Zehn gute Gepräche. Von Alexandra Stahl

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© Dr. Vera Schneider

Alexandra Stahl (* 1986 im Main-Tauber-Kreis) wuchs in Unterfranken auf und studierte Amerikanistik, Englische Literaturwissenschaft und Geschichte an der Universität Würzburg. Seit 2020 ist sie freie Autorin, lebt in Berlin und schreibt Prosa, Reisereportagen und Essays. 2021 war Stahl Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, im gleichen Jahr erschien auch ihr Debütroman Männer ohne Möbel beim Jung und Jung Verlag. Für ihr zweites Buch Wenn, dann trifft es uns beide (2022) erhielt sie ein Literaturstipendium des Berliner Senats. 

Mit der folgenden unveröffentlichten Erzählung beteiligt sich Alexandra Stahl an der Fortsetzung von „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.

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ZEHN GUTE GESPRÄCHE

 

In meinem Leben hab ich vielleicht zehn gute Gespräche geführt, ein paar mit Bianca, ein paar mit meinem Bruder. Mein Bruder hört Phil Collins, hat aber immer Recht.
Aber Em, das wird dein Ende!, sagte er.
Wieso?, fragte ich.
Weil diese Bar dein Ende wird!, sagte er.
Wieso?, fragte ich.
Mein Bruder heißt Tom, und ich habe eine Bar.

Mein Nachbar heißt auch Tom, aber mit h, also Thom. Thom kommt aus Kiel und trinkt nur Apfelsaft. Thom kam mit seinem selbst gemachten Apfelsaft in meine Bar und fragte mich:
Seid ihr Arm in Arm aufgewacht?
Nein.
Wiedersehen?
Samstag.
Das Kind?
Bringt sie mit.
Sprichst du mit ihm?
Was?
Mit dem Kind. Wirst du mit ihm sprechen?
Ja, wieso denn nicht!
Thom stellt die seltsamsten Fragen der Welt. Am Anfang dachte ich, man könnte was von ihm lernen. Aber Thom ist nur einer von denen, die sich wochenlang nicht melden und dann aus dem Nichts fünf Fragen schicken, die man alle gewissenhaft beantwortet, sich auch noch über das Interesse freut, aber dann kommt: nichts zurück. Kein Wort. Das ist Thom.

Mein Bruder hat in seiner Küche eine italienische Magnetleiste für seine asiatischen Messer, aber er hat keine Schere. Mein Bruder hat immer Recht, macht aber nicht alles richtig. Das Problem ist der Tofubrocken, sagte ich.
Der Tofubrocken?, fragte er.
Sie hat einen Tofubrocken in eine Tupperdose gepackt und ist ins Büro gefahren. Ein graues Stück Tofu, sonst nichts.
Ist das ne Metapher oder so?
Nein Tomasso, sie hat sich Tofu mit zur Arbeit genommen.
Macht sie ne Diät?
Du kapierst das nicht. Es geht um das Freudlose.
Sie ist halt Vegetarierin, das fandest du doch nie schlimm.
Darum geht es ja aber gar nicht!
Dann sag halt, worum’s geht.
Was es über jemanden aussagt, wenn er ein Stück Tofu mit auf die Arbeit nimmt. Und dieses Stück Tofu in eine Tupperdose packt!
Ich hab mir auch immer was mit an die Uni genommen, weil ich die Mensa nicht mochte. Die haben so geglotzt.
Du willst’s nichts kapieren, oder.
Sag halt einfach, was dein Problem ist?
Ich will weg, sagte ich.
Aus meiner Küche oder von Annika?
Beides, sagte ich.

Bianca traf ich in Bari. In der Bar im Erdgeschoss des Hauses, in dem mein Vater wohnt. In diese Bar gehen Männer, die über Früher reden, bis sie einschlafen, dann kommen ihre Frauen und schreien, dass sie aufwachen sollen. Manchmal sitzt mein Vater dabei, den schreit niemand mehr an.
Serafino, Peppe und Anto saßen am Tisch neben der Tür, am Tresen saß Bianca. Serafino, Peppe und Anto flüsterten beim Kartenspielen. Als könnte ein zu lautes Wort Bianca verscheuchen. Hinter dem Tresen stand Toto und schaute vorsichtig zu ihr. Als stünden ihm nur zwei Blicke zu und als fürchtete er, sie zu schnell aufzubrauchen. Ich nickte Serafino, Peppe und Anto zu. Ich wusste, dass sie mir nicht ohne Wehmut hinterher blickten, als ich mich neben Bianca setzte. So, als gehörte ich zu ihr. Oder, nach dem Weltbild von Serafino, Peppe und Anto: so, als gehörte sie zu mir.
Kaum saß ich, entwich die Spannung aus Totos Körper, ist wie bei Hunden. Zwei, drei Sekunden, und der Schwächere zieht sich zurück. Toto begrüßte mich tapfer. Ich empfand Zuneigung für ihn trotz seiner Frisur, dann ihre Stimme.
Welchen Film ich zuletzt gesehen hätte.
Sie fragte das auf Italienisch mit seltsamem Akzent, und ich fragte auf Deutsch, woher sie komme.
Du bist gar kein Italiener?, rief sie.
Nur ein halber, sagte ich, tut mir leid.
Das Lachen kam tief aus ihrer Kehle und endete mit einem glücklichen Schluchzer.
Ich starrte sie an wie ein Trottel.
Sie lachte nicht lange.
Also, sagte sie. Welchen Film.
The Lobster?
Ach, sagte sie. Viele fanden den deprimierend.
Ich nicht, sagte ich.
Ich auch nicht, sagte sie.
Welches Tier wärst du?, fragte sie, und ich glaube wirklich, dass ich in meinem ganzen Leben nur zehn gute Gespräche geführt habe, eins war nämlich dieses, und in The Lobster müssen alle Menschen auf der Welt eine Beziehung führen. Die Singles werden in Tiere verwandelt, in welche Tiere bestimmen sie selber. Zu guten Gesprächen gehören schlechte Antworten. Gute Gespräche sind unvermittelt und ehrlich.
Ein Hase?, fragte sie.
Sie lachte wieder auf, lauter und voller, Serafino ließ die Karten fallen. Ich sah es, weil ich mich umdrehte, ein Impuls gegen die Scham.
Wirklich, sagte sie. Ein Hase.
Ich brachte es nicht über mich, zu fragen, welches Tier sie wäre, weil ich schon entschieden hatte, dass sie ein Krokodil sein würde und ich auf keinen Fall wollte, dass sie mir das kaputtmachte. Sie hatte so viele Zähne, tolle Zähne, große Zähne. In welcher Stadt lebst du?, fragte ich aber.
In Bremen, sagte sie.
Ich auch, sagte ich.
Du auch, sagte sie.
Ich auch, sagte ich.
Toto konnte kein Wort Deutsch, nicht mal richtiges Italienisch, trotzdem lauschte er. Serafino, Peppe und Anto spielten nur noch Kartenspielen, und irgendwann gab Toto uns zwei Schnäpse aus. Da hob Bianca endlich den Blick und sah mir in die Augen. Erst in diesem Moment kam mir der Gedanke, dass sie zu jemandem gehören könnte. Das fühlte sich so falsch an, dass mir heiß wurde. Ich bekam einen dunkelroten Kopf. Aber Bianca trank aus und stand auf statt zu fragen, ob wir noch einmal anstoßen sollten, auf unser gemeinsames Leben zum Beispiel. Bianca schlug einen roten Schal um ihr Kleid und sagte: Ich hab ein kleines Kind.
Sie drehte sich nicht um, als sie zur Tür lief.

Es ist ziemlich leicht, sich in eine Frau in einem hellblauen Kleid zu verlieben, wenn es Sommer ist und irgendwo ein Meer. Und es ist auch nicht schwer, einer Frau im Halbdunkel einer Bar etwas zu versprechen und zu glauben, dass man es so meint. Es ist sogar nicht mal schwer, am nächsten Morgen noch daran zu glauben, nur mit den Jahren wird es dann schwer, vor allem, wenn man sich selbst schwer geworden ist.

Immer wenn ich aus dem Büro komme, sagte Annika später, laufe ich an diesem einen Hochhaus vorbei. Und jedes Mal denke ich, gleich springt einer runter, weil er keinen Bock mehr hat, gleich fällt einer auf mich drauf, denke ich.
Wieso sagst du das denn jetzt?, fragte ich, weil ich hinter ihr stand, weil ich sie umarmt hatte, weil wir doch so nett hinunter in den Innenhof sahen. Der Hausmeister hatte die Mülltonnen alle in eine ordentliche Reihe gestellt. Der Hausmeister glaubte an uns. Der Hausmeister war neu.
Annika drehte sich zu mir um.
Dir würd’s doch gar nichts ausmachen!
Doch, sagte ich.
Du bist so scheiße, seit du lügst!

Bianca ist in meiner Erinnerung hellblau oder rot, ich glaube, sie trug nur diese beiden Farben, aber das kann täuschen. Ihre Mutter kam aus einem Dorf in den Abruzzen, ihr Vater aus Wien, und in Süddeutschland gebe es nur Idioten, sagte sie, aber der Norden sei okay. Ich hab sie nie gefragt, ob ihr Kind von einem süddeutschen Idioten ist. Vielleicht weil sie sagte, sie fände es traurig, dass mir eine Bar gehörte. Bei unserem ersten Date sagte sie das.
Ein Abendessen in ihrer Küche in Bremen.
Ein Abendessen in ihrer Küche in Bremen, weil ich in Bari vom Hocker gesprungen und ihr hinterher gerannt war, vorbei an den alten Frauen, die den Nudelteig vor ihren Häusern kneteten. Der Anfang vom Ende, weil ich ihr Handgelenk gepackt und ihren Namen verlangt hatte. Sie hatte sich umgedreht und mich so heftig verflucht, dass ich wütend geworden war, erst wütend und dann sanft, bei Letzterem blieb ich.
Das ist doch irgendwie traurig, sagte Bianca also bei unserem ersten Date über meine Bar, und dann schenkte sie nach und redete weiter, eine Diskussion in der Grundschule, ich hörte nicht zu. Bis sie sagte, dass sie in diesem Moment überhaupt nicht an ihr Kind gedacht habe. Ich wusste leider nicht, von welchem Moment sie sprach, aber jetzt hörte ich wieder zu.
Ich hab in diesem Moment nur an dich gedacht, sagte sie.
Später schliefen wir ein, erst sie, dann ich, dann kroch ihr Kind zu uns ins Bett, und das alles war so schön, so friedlich, dass ich mich am nächsten Abend betrinken wollte, während Thom an seinem eigenen Apfelsaft nuckelte.
Vielleicht führen die meisten Menschen nur zehn gute Gespräche in ihrem Leben?

Man sieht es ihnen ja nicht an, sagte Annika auf unserem Balkon, er sieht ja aus wie immer, die Zottelhaare, die Trottelaugen, natürlich steht auf seiner Stirn nicht, dass er mich anlügt, aber ich weiß es trotzdem, ich weiß es!

Gespräche, die man belauscht, sind so mittel, und irgendwer sagte doch mal, dass die Dinge immer erst schwer sind, bevor sie leicht werden. Brecht oder so? Aber das ist totaler Quatsch. In der Liebe ist es genau umgekehrt. Erst ist es immer leicht. Und dann wird’s schwer.

Zottelhaare, Trottelaugen?

An meinem Tresen habe ich noch kein einziges gutes Gespräch geführt, und in meinem Kopf sagte ich ihr ja alles, in meinem Kopf tat ich ja das, was sich gehört! Bianca, sagte ich in meinem Kopf zu Bianca, es gibt da noch eine andere, aber ich geh da weg, weil ich zu dir will, weil ich dich will!
Aber ich traf sie nur immer weiter, bis sie irgendwann erfuhr, von wem ich jedes Mal kam.

Ich weiß nicht, warum es so schwer ist, an einem Tresen ein gutes Gespräch zu führen, aber es klappt nicht, auch gestern nicht, leider nicht. Dabei war der Einstieg nicht übel.
Wie heißt du denn eigentlich?, fragte mich eine, die immer kam und noch nie wissen wollte, wie ich eigentlich heiße.
Emanuele, sagte ich, wie der italienische König!
Sie schüttelte den Kopf.
Die haben doch gar keinen König mehr.