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30.05.2012, 18:13 Uhr
Heike Geißler
Text & Debatte
Vom 16. bis 19. Mai 2012 reisten sechs bayerische Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach Kroatien, um kroatische KollegInnen kennen zu lernen. Das Blog des Literaturportals Bayern veröffentlicht die Berichte der TeilnehmerInnen des Austauschs in loser Folge.

[Kroatien-Austausch]: Mehr eine Metapher als ein Ding

Ich lebe seit einigen Jahren in Leipzig, aber nun reiste ich als bayerische Schriftstellerin nach Kroatien, reiste zusammen mit Thomas Lang, Dagmar Leupold, Werner Fritsch, Petra Morsbach, Georg M. Oswald und Verena Nolte als Vertreterin des Freistaates Bayern, ich reiste als vormals in München gelebt und dort geschrieben habende Autorin - mein erster Roman entstand zu weiten Teilen in einem Schwabinger Büro, wo ich als Sekretärin eines Chefs jobbte, der immer erst kurz vor Feierabend eine Idee hatte, wie ich zu beschäftigen sein könnte. Zudem reiste ich als Vertreterin meines Lieblingssatzes: „Von jetzt an werde ich mehrere sein. Ich werde nie mehr von mir sagen, ich sei dies oder ich sei das. Von jetzt an bin ich nicht mehr die Verlängerung eines gegebenen Zustands. Ich bringe die Wahl zwischen zwei sich ausschließenden Möglichkeiten zum Ausdruck, zwischen dem Zustand selbst und der ihn übersteigenden Möglichkeit.“[1]

Ich bin eine oder keine bayerische Schriftstellerin, so wie ich eine oder keine sächsische Schriftstellerin bin.

Ich war bis zu dieser Reise noch nie in Kroatien gewesen, wenngleich mein erstes Buch Rosa ins Kroatische übersetzt worden war. Ich mag mein kroatisches Buch sehr. Mir gefällt sein Format, es ist kleiner und handlicher als die deutsche Hardcover-Ausgabe. Ich hatte mich damals, als ich erfuhr, dass es eine kroatische Übersetzung meines Buches geben werde, sehr gefreut, denn sie war, auch für meinen Verlag, überraschend zustande gekommen. Ich hatte vor der Reise einige Bücher gelesen, vor allem von Dubravka Ugrešić, Ivana Bodrožić und Edo Popović. Zuvor, das fiel mir erst beim Lesen auf, hatte ich keine Texte kroatischer Autoren gelesen. Jetzt, zurück in Deutschland, lese ich einfach weiter bei Dubravka Ugrešić, die sich zwar nicht mehr als kroatische Schriftstellerin versteht, mir aber dennoch viel über Jugoslawien, Kroatien, die Sprache, den Krieg und ganz grundsätzlich über das Leben erzählt. An meiner Wand hängt die Landkarte Kroatiens. Ich bin noch damit beschäftigt, die Reise nachzubereiten, oder ich bin damit beschäftigt, die nächste Reise nach Kroatien vorzubereiten.

1

Wir kamen am ersten Tag vom Mittagstisch. Schweinebraten mit köstlichen Kartoffeln. Ana Brnardić, die Generalsekretärin des kroatischen Schriftstellerverbandes, hatte als einzige Vegetarierin eine große Suppenschüssel vor sich stehen gehabt. Wie bei einer Hochzeit, hatte sie gesagt, wo die große Schüssel in der Mitte steht und alle daraus essen. Als wir das Lokal betraten, waren noch fast alle Schirme auf dem Markt aufgespannt gewesen, beim Verlassen war der Abbau der Stände nahezu abgeschlossen. Die Gruppe stand vor dem Lokal, irgendwie ortlos, zeitlos von der Reise. Unter Ana Brnardićs Regenschirm trug ich Fedor, meinen kleinen Sohn, zum Bus, ein Mönch in brauner Kutte ging über den Platz vor der Kathedrale. Die genau genommen keine Kathedrale sei, wie Dubravka Nemec vom Kultusministerium erklärte, aber man nenne sie eben so.

Am Samstag, drei Tage nachdem ich dieses erste Foto gemacht hatte, war die Reise fast vorbei. Wir waren mehrfach angereist und abgereist, Check-in, Check-out, wir waren in Osijek und Vukovar gewesen, wo mir der Krieg ins Bewusstsein getreten war, dem zu begegnen ich vor der Abreise aus Deutschland Angst gehabt hatte, dessen Existenz ich, kaum in Zagreb angereist, vergessen hatte. Ich hatte den Krieg verlegt. Am Samstag gingen Thomas Lang und ich durch Zagreb. Drei Stunden Freizeit, die erste Freizeit seit Tagen, kurz konsultierten wir den Stadtplan, dann ließen wir es, gingen einfach los. Der Sommer war angekommen. Ich suchte ein Geschenk für meinen daheimgebliebenen größeren Sohn. Der Markt war nun voll. Auf zwei bis drei Obst- oder Gemüsesorten spezialisierte Stände. Am Rand Gebrauchswaren, Körbe, Holzprodukte, Souvenirs. Ich kaufte dem großen Sohn eine gelbe Pistole aus Holz, die zugleich eine Flöte ist oder eine gelbe Flöte, die aussieht wie eine Pistole. Das Geschenk ist mehr eine Metapher als ein Ding.

2

Wir standen in der National- und Universitätsbibliothek Zagreb und umsäumten Schätze. Die Bücher durften zum Glück angefasst werden. Man berührte Zeit und Menschen mit jeder Seite. Das Papier knisterte schwer. Ich fotografierte ein Messbuch aus dem Jahr 1483, es ist das erste in Volkssprache gedruckte Buch des heutigen Europa. Viermal passierte es die Druckpresse, in zwei Farben wurde es gedruckt und enthält doch keinen Fehler. Ein Buch ganz ohne Fehler.

Fedor schlief im Tragetuch, als er erwachte, war er willkommen. Er wanderte von Arm zu Arm. Die Buchrestauratorinnen begrüßten ihn, alle begrüßten ihn gesondert. Ich versuchte, mir den Alltag der Restauratorinnen vorzustellen. Sie saßen in den weißen Arbeitsschürzen, radierten vorsichtig, weichten beschädigtes Einbandleder ein, bearbeiteten es auf dem Lichttisch mit dem Skalpell, ziselierte Arbeit. Ich hätte stundenlang zusehen können, aber die Gruppe musste weiter, das Programm für diese Reise war voll, wunderbar voll und zu voll zugleich.

Die Bibliothek, erklärte man uns später, soll offen sein für alle und sich nicht von der Welt abschotten. Deshalb hatte der Architekt eine Spiegelkonstruktion in das Dach einsetzen lassen. Von manchen Lesetischen aus blickt man in die Stadt, auf die Spiegelung der Stadt. Und ohnehin blickt man von dieser fensterreichen Bibliothek aus fast immer auf die Stadt und die Medvednica, den Bärenberg, und von ganz oben auf den verwittert wirkenden Schriftzug des Hotel International.

 

3

Ana Brnardić sagte, sie möge meinen Beutel, und wir kamen auf die Utensilien der Hipster zu sprechen. Während man in Deutschland und den USA wohl der Meinung ist, dass nahezu jeder ein Hipster sei, vor allem der, der sich von den Hipstern zu distanzieren versuche und die Hipster aus einen kritischen Distanz beobachte, frage man sich in Kroatien, ob es dort überhaupt Hipster geben könne und bezweifle das derzeit.

Wir standen vor dem Gedächtnisfriedhof bei Vukovar, würden gleich wieder in die Minibusse steigen. Es war ein heißer Tag, und diese Reise war dann doch im Krieg angekommen. Überraschend und heftig. Wie gesagt, ich hatte den Krieg, die Erinnerung daran, dass es ihn gegeben hatte, quasi mit der Ankunft in Zagreb verlegt. Oder sorgsam beiseite gelegt. Der Krieg, die Kriege sind ein übergroßer wunder Punkt und sind wie jeder Krieg, weil jeder Krieg vom unmöglichen Menschenmöglichen erzählt. Dubravka Nemec hatte es auf der Fahrt nach Vukovar vom Beifahrersitz aus zusammengefasst: Dass das Interesse weniger dummer und gieriger Leute die anderen dominiere. Das war vereinfachend. Aber im Minibus sitzend und auf die Einschusslöcher der Häuser in Vukovar blickend, auf die verspachtelten Einschusslöcher an anderen Häusern, war mir diese Zusammenfassung jeder Kriegsgeschichte frappierend plausibel erschienen.

Ana Brnardić jedenfalls hielt alle Fäden dieser Reise zusammen, diskret organisierte sie als eine Meisterin des Nebenbei. Sie ist nicht nur Generalsekretärin des Kroatischen Schriftstellerverbandes, sondern auch Lyrikerin. Ich kenne ihre ins Deutsche übertragenen Gedichte. Etwas hermetische Gedichte, wie sie sagt, Gedichte aus ihrem zweiten Buch, aus der Zeit, bevor sie sich entschieden habe, lesbar zu schreiben. Ein Lieblingssatz: „Wäre ich doch nur eine Bibliothek!“

4

Osijek, die windige, an den Flusslauf gefädelte Stadt. Der Versuch eines Spaziergangs zwischen Ankunft im Hotel und Interviewtermin im Radio endete unmittelbar nach seinem Anfang am Rand des Ortes. Osijek ist schmal, aber lang.

Am nächsten Morgen die Feiern zum Ende der Abiturprüfungen, die Straße vor dem Hotel war bemalt und gesperrt, seit Stunden standen die Polizisten, ich hörte Trillerpfeifen der Feiernden, vereinzeltes Gekreisch. Ich wartete auf eine Parade und verpasste sie, weil wir losfahren mussten oder es kam gar keine Parade, ich weiß es nicht. Wir fuhren zum Marktplatz, wo die Stadtführung beginnen sollte. Überall flanierten die verkleideten Abiturienten, eine Horde Supermen mit flatternden Capes zog links am Bus vorbei.

Die Architektin, die für einen Kollegen eingesprungen war und eigentlich keine Stadtführerin ist, referierte die Geschichte der Stadt am zweihundert Jahre alten Ginkobaum. Dubravka Nemec übersetzte. Stehen und lauschen, die Architektin erzählte anekdotisch und amüsant, sie leitete das Ende der Führung ein, und hätte die serbische Belagerung Osijeks ausgelassen, hätte Verena Nolte nicht nachgefragt.

Später, da waren wir dann doch noch herumgegangen, hatten Tore und eine Zugbrücke besichtigt, übersetzte uns die Architektin den kroatischen Spruch an der zerschossenen Wand: Better grave than slave. Osijek, sagte sie, ist eine Stadt für Menschen. Sie zeigte auf das Freibad am Ufer der Drau, es heißt Copacabana, im Sommer schwimmt man im Fluss. Ich fragte sie, ob sie während der Belagerung in der Stadt gewesen sei. Natürlich, sagte sie. Sie habe mit ihrem Mann und ihrem zwei Jahre alten Sohn im Keller gelebt. Ohne Heizung, ohne Wasser, fast ohne Nahrung. Sie zuckte mit den Schultern, it made me stronger, was sollte sie auch sagen.

Beim Essen hielt sie Fedor auf dem Schoß und sagte, wenn ich erst die kroatischen Inseln besucht hätte, würde ich die Ost- und Nordsee vergessen. Wir aßen Fisch aus der Drau, der bis zu drei Meter lang werden könne.

...

Drei Punkte, weil ich vorerst keine Zeit und Form finde, die mich eine geschmeidigere Überleitung zum Ende meines kurzen und unvollständigen Berichts finden lassen. Auch schweife ich ab, überlege, wie ernst Tomislav Nikolics seltsame Träumereien von Serbiens Größe oder sein Verhältnis zum Traum überhaupt wohl sein mögen, und das Private, das kleine Beobachtete erscheint unwichtig, verschwenderisch im Angesicht einer ruppigen Politik, die kroatisch-serbische Annäherungen, Aufarbeitungen und Wunden ignoriert.

Ich möchte schließen, indem ich mich bedanke. Ich danke:

- Ana Brnardić, die mir in Osijek sagte, sei sei froh über Fedors Anwesenheit, die ihr gezeigt hätte, dass ihre Zweifel, ob eine solche Reise auch mit Kleinkind funktionieren könne, überflüssig gewesen seien.

- Unseren Fahrern, die, wie mir Ana Brnardić verriet, anfangs keine Lust hatten, mich und meinen Sohn zu transportieren, die Gebrüll und angespannte Nerven gefürchtet hatten, aber schon am zweiten Tag Fedor herumtrugen, fotografierten, ihm auf dem Smartphone zeigten, wie er aussah, ihn persönlich und herzlich verabschiedeten.

- Der Kulturministerin Andrea Zlatar-Violić, die Fedor, als er bei der Pressekonferenz zu plappern begonnen hatte, woraufhin ich mit ihm vor die Tür gehen wollte, willkommen hieß, indem sie explizit auch die jüngsten Reiseteilnehmer begrüßte.

- Edita Guberina, die meinem Sohn die Kleidung zurechtzupfte, ihm zwischen den Waschbecken der Bibliotheksmensa einen bequemen Wickelplatz einrichtete, ihn durch Osijek trug und in ihr Herz schloss.

- Verena Nolte, die die wunderbare Idee hatte, mich auf diese Reise mitzunehmen.

- Grundsätzlich allen Reiseteilnehmern, vor allem Thomas Lang, für ihre Hilfe beim Tragen und Unterhalten meines Sohnes und beim Aufheben von Dingen.

Hätte ich diese Hilfe nicht gehabt, wäre ich kaum mit so zahlreichen Eindrücken von dieser Reise zurückgekehrt und hätte nicht gesehen und gehört, woran ich anknüpfen will.


[1]    Meyer, Eva: Von jetzt an werde ich mehrere sein. Frankfurt am Main 2003