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21.05.2010, 15:59 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

Ernst Tollers dramatische Entwicklung

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Titelblatt der 2. Auflage, Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1922 (Bayerische Staatsbibliothek/Historisches Lexikon Bayerns).

Während seiner Festungshaft in den Gefängnissen Eichstätt und Niederschönenfeld (1919-1924) entstanden jene Dramen, die Ernst Toller – neben Brecht – zu einem der bedeutendsten deutschen Dramatiker der 20er-Jahre machen sollten. Überhaupt war diese Zeit für Toller literarisch am produktivsten: Vier Dramen (Masse Mensch, Die Maschinenstürmer, Hinkemann, Der entfesselte Wotan), ein Puppenspiel, zwei Gedichtbände und Chorwerke (u.a. Das Schwalbenbuch), drei Massenfestspiele sowie einzelne, größtenteils verlorengegangene Dramen-Szenen und Vorstudien begründeten seinen Ruf als Dichter (das expressionistische Stationendrama Die Wandlung war bereits 1917/18 entstanden). Toller erklärte die Schaffensphase damit, dass er sich hier im Gegensatz zu den Briefen „einigermaßen Luft machen durfte“; das Drama bot ihm dabei in besonderem Maße die Gefühl und Verstand versinnbildlichende ästhetische Darstellungsform an. Gleichwohl brachte Tollers Gerechtigkeitsempfinden ihn oft in Konflikt mit der Gefängnisverwaltung, so dass Disziplinarmaßnahmen die künstlerische Arbeit behinderten.[1]

In der Weise, wie sich Toller von utopistischen Hoffnungen trennte und konkrete Kritik an gesellschaftlichen Missständen äußerte, veränderte sich auch seine Darstellungsweise: an die Stelle eines messianischen Expressionismus rückte zunehmend der Ton Neuer Sachlichkeit und das Experimentieren mit den unterschiedlichsten dramaturgischen und literarischen Stilmitteln. Dem gegenüber stehen seine frühen Dramen Die Wandlung und Masse Mensch (1917-1919). Hier wird über das Bühnengeschehen eine direkte Agitation angestrebt mit dem Ziel, einen gewandelten Menschen, eine gewandelte Gesellschaft zu verkünden.

Das Stationendrama Die Wandlung ist so auf die monozentrische Fixierung auf die Hauptfigur des jungen Friedrich angelegt, der auf der Suche nach Integration begeistert in einen Kolonialkrieg zieht und aufgrund erlebter Gräuel zum Pazifisten und „Neuen Menschen“ sich entwickelt. Einen logischen Aufbau der Handlung, eine chronologische Abfolge bzw. wirkliche Interaktion der Figuren (die Nebenfiguren sind namenlose Typen) gibt es nicht. Ebenso monologisch verläuft die Struktur in dem Stück Masse Mensch, wenn auch der Mensch in seinem inneren Widerspruch – Individuum und Masse zugleich zu sein – gezeigt wird. „Die Frau“ (Sonja Irene L.) lehnt jedwede Gewalt zur Veränderung der Gesellschaft ab und ist die eigentliche geistige Führerin, deren Aufgabe im Selbstopfer liegt.

Mit der Tragödie (Der deutsche) Hinkemann (1921/22) hatte Toller schließlich den notwendigen Schritt zur künstlerischen Distanzierung vom Expressionismus vollzogen. Erstmals spielt eines seiner Dramen in der Gegenwart, hat bezüglich Figuren, Thematik und zeitlich-räumlicher Darstellung einen direkten ‚wirklichen‘ Bezug. Zwar werden noch keine spezifischen Probleme wie in den Dramen der Weimarer Republik (Hoppla, wir leben!, Feuer aus den Kesseln und Die blinde Göttin) angesprochen, doch finden ein Ausverkauf expressionistischer Ideale sowie Spaltungstendenzen innerhalb des Proletariats statt, mithin Auflösungserscheinungen (Dissoziierungen), die die Figur Eugen Hinkemanns prägen.

In einer dramatischen Welt, die, anders als das Drama Barlachs, zwar den Satan, aber nicht Gott kennt, die, anders als das Drama Brechts, auch das sozialistische Zukunftsparadies relativiert, bleibt als einziger Wechsel auf die Zukunft die Dichtung als Aufruf zu einer Haltung des „trotzdem“: „Nur der Schwache resigniert, wenn er sich außerstande sieht, dem ersehnten Traum die vollkommene Verwirklichung zu geben. Dem Starken nimmt es nichts von seinem leidenschaftlichen Wollen, wenn er wissend wird. Not tun uns heute nicht die Menschen, die blind sind im großen Gefühl, not tun uns, die wollen – obwohl sie wissen.“[2]

Vom ‚blinden‘ „großen Gefühl“ ist in Hinkemann allerdings keine Rede mehr, dafür vom Wissen um die – wie Toller es ausdrückt – „tragische Grenze aller Glücksmöglichkeiten sozialer Revolutionen.“

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[1] Peinlich wurde die Zensur, wenn Maßregelungen der Gefängnisverwaltung im Nachhinein vertuscht werden sollten. Vgl. z.B. den mit „Das schlechte Gewissen“ überschriebenen Abschnitt in dem Band Justiz. Erlebnisse (1927): „Im Jahre 1921 wurde dem Festungsgefangenen Toller eine literarische Erzählung mit dem Titel Exekution beschlagnahmt und zu den Akten genommen. Die Erzählung sollte in eine Anthologie aufgenommen werden. Da Toller die Urschrift weggegeben hatte, bat er den Festungsvorstand, ihm wenigstens die zu den Akten genommene Abschrift wieder einzuhändigen. Der Bitte wurde mit folgendem Bescheid geantwortet: ‚Bewilligt, wenn Toller sich verpflichtet, niemals von der Tatsache der Beschlagnahme Erwähnung zu tun.‘“

[2] Nachwort von Wolfgang Frühwald in: Ernst Toller: Hinkemann. Eine Tragödie. Hg. von Wolfgang Frühwald. Stuttgart 1993, S. 87.

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