Eine Art Unfall. Erzählung von Johano Strasser

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© Amrei-Marie

Der vielfach ausgezeichnete Autor und ehemalige Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland, Johano Strasser, schreibt neben politischen Büchern auch Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Theaterstücke und Hörspiele.

Mit der folgenden Erzählung beteiligt sich Johano Strasser an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

*

Dass du nicht wenigstens mal kurz hineingegangen bist!

Sie sitzt sehr aufrecht, schaut über das Lenkrad hinweg auf die Autobahn.

Ich? Wo?, fragt er.

Na, in das Haus, wo du als Kind gewohnt hast.

Wozu? Die Leute, die da jetzt wohnen, kenne ich nicht. Was sollte ich dort?

Ich an deiner Stelle wäre hineingegangen, sagt sie.

Sie an seiner Stelle! Aber sie ist nicht an seiner Stelle. Sie ist weit weg, kann sich gar nicht vorstellen, wie das wäre: an seiner Stelle. Euer Papa möchte sich mal das Dorf ansehen, wo er als Kind gewohnt hat, hatte sie gesagt. Und sie? Was möchte sie? Sie ordnet sich seinen Wünschen unter, geduldig, verständnisvoll.

Ich verstehe, dass das für dich wichtig ist.

Für ihn ist es wichtig. Was für sie wichtig ist, sagt sie nicht.

Das Dorf. Als sie an den ersten Häusern vorüberfuhren, war ihm sofort klar, dass er ihr das nie würde erklären können, was er hier suchte und warum es gerade jetzt sein musste. Sie waren früher schon oft auf der Autobahn hier vorübergefahren, ohne dass er je auf den Gedanken gekommen war, sich das Dorf anzusehen.

Ich will den Kindern mal zeigen, wo ich als Kind gewohnt habe, sagt er.

Jan zumindest scheint interessiert zu sein.

Ist es hier, Papa?

Noch nicht. Noch ein kleines Stück.

Sie fahren langsam die leere Dorfstraße entlang. Eine Abzweigung, zwei einander gegenüberliegende Gasthöfe, eine Kurve, noch eine.

Da ist es.

Wo?

Das da vorn an der Ecke.

Da hast du gewohnt?

Ja, da hat er gewohnt. Sie sagt nichts, aber er sieht ihrem Gesicht an, was sie denkt: Schäbig, denkt sie. Schäbig und ohne Charakter. Das Fachwerk unter bröckelndem Putz verborgen, Fensterbreschen mit viel zu großen metallgerahmten Scheiben, die Westseite mit Eternitplatten verkleidet. Die beiden alten Linden, die früher davor standen, hätten den tristen Eindruck auch kaum wettgemacht. Sie hat Recht: schäbig und nichtssagend wie tausend andere Häuser auch.

Naja, sagt er. Jetzt habt ihr es gesehen. Jetzt fahren wir wieder.

Es ist schon spät und sie haben noch einen weiten Weg vor sich. Außerdem gibt es ja wirklich nichts zu sehen. Aber nun protestiert Jan und Maria stimmt ein: Aussteigen! Aussteigen! Sie wollen sich unbedingt das Haus aus der Nähe anschauen.

Na, du bist gut, sagt sie. Erst machst du die Kinder neugierig, und dann willst du gleich wieder weiterfahren.

Also aussteigen. Sie stehen am Straßenrand, sie mit Maria auf dem Arm, Jan neben ihm, Hand in Hand mit dem Vater. Das Haus, der sandige Platz daneben. Alles wie früher. Bis auf die Linden.

Hier, sagt er, haben wir als Kinder immer gespielt.

Fußball, sagt Jan.

Ja, Fußball und Schlagball und Völkerball und Pinn...

Pinn? Was ist Pinn, Papa?

Pinn ist ein Spiel.

Wie geht Pinn, Papa?

Pinn. Ja, wie soll man das erklären?

Hast du ein Taschenmesser?, fragt er den Jungen.

Ein Taschenmesser! Auch ohne hinzusehen, merkt er, wie sich ihr ganzer Körper spannt.

Also fragen kannst du! Woher soll der Junge ein Taschenmesser haben. Hast du ihm eins geschenkt?

Ihre Stimme. Sie ist auf einmal richtig heiser. Du lieber Himmel! Was hat er denn gesagt? Zu seiner Zeit hatten Jungen in Jans Alter ein Taschenmesser. Oder bildet er sich das nur ein? Mit einem Taschenmesser könnte er einen Stock von der Haselnussstaude dort drüben abschneiden, einen Pinn schnitzen und Jan zeigen, wie man Pinn spielt: Abschlag aus dem Kreis, Pinn hochnehmen, Doppelschlag... Gleich morgen wird er ihm ein Taschenmesser kaufen, das wird er dann am Nachmittag vorbeibringen, wenn Jan aus dem Kindergarten heimkommt oder am Abend, bevor er ins Bett geht.

Ja, also Pinn...

Aus den Augenwinkeln wirft er einen Blick zu ihr hinüber. Von ihr, das ist klar, ist keine Hilfe zu erwarten.

Weißt du was?, sagt er. Ich erkläre es dir nachher, wenn wir weiterfahren. Das ist ein bisschen kompliziert, weißt du? Ich will nur noch schnell einen Blick auf den Hof werfen.

Sie gehen an der linken Seite des Hauses entlang, um die Ecke. Der Hof. Wie ein Hof halt so aussieht. Der Göpel fehlt. Irgendwo hier war früher der Göpel. Das Pony mit den Augenblenden, das immer im Kreis herumging, mit hängendem Kopf immer im Kreis herum. Für einen Augenblick sieht er es ganz deutlich vor sich. Elende, immerwährende Ausweglosigkeit.

Als sie zurückkehren, sitzen die anderen schon im Auto und warten. Er öffnet die hintere Tür, lässt Jan auf die Sitzbank klettern, schnallt ihn an, taucht wieder auf, wirft die Tür zu, will die Vordertür öffnen, um sich ans Steuer zu setzen, öffnet sie auch einen Spalt weit –  da sieht er den Radfahrer.

Was ist? Steigst du nicht ein?

Das Knirschen der Kette, wenn der Mann das Pedal nach unten tritt. Das rechte Pedal. Das linke Bein bleibt gestreckt, steif, unbewegt. Vorn am Lenker hängt der Krückstock. Ein großer, schwerer Mann, dunkelblaue Joppe, blaue Arbeitshose, die Skippermütze tief ins Gesicht gezogen. Jetzt schaut er herüber, schaut und radelt mit knirschender Kette vorbei. Bevor er hinter der Kurve verschwindet, dreht er sich noch einmal um.

Was sagst du?

Er ist eingestiegen, hat den Motor angelassen, greift nach dem Gurt, um sich anzuschnallen.

Jetzt sollten wir aber langsam weiterfahren, sagt sie. Meinst du nicht?

Ja, natürlich, sagt er. Aber dann zögert er, weil ihm plötzlich noch etwas eingefallen ist.

Nur noch kurz zur alten Schule, sagt er. Liegt auf dem Weg. Eine Minute.

Wenden und wieder die Dorfstraße entlang, dorthin, wo der Radfahrer verschwunden ist. Das linke Bein, denkt er. Es war das linke Bein. Müsste jetzt auch Ende vierzig sein. Luke Kalmau... Dem Alter nach könnte er es gewesen sein.

Wie geht Pinn, Papa?

Gleich, mein Junge. Ich will nur mal schnell etwas anschauen. Bleibt sitzen. Bin gleich wieder da.

Das alte Schulhaus ist jetzt das Heimatmuseum. Daneben das Haus mit dem Walmdach, dort wohnten die Kalmaus. Er geht zur Tür, sieht das Namensschild neben der Klingel: Kalmau! Wohnt also tatsächlich immer noch hier. Und dort an der Wand steht auch sein Fahrrad. Ob Luke ihn erkannt hat? Nach all den Jahren?

Als er sich umwendet, um zum Auto zurückzukehren, hat er den Eindruck, dass er beobachtet wird. Die Gardine am Fenster unten, hat sie sich bewegt? Vielleicht steht er da drinnen am Fenster und schaut ihm nach, denkt sich sein Teil, ist vielleicht ganz froh, dass er wieder geht und ihm so die Peinlichkeit des Wiedersehens erspart.

Ach ja. Also Pinn... Also zunächst brauchst du mal ein Taschenmesser.

Sie hat eine Art, vor sich hinzuschauen, die ihn ganz nervös macht. Diese zur Schau gestellte geduldige Teilnahmslosigkeit hat ihn immer schon geärgert. Dabei entgeht ihr in Wirklichkeit nichts. Alles registriert sie, wartet nur darauf, ihm eins auswischen zu können.

Mit dem Taschenmesser, sagt er, schneidet man sich einen Stock, etwa einen Meter lang. So dick wie ein Besenstiel etwa, nur nicht so lang. Und dann schnitzt man sich einen Pinn. Das ist ein rundes Stück Holz von etwa zehn Zentimeter Länge, das an beiden Enden angespitzt ist. Sieht aus wie ein dicker Bleistift mit zwei Spitzen. Jetzt zeichnet man in den Sand einen Kreis von etwa einem Meter Durchmesser.

Durchmesser!, sagt sie. Wie soll der Junge denn das verstehen?

Er versteht mich ganz gut. Nicht wahr, du verstehst, was ich meine? Man zeichnet einen Kreis, in dem du und ich bequem nebeneinander stehen können.

In diesen Kreis stellt sich nun der eine Spieler, während der andere in zehn bis fünfzehn Metern Abstand steht und wartet. Ach ja, das habe ich vergessen: es können immer nur zwei Personen spielen. So, und jetzt kommt’s. Der, der im Kreis steht, schlägt den Pinn mit dem Stock so weit in die Richtung des anderen, wie er kann. Der andere...

Welcher andere?, fragt Jan.

Na, der, der als zweiter mitspielt, der in zehn, fünfzehn oder auch zwanzig Metern Entfernung steht, je nachdem, wie weit der erste den Pinn vermutlich schlagen wird. Der versucht also den Pinn zu fangen.

Fahr doch mal rüber auf die rechte Seite, sagt sie. Da will dich einer schon die ganze Zeit überholen.

Als ob er das nicht selber sieht! Was muss der denn hier überholen? Aber bitte, soll er doch gegen einen Baum rasen. ROW. Natürlich, ein Einheimischer. Das sind immer die Allerschlimmsten, denken, weil sie hier jeden Tag ein paar Mal entlang fahren...

Also der andere..., sagt er. Wenn der den Pinn fängt, macht er an der Stelle, wo er ihn gefangen hat, einen Strich, nimmt Anlauf und macht drei Sprünge auf den Kreis zu. Von dort versucht er den Pinn dann in den Kreis zu werfen. Gelingt ihm das nicht...

Meinst du nicht, dass du den Jungen überforderst? Das begreift doch kein Mensch mehr, was du da erklärst.

Sie schaut nicht zu ihm rüber, spricht einfach in die Luft.

Willst du es ihm erklären? Mach doch aus dem Jungen nicht immer einen Idioten. Er versteht ganz gut, was ich sage. Außerdem kaufe ich ihm morgen ein Taschenmesser und dann zeige ich ihm, wie es geht.

Na, das möchte ich mal sehen, dass du dir Zeit nimmst für den Jungen.

Schweigen. Beide schauen nach vorn auf die Straße.

Ist das wahr, Papa? Kriege ich ein Taschenmesser?

Ja, bekommst du. Also pass auf! Wenn der andere, der, der nicht den Pinn abgeschlagen hat, wenn der jetzt den Kreis nicht trifft, wenn der Pinn also irgendwo neben dem Kreis liegen bleibt, dann kann der Aufschlagende Punkte machen. Mit dem Ende des Stockes tippt er auf eine der Spitzen des Pinns, so dass der hochhüpft, und schlägt ihn dann so weit vom Kreis weg, wie er kann. Das darf er dreimal machen. Dann wird die Entfernung zum Kreis gemessen: jeder Meter ein Punkt. Ach ja, und dann gibt es noch den Doppelschlag. Ein Doppelschlag zählt zwanzig Punkte, ein dreifacher dreißig und so weiter. Wenn der eine seine Punkte gemacht hat, werden sie aufgeschrieben und der andere kommt mit Abschlagen dran. Immer abwechselnd...

Die Kinder sind eingeschlafen. Die Autobahn kaum befahren. Hinter ihnen geht rot und orange die Sonne unter. Luke Kalmau war der beste Pinnspieler von allen. Auch beim Schlagball und Völkerball war er der beste. Und beim Fasseloh war er überhaupt nicht zu kriegen, konnte Haken schlagen wie ein Hase. Vielleicht hätte er doch klingeln sollen, nur kurz Guten Tag sagen. Natürlich hatte Luke ihn erkannt. Sonst hätte er sich nicht umgedreht, als er auf dem Fahrrad vorüber fuhr.

Soll ich mal ein Stück fahren?, fragt sie.

Früher fuhr meistens sie, wenn sie zusammen unterwegs waren. Seine Art zu fahren, macht sie nervös. Sagt sie jedenfalls. Bitte, soll sie fahren. Ihm ist es egal.

Okay, sagt er. Er fährt auf den Rastplatz, steigt aus, vertritt sich die Beine.

Die Kinder sind gottseidank nicht aufgewacht. Es wird langsam dunkel, feine Nebelschleier senken sich auf das Wiesengrün. Wenn man sich das vorstellt, denkt er: wo der doch immer zur See wollte, Weltreisen, Abenteuer. Und jetzt hockt er immer noch in diesem Nest.

Dass du nicht wenigstens mal kurz hineingegangen bist, sagt sie.

Ich? Wo?

Na, in das Haus, wo du als Kind gewohnt hast.

Wozu?, sagt er. Die Leute, die da jetzt wohnen, kenne ich nicht. Was sollte ich dort?

Ich an deiner Stelle wäre hineingegangen, sagt sie.

Sie an seiner Stelle! Na, das hätte er sehen mögen! Hallo, Luke! Erkennst du mich noch? Was Luke wohl gesagt hätte? Gleich nach dem Abitur waren sie abgehauen, Sigi, Olli, Detlev. Er auch. Hamburg, München, Berlin. Sigi ging später in die Schweiz. Nur Luke blieb im Dorf. Er, der sich immer am weitesten fortgeträumt hatte.

Es war ein Unfall. Sigi hatte den Bunker entdeckt. Hatte einen komischen Nachnamen der Sigi: Meergans. Er hatte den Bunker entdeckt. Der Beton fast ganz mit Brombeergesträuch überwachsen, die Eisentür verrostet, ließ sich kaum öffnen. Alle fünf mussten sie ziehen, damit sie aufging. Drinnen kistenweise Gewehrmunition, Flakmunition, Stangenpulver, Blättchenpulver, abgepackt in kleinen Leinensäckchen. Als sie am Abend heimgingen, tarnten sie den Eingang mit Laub und Zweigen, und Luke ließ alle schwören, kein Wort davon verlauten zu lassen. Vor allem den Eltern gegenüber nicht.

Luke Kalmau, Sigi Meergans, Detlev Rockenfeld, Olli Baynczyk und er. Flüchtlingskinder. Unzertrennlich waren sie, spielten immer zusammen. Die Bauern wollten damals mit den Flüchtlingen nichts zu tun haben. Später änderte sich das. Obwohl: richtig heimisch wurden die Flüchtlinge nie im Dorf. Sind ja bald auch alle wieder fortgezogen. Bis auf Luke.

Er sitzt da mit geschlossenen Augen, schläft aber nicht. Dieser Unfall damals... Sie standen oben auf der Schotterstraße, als es passierte. Plötzlich flog der halbe Bunker in die Luft. Ein dumpfes Krachen, unter ihren Füßen zitterte der Boden. Dann kam schwarzer Qualm aus der Bunkertür, und sie hörten Luke schreien. Aber sie konnten nicht zu ihm hinein, weil ein Teil der Decke heruntergekommen war. Also liefen sie ins Dorf, um Hilfe zu holen. Mehrere Stunden dauerte es, bis ihn die Feuerwehr unter dem Beton hervorgeholt hatten. Der Arzt fuhr ihn gleich ins Krankenhaus nach Rotenburg.

Habt noch Schwein gehabt, sagte Sigis Vater. Der Luke hätte genauso gut tot sein können.

Später als Luke aus dem Krankenhaus gekommen war, spielten sie nachmittags immer auf dem Schulhof. Lukes Mutter stopfte ihm dann zwei Kissen in den Rücken und er saß hinter dem Fenster und sah ihnen zu. Bevor sie heimgingen, stellten sie sich immer vor seinem Fenster auf und blieben eine Weile so stehen, damit er sich ihre Gesichter einprägen konnte bis zum nächsten Tag. Dann musste Luke noch einmal ins Krankenhaus. Und als er wiederkam, hatte er ein Holzbein und zwei Krücken. Vielleicht hätte Luke auch mit seinem Holzbein Schlagball oder Pinn spielen können. Aber er wollte nicht. Er stand nur immer am Rand und sah ihnen zu.

Schläfst du?, fragt sie.

Nein, sagt er.

Was hätten wir denn tun sollen, denkt er. Wir konnten ihm sein Bein doch auch nicht wiedergeben. Wir waren Kinder, wir hatten doch gar keine Ahnung, was da alles passieren konnte. Der Bunker war unsere Räuberhöhle und Luke unser Räuberhauptmann, weil er der Stärkste und der Mutigste war. Er war es, der das Streichholz an die Pulverstange hielt, wenn wir schon alle platt auf dem Bauch, Hände über dem Kopf, hinter der Böschung lagen. Erst kurz bevor es krachte, schwang er sich neben uns, schrie: Unten bleiben! Dann kam die Explosion und wir hörten das Geschoß davonheulen.

Flakgeschosshülsen mit Blättchenpulver gefüllt, mit einem Stein fest ineinander geschlagen. Das eine Ende wird in die Erde gesteckt. Durch ein Loch, das man mit einem Nagel in die untere Hülse schlägt, steckt man eine Pulverstange. Streichholz dran und: wamm! Es war Ollis Idee, aber nur Luke traute sich, das Streichholz daran zu halten.

An dem Tag, als der Unfall passierte, regnete es und sie saßen im Bunker und wussten nicht, was sie mit sich anfangen sollten. Luke war hinten in dem kleinen Nebenraum, wo es einen Tisch gab und ein Regal und einen Schrank. Er kramte in Papieren herum, die er dort gefunden hatte. Die anderen saßen vorn an der Tür. Sie spielten mit dem Stangenpulver. Sigi zündete eine Stange mit dem Streichholz an, hielt sie in der Hand, bis die zischende Flamme sich seinen Fingern nähert, und warf sie dann zur Tür hinaus ins nasse Gras.

Los, jetzt du!, sagte er.

Ich?

Hast du Angst?

Er hielt die Pulverstange zwischen Daumen und Zeigefinger, sah, wie Sigi das Streichholz daran hielt, wie die Flamme gelb aufzischte.

Angst? Ich?

Zischend kroch die Flamme auf seine Finger zu.

Schmeiß sie weg!, rief Sigi. Aber er stand nur da, grinste ihn an. Er hatte keine Angst, er nicht.

Plötzlich ein stechender Schmerz. Er schrie, schlug um sich.

Bist du verrückt?, schrie Sigi. Alle schauten auf die zischende, glühende Pulverstange, die oben auf den Leinensäckchen lag.

Bloß weg hier!

Olli war der erste, der nach draußen lief. Oder Detlev. Alle rannten sie zur Tür hinaus, durch das nasse Gras bis zur Schotterstraße. Dort blieben sie stehen, horchten. Nichts. Vollkommene Stille. Plötzlich müssen sie lachen, können gar nicht mehr aufhören zu lachen, stehen da, lachen, halten sich den Bauch, Tränen in den Augen. Dann kracht es. Zuerst einige kleinere Explosionen, dann ein dumpfer Schlag, der die Erde zittern lässt. Als es wieder still ist, quillt schwarzer Rauch aus der Bunkertür und sie hören Luke schreien.

Wir sind bald da, sagt sie.

Er schreckt hoch, starrt sie einen Augenblick an, als wäre sie eine Fremde.

Soll ich dich absetzen oder kommst du noch mit? Sie wendet den Kopf, sieht ihn an. Zum ersten Mal. Er sieht müde aus. Müde und bedrückt.

Was ist? Ist was?, fragt sie.

Nein, nein, sagt er. Natürlich bringe ich die Kinder noch mit ins Bett. Und dann auf einmal: Dieser Radfahrer, weißt du, der mit dem Holzbein...

Welcher Radfahrer?

Als wir uns das Haus ansahen und Maria und du schon wieder im Auto saßt, da kam er vorbei. Hast du ihn nicht gesehen?

Nein. Was ist mit ihm?

Er war der beste Pinnspieler im Dorf. Luke Kalmau. Wir waren Freunde. Richtig geschwärmt habe ich damals für ihn. Nach der Schule wollte er zur See fahren, eine Weltreise machen, Abenteuer erleben. Und nun wohnt er immer noch dort. Ist das nicht schrecklich?

Du meinst, dass er unglücklich ist?, fragt sie.

Na, hör mal!, sagt er. In einem solchen Nest! Wo er doch immer wegwollte!

Sie lächelt. Warum lächelt sie jetzt? Ganz deutlich sieht er im Lichtschein eines entgegenkommenden Autos ihr Gesicht. Alle Härte ist daraus verschwunden. Ein feines, fast unmerkliches Lächeln. Ganz nach innen gewandt. Natürlich ist es nicht das Dorf. Unglücklich kann man überall sein. Vielleicht sollte ich ihr erzählen, denkt er, dass auch ich unglücklich bin, dass ich eigentlich gar nicht weggehen wollte damals, dass mir nur plötzlich alles so ausweglos erschien, sie, die Kinder und ich. Eigentlich, denkt er, wollte ich es gar nicht. Es geschah gegen meinen Willen. Erst als ich schon gegangen war, begriff ich, was sich zwischen uns zugetragen hatte: eine unaufhaltsame Entwicklung, ohne Täter, ohne Schuld. Eine Art Unfall.