „connected".

Mit wem ich auch spreche, es ist den chilenas anzumerken, dass sie müde sind. Und enttäuscht. Je öfter ich mit Menschen in meiner Familie und außerhalb spreche, desto mehr breitet sich diese Enttäuschung vor mir aus. Mehrfach höre ich sie so oder so ähnlich sprechen: „Ich will nichts mehr von meinem eigenen Land wissen“ und „Dass der rechazo gewinnt okay, aber so?! Mit so viel Vorsprung?!“

Als am Abend des 4. September 2022 klar wird, dass 62% der Abstimmenden gegen die neue Verfassung gestimmt haben, sei das nicht nur ein Schock, es sei ein Faustschlag gewesen, erklärt mir meine airbnb-Gastgeberin Marisol an einem unserer ausführlichen Gesprächsabende. Chile ist zutiefst zwiegespalten und dass obwohl so viele Menschen 2019 den estallido social unterstützten, obwohl Millionen Menschen landesweit auf die Straße gegangen waren und sich obendrein eine überwältigende Mehrheit für eine verfassungsgebende Versammlung ausgesprochen hatte. 

Aber es wurde mit verschiedenen Maßen gemessen: Meine Nichte erklärt mir, dass während die Abstimmungen zum Präsidenten und über die neue Verfassung noch nicht verpflichtend waren, die Pflichtwahl just zur Abstimmung über die neue Verfassung wiedereingeführt wurde. Da wundern sich einige und andere führen es klar auf Kalkül zurück: dass das schweigende Drittel (oder mehr), das sonst nicht wählen gegangen ist, konservativ eingestellt bzw. nicht gut informiert ist und daher lieber konservativ wählt.

„Ich bin auch für einen plurinationalen Staat, aber viele wussten überhaupt nicht, was das bedeutet“, erklärt mir die Journalistin Sophia Boddenberg bei einem gemeinsamen Kaffee auf ihrer Terrasse in Santiago in unmittelbarer Nähe zum Wohnhaus von Präsident Boric, der sich in diesem einfachen und traditionellen Viertel Santiagos einquartiert hat und schon mal mit dem Rad zur Arbeit fährt.

Das gab es vorher nicht. 

In Deutschland weigere ich mich mit Menschen befreundet zu sein, die rechtskonservative Einstellungen haben, in Chile ist es anders: Meine eine Kusine ist eine meiner wichtigsten Kontaktpersonen und Freundinnen. Sie ist extrem zuverlässig, besorgt, interessiert, hilfsbereit. Sie hat Lust mit mir Ausflüge zu unternehmen oder einfach am Pool ihrer Eltern abzuhängen. Sie bezeichnet sich nicht als Feministin, aber weiß besser als ihr Mann, wie man das Auto repariert. Sie ist viel gereist und hat mich als einzige der Familie mehrmals in Deutschland besucht. Und sie hat als einzige der Familie gegen den Verfassungsvorschlag gestimmt und ich schätze, sie wählt auch sonst rechts meiner Komfortzone. 

Das ist mir unangenehm und unverständlich einerseits und andererseits fühle ich, dass meine eigene, in Chile zum Zug kommende, aus der Not geborene, Flexibilität viel menschlicher und zugewandter ist als in Deutschland. Dass nicht nur die Begegnungen unvorhersehbare Schätze offenbaren, sondern auch ich selbst, indem ich Erwartungen, die ich an mich habe, sprenge. Und das gefällt mir. 

Wie zeichne ich eine Figur wie sie? Der Ton müsste liebevoll und skeptisch zugleich sein; ihre Verschiedenheit, ihre Differenz zur Ich-Erzählerin (und zu mir als Autorin) markieren und sie dennoch nicht ausstellen.