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Kultur trotz Corona: „Intolleranza 2021“. Von Noemi Schneider

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Ausblick auf San Giorgio Maggiore, Venedig (pixabay)

Noemi Schneider (*1982 in München) ist Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Kulturjournalistin. Derzeit ist sie Künstlerstipendiatin im Deutschen Studienzentrum in Venedig.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Essayauszug beteiligt sich Noemi Schneider an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Intolleranza 2021. Ein Essay (Auszug)

 

Weil ich unbedingt einen berühmten, umstrittenen, österreichischen Künstler, der gerade zu einer Ausstellungseröffnung in der Stadt ist, persönlich treffen will, interviewe ich ihn. Nach dem Presserundgang lädt der Kurator alle Anwesenden zum Abendessen in ein Lokal am Canal Grande ein. Zu meinem Bedauern sind, als ich dort ankomme, bereits alle Plätze in der Nähe des Künstlers besetzt. Als mich sein Galerist erkennt, steht er sofort auf, winkt die Kellnerin heran und fragt was ich trinken will. Der Galerist will mir einen der zwei freien Plätze ihm schräg gegenüber, mit Blick auf die Mauer, anbieten, allerdings liegt zwischen den beiden Gedecken auf dem Tisch bereits eine Handtasche. Die Handtasche gehört einer gewissen Sonja und ihrem Sohn, allerdings könne es sein, mutmaßt der Galerist, dass sich die beiden schon woanders hingesetzt hätten. Er schaue mal nach ihnen, weil er es schon schön fände, wenn ich hier in der Mitte bei ihm säße. An der Art und Weise, wie der Galerist den Namen Sonja ausspricht, wird mir klar, dass es sich um eine sehr wichtige Sonja handeln muss. Der Galerist verschwindet und kommt nach einigen Minuten zurück. Sonja und ihr Sohn wollen da sitzen wo die Handtasche liegt. Der Galerist nimmt sein Glas vom Tisch und offeriert mir seinen Platz in der Mitte der langen Tafel mit Blick auf die Kirche San Giorgio Maggiore. Ich nehme das überaus großzügige Angebot an, nippe an meinem Sanbitter und smalltalke mit meinen Tischnachbarn. Links von mir sitzt ein kultivierter römischer Architekt, der seit zwanzig Jahren in Venedig lebt, fließend Deutsch spricht und Wohnungen für Österreicher, Schweizer und Deutsche renoviert, weil es billiger ist, sich eine Wohnung in Venedig zu kaufen, als in Düsseldorf. Rechts von mir sitzt ein Deutscher, Ende Fünfzig, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Wir wechseln zwei belanglose, höfliche Sätze über die Stadt. Seine Stimme kommt mir auch bekannt vor, aber ich komme einfach nicht drauf, woher ich ihn kenne. Mir direkt gegenüber sitzt eine PR-Managerin, die Charity-Events in aller Welt organisiert. Zu ihrer Linken nehmen besagte Sonja und ihr Sohn Platz. Sonja sieht genauso aus, wie man/frau/divers sich eine steinreiche Industriellenwitwe vorstellt. Sie ist, was sich am nächsten Tag bei der Google-Recherche herausstellt, 78 Jahre alt. An ihren Händen lässt sich das unschwer erkennen, ihr Gesicht ist durch mehrere Schönheits-OPs und Unmengen Botox vollkommen deformiert. Ihr Sohn ist Investmentbanker und hat sich die Nase machen lassen. Zur Rechten der PR-Managerin sitzen eine Innsbrucker Galeristin und ihre Tochter.

Ich mache ein paar Bemerkungen über den fantastischen Ausblick, das Licht, die Stadt, das Wasser, die niemanden interessieren außer den Architekten, der ebenfalls vergeblich versucht die Anwesenden auf die Schönheiten der Serenissima hinzuweisen.

Weißwein-, Rotwein- und Wasserflaschen werden auf der Tafel verteilt. Der Künstlertyp zu meiner Rechten ist extra für eine Nacht nach Venedig gejettet. Die Innsbruckerin und ihre Tochter auch, ebenso wie Sonja, ihr Sohn und die PR-Managerin. Nur der Römer und ich leben hier.

„Mei sovuil Brückn“, ist das einzige, was der Innsbruckerin zur Stadt einfällt. Die PR-Managerin und Sonja kennen sich aus Kitzbühel, Sankt Moritz und Saint-Tropez. Die PR-Managerin hat schon einige Charity-Events für Sonja, die ein Herz für Tiere hat, organisiert.

Die erste Vorspeisenplatte wird gereicht: Mozzarella di Bufala e Pomodorini, exzellentes Olivenöl, Salz und Brot. Die Ausstellung des gastgebenden, umstrittenen, österreichischen Künstlers wird kurz gestreift.

Die Innsbruckerin: „Mei scho grasse Builder. Mir is des zvuill. Graussslig! Graussslig! Gäh, des Naazzi-Build, da am Onfang. Also da hat’s mi gschaudert, gschaudert hat’s mi da.“

Die PR-Managerin hält sich zurück, sie macht die PR für die Ausstellung. Die Tochter der Innsbruckerin war nicht in der Ausstellung sondern bei Prada. Die Witwe hat die Ausstellung schon in London gesehen. Sie besitzt einige Gemälde des Künstlers als Investment. Der Architekt war auch nicht in der Ausstellung. Der Künstlertyp zu meiner Rechten war in der Ausstellung, allerdings hat er sich vorher noch den Baselitz im Palazzo Grimani angeguckt und das war „vielleicht ein bisschen zu viel Kunst in vier Stunden! Überlagert sich grade alles.“

Weitere Vorspeisen werden gereicht: Verdure alla griglia, Prosciutto Crudo, Formaggio.

Mit halbem Ohr höre ich, dass die Innsbruckerin damit prahlt, dass sie der Industriellenwitwe Tickets für die ausverkaufte Jedermann-Premiere in Salzburg besorgen kann.

Weil ich auch endlich mal auf den Domplatz will, setze ich mein charmantestes Lächeln auf und erkläre ganz unschuldig, dass ich so gespannt auf den neuen Jedermann Lars Eidinger sei. Lars Eidinger kennt die Innsbruckerin nicht, aber dafür weiß sie einiges über die neue Buhlschaft Verena Altenberger zu berichten. Sie senkt die Stimme:

„Die hoat ganz schlimm Kräbbs khoabt. Mei, die sieat ja so schlimm aus. Hoar weg, so schlimm. Oalle Hoar weg.“

Alle am Tisch haben Mitleid mit Verena Altenberger. Ich habe von der Krebs-Erkrankung der Schauspielerin nichts gehört, aber ich beschließe bei dem Thema nicht genauer nachzufragen. Die Innsbruckerin hat bestimmt Zugang zu geheimen Quellen, wenn sie Tickets für die ausverkaufte Jedermann-Premiere besorgen kann. Die Google-Recherche am nächsten Tag fördert folgendes Ergebnis auf salzburg24.at vom 19. Mai 2021 zu Tage: 

Hier wird Verena Altenberger eine Glatze rasiert / „Radikaler Schnitt“ der Schauspielerin / Die neue Salzburger Buhlschaft Verena Altenberger trägt nun Glatze: Für eine neue Rolle hat die 33-Jährige sich die Haare abschneiden lassen. Nun hat Altenberger das Video vom außergewöhnlichen Friseurtermin geteilt. Via Instagram hat die neue Festspiel-Buhlschaft den „radikalen Schnitt“ erklärt. Die Salzburgerin spielt im Debüt-Kinofilm von Chris Raiber „Unter der Haut der Stadt“ mit. „Als ich das Drehbuch vor zwei Jahren zum ersten Mal gelesen hatte, war mir sofort klar: Diese Rolle bekommt alles von mir. Caro, dir und deiner Geschichte opfere ich meine Haare. Ja, es geht um Krebs, aber vor allem geht es um das Wunder Liebe, wie Märchen heilen können und, dass sich verlieben immer die beste Lösung ist“, schreibt Altenberger auf Instagram über ihre neue Rolle.

Die Innsbruckerin studiert ihr Gegenüber, den Künstlertyp zu meiner Rechten, eingehend und will wissen, was er beruflich macht. Er ist Künstler, und, er macht eine kurze Pause, er hat eine Fernsehsendung. Ich frage, wie er heißt. Er zögert kurz, dann nennt er seinen Namen. Ich bin nicht sonderlich überrascht und jubiliere innerlich, denn ich sitze neben einer persona non grata des deutschen Feuilletons. Wann ergibt sich schon mal so eine günstige Gelegenheit für einen Realitätscheck?

Die Innsbruckerin hat den Namen noch nie gehört. Ihre Tochter meint, sie hätte den Namen schon mal irgendwo gehört. Die PR-Managerin lächelt wissend.

Ich interessiere mich nicht besonders für Comedy-Kabarett, aber natürlich sind mir die Shit-Stürme in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit meinem Tischnachbarn hin und wieder untergekommen und liefern bestimmt jede Menge Gesprächsstoff für ein Abendessen. Der Künstler-Kabarettist und ich duzen uns nach drei Minuten und unterhalten uns etwa eine Stunde über Gott und die Welt, bis uns die Innsbruckerin mit den Worten: „Wi hoast des? Brässsalu“ unterbricht.

Ich korrigiere automatisch, das heiße Bresaola, und beiße mir auf die Zunge, denn der Blick der Innsbruckerin ist eindeutig: Die Jedermann-Tickets kann ich mir abschminken.

Die PR-Managerin versucht das Thema zu wechseln und erzählt, dass sie gerade in der Tristan und Isolde-Eröffnungspremiere der Münchner Opernfestspiele war. Ich nehme den Ball auf und gebe das wieder, was ich in den Feuilletons über den Abend gelesen habe: Hammer-Dirigat, grandiose Sänger*innen, einfallslose bis unterirdische Inszenierung. Die PR-Managerin bestätigt diese Einschätzung. Da fällt mir ein, dass Richard Wagner ja genau hier vor 162 Jahren in einer Wohnung des Palazzo Giustiniani am Canal Grande den zweiten Akt von Tristan und Isolde vollendet hat. Die PR-Managerin bekommt feuchte Augen. Der Architekt sagt, dass er den jetzigen Eigentümer des Palazzo-Teils, in dem sich die ehemalige Wagner-Wohnung befindet, kenne und wenn wir interessiert seien, könne er in den nächsten Tagen einen Besuch der Wohnung arrangieren. Die PR-Managerin ist den Tränen nahe, da sie bereits am nächsten Morgen in aller Frühe nach Zürich fliegt. Ich lehne das freundliche Angebot dankend ab, denn was Richard Wagner betrifft, bin ich familiär vorbelastet. Mein Urgroßvater väterlicherseits, ein sächsischer Schuldirektor, war ein fanatischer Wagnerianer. So fanatisch, dass er seine fünf Kinder Siegfried, Brunhilde, Lore, Gertrud und Elsa nannte. So fanatisch, dass er sich im Jahr 1923 auf dem Friedhof in Engelsdorf (Leipzig) mit seiner Geliebten, der Handarbeitslehrerin, eine Kapsel Zyankali genehmigte und meine Urgroßmutter mit den fünf Wagner-Kindern und der „Schande“ sitzen lies.

„Soll ich schlürfen, untertauchen? Süß in Düften mich verhauchen? In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehendem All – ertrinken, versinken – unbewusst – höchste Lust!“

Isolde sinkt, wie verklärt, in Brangänes Armen sanft auf Tristans Leiche. Rührung und Entrücktheit unter den Umstehenden. Marke segnet die Leichen. Der Vorhang fällt langsam.

Als ich die Geschichte einmal zu später Stunde in meinem Freundeskreis zum Besten gab, stellte sich heraus, dass es in fast allen Familien meiner Freunde selbstmörderische Vorfahren gab. Erhängte, ertrunkene und erschossene Urgroßväter und Großväter auf Dachböden, morphinsüchtige Urgroßmütter, Großtanten und Großonkel, die sich vor Züge geworfen hatten oder von Dächern gesprungen waren.