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06.05.2022, 13:32 Uhr
Anne-Marie Sicotte
Literarische Notizen aus Québec
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© Benoît Aumais

Einblick ins „Offene Atelier“ von Anne-Marie Sicotte

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Anne-Marie Sicotte 2020 © Philippe Bossé

Die Kebbel-Villa des Oberpfälzer Künstlerhauses in Schwandorf bietet eine Plattform für Künstlerinnen und Künstler und Interessierte aus aller Welt. Seit 1994 ist das Künstlerhaus Mitglied im Netzwerk Internationaler Künstlerhäuser, Res Artis, und bietet jährlich bis zu 20 internationalen Gästen aus den Sparten Bildende Kunst, Literatur und Komposition einen Aufenthalt für sechs bis acht Wochen in Schwandorf an. Gegen Ende ihres Aufenthaltes geben die Stipendiat*innen an den „Offenen Ateliers“ Einblick in ihre Arbeit. Eine ihrer Gäste ist die aktuell im Künstlerhaus lebende und arbeitende kanadische Autorin Anne-Marie Sicotte.

Anne-Marie Sicotte (*1962 in Montreal) hat bisher über 15 Bücher und Reihen auf Französisch veröffentlicht, darunter Romane, Biografien sowie Essays zur Kunst und Fotografie, worin sie u.a. auf zahlreiche Aspekte der Geschichte von Québec eingeht. Sicotte behandelt in erster Linie unbequeme Themen, die der Ausleuchtung bedürfen. Ihre bekannteste Veröffentlichung ist die historische Romanreihe Les Accoucheuses (Die Hebammen), die von 2006 bis 2008 erschien. Das Literaturportal Bayern veröffentlicht Anne-Marie Sicottes Beitrag zur Reihe des zwischen Bayern und Québec bestehenden internationalen Schriftstelleraustauschs in deutscher Übersetzung (das französische Original finden Sie hier).

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In guter Gesellschaft

Es war Sommer 2020. Ich saß in meinem Büro im Keller meines Hauses in Saint-Bruno, in der Provinz Québec, und kämpfte gegen die Mutlosigkeit. Wir hatten gerade die erste Gesundheitskrise erlebt, und ich fand meine Autorinneneinsamkeit schwer erträglich im Kontext des Social Distancing und des Misstrauens, die man, wenn man unseren Regierungen glaubte, unbedingt kultivieren musste. Anders als meine Entscheidung für ein Leben als Schriftstellerin vermuten lassen könnte, bin ich eine kontaktfreudige Person und mag jede Art von Gruppendynamik. Seit langem schon besteht mein Beruf darin nachzuforschen: über mich zuallererst, um besser die Rädchen meiner Persönlichkeit zu verstehen und einige Verletzungen aus der Kindheit zu heilen; und dann über verschiedene Personen, deren Biographie ich geschrieben habe.

Wenn ich eine historische Recherche mache, forsche ich auch über ganze Gesellschaften, die Ansammlungen von Menschen sind. Der Mensch fasziniert mich: seine Stärken und Schwächen, seine faszinierende Psyche und vor allem seine starke Sensibilität, die für mich der Kern seines Wesens ist, die aber allzu oft ein misshandelter, verletzter Kern ist. Ich versuche einerseits zu verstehen, was uns alle zusammenführt, und den Kern unserer gemeinsamen Erfahrung auf dem Gebiet der Gefühle und Empfindungen, Eigenschaften und Fähigkeiten, Bedürfnisse und Dinge, die wir teilen, zu verstehen. Auf der anderen Seite versuche ich, den Einfluss der sozialen Zwangsjacke im Leben der Menschen aufzuspüren.

Ich war also ziemlich traurig in jenem Sommer, ich hatte Angst vor den Auswirkungen der pandemischen Hysterie auf unsere Lust zusammenzuleben, sich zu lieben und zu streiten. Ich musste unbedingt raus an die frische Luft. Durch meinen Garten zu streifen reichte mir nicht mehr, zumal ich ihn mittlerweile allzu gut kannte. Seit Jahren spielte ich mit der Idee, mich für eine Schriftstellerresidenz zu bewerben. Bis jetzt hatte ich es mir nicht erlaubt. Ich konnte nicht weg, bevor meine Kinder groß wären; dann war ich Gefangene eines Schreibprojekts, das die Mitnahme einer zu großen Menge von Dokumentationsmaterial erfordert hätte. Aber ich wollte mit leichtem Gepäck reisen. Ich recherchierte ein wenig, und Bayern schien mir eine ausgezeichnete Wahl zu sein. Ich bin ziemlich viel herumgekommen in meinem Leben, aber dort war ich noch nie gewesen. Es wurde Zeit, dass ich mich dem Klischee stellte, das ich aufgrund der zahllosen Dokumentarfilme über Adolf Hitler im Kopf hatte: die Heimat und der Schlupfwinkel eines Tyrannen.

Das Oberpfälzer Künstlerhaus bietet mir die beiden Ingredienzen, die unerlässlich sind, damit ich tief in die Geschichte, die ich erzählen will, eintauchen, neue Gebiete erforschen und sogar in den manchmal trüben Wassern der starken Gefühle und dunklen Seiten des Menschen schwimmen kann. Diese beiden Ingredienzen sind Ruhe und Zeit.

Hier setze ich die Arbeit an einem Romanprojekt über eine Frau fort, die wirklich gelebt hat: Catherine Quévillon, geboren 1686 in Neufrankreich (Nouvelle France). Zunächst einmal hatte sie hintereinander vier Ehemänner; diese damals übliche, aber wenig bekannte weibliche Erfahrung löste einen ersten Interessenschub bei mir aus. Anschließend erfuhr ich, dass Catherine zugleich mit ihrer Mutter und ihrer Schwester mehrere Jahre von Irokesen gefangen gehalten worden war. Weitere Nachforschungen ergaben, dass die Art von „kulturellem Austausch“ häufig vorkam, insbesondere unter Frauen. Das Phänomen des Aufenthalts als Gefangene bei den Indianervölkern ist sehr schlecht dokumentiert in der Québecer Geschichtsschreibung, die sich auf die gefolterten und verbrannen Jesuiten und eine ebenso zügellose wie barbarische indigene Gewalt konzentriert.

Ich nannte meine Heldin „Catherine mit den fünf Ehemännern“, denn es ist möglich, dass sie einen ersten irokesischen Lebensgefährten hatte, von dem sie ein Kind bekommen haben soll. Ihr sehr langes Leben – 95 Jahre – erlaubt mir, gründlich den Einfluss ihrer Gefangenschaft auf ihre Persönlichkeit zu erforschen: die Prägung durch die Mischkultur, die Begriffe Immigration und Integration, soziale und kulturelle Anpassung. Die Rolle der Frauen und ihre Beziehung zur politischen Macht ist eines meiner Hauptinteressensgebiete. Wie erlebt Catherine den Übergang von einer eher egalitären Gesellschaft zu einer frauenfeindlichen? In ihrer Begleitung werde ich dem Schicksal einer Neuen Welt folgen, auf die europäische Reiche Anspruch erheben; was für Catherine eine Reihe von Opfern bedeutet, je stärker die westliche Zivilisation sich einnistet, indem sie die Bereicherung, den Privatbesitz und die Macht der Männer aufwertet.

8. April 2022

 

Auszug aus meiner laufenden Arbeit

Die junge Mutter sitzt mit geradem Rücken da und bedeckt ihre Schultern mit einem abgewetzten Tuch, in das sie sich hüllt. Voller Wohlbehagen stößt sie einen langen Seufzer aus. Auch sie fühlt sich wie in einem Kokon, nicht nur wegen des Tuchs, sondern wegen des ganzen Dorfs. Ihr Dorf ist wie ein lebendiger Organismus, dessen äußere Hülle ein perfekter Schutz gegen das Unglück ist, ein wohltätiger Geist, der sie in seiner Mitte aufnimmt, um sie bis ans Ende der Zeiten zu umsorgen. Draußen ist die weite Welt voller Gefahren; aber drinnen ist alles dafür geschaffen, das Wohlbefinden einen jeden Menschen zu sichern, der seinen Platz in einem Clan gefunden hat.

Laute Frauenstimmen dringen aus der Ferne zu Catherine, ein Austausch von Beschimpfungen, der sie auf die Erde zurückbringt und sie diesmal zu einem tiefen Seufzer der Verzweiflung veranlasst. Das Wohlbefinden ist schwieriger geworden. Früher reichte es, sich an jemanden zu wenden, der klüger als man selbst war. Es reichte, sein Unwohlsein zu teilen, damit die ganze Gemeinschaft, oder fast, sich bemühte, eine Lösung zu finden. Ein verstörender Traum, ein ungestilltes Begehren, ein unnötiger Zwang, eine längere Krankheit, nichts war dann wichtiger, als sich dafür einzusetzen, Abhilfe zu schaffen. Es gab einfache Lösungen, wie der Versuch, das zum Ausdruck gebrachte Bedürfnis zu befriedigen, eine Wiedergutmachung anzubieten oder den Fluch durch Besprechen, Geschenke oder das Hinzuziehen eines Schamanen zu bannen. Aber die bösen Kräfte, die Catherine seit frühester Kindheit wahrgenommen hatte, scheinen an Stärke zu gewinnen. Oh, wie schön war es, heute den Krieg zu vergessen!