Die „Dichterkolonie“ Ambach

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Benczúr Gyula-Ferienhaus in Ambach am Starnberger See, entworfen von Béla Benczúr, 1883-85

Einen Eindruck von der Bandbreite des ortsansässigen künstlerischen Ensembles gibt der Frank Wedekind-Enkel und gebürtige Ambacher Anatol Regnier:

Was ist in Ambach nicht alles passiert, wer hat hier nicht alles gewohnt? Angefangen von Waldemar Bonsels in seiner schönen Villa mit dem ungarischen Tor. [...] Wolfgang Hildesheimer hat hier gelebt und [...] seine Lieblosen Legenden hier geschrieben. Über das Werk des zeitweiligen Ambachers Herbert Achternbusch befragt, soll er gesagt haben: „Vor allen Dingen sehr interessant!“ Das weiß ich von Annamirl Bierbichler. Sie hat mir die Lieblosen Legenden einmal zum Geburtstag geschenkt und diesen Spruch als Widmung hineingeschrieben. [...] Ich erinnere den alten Herrn Linde, Enkel des Kühlschrankerfinders Carl von Linde. Im weißen Anzug besuchte er sein Ambacher Haus [...]. Im überdachten ersten Stock seines Bootshauses (kein anderes Ambacher Bootshaus verfügt über diesen Luxus) spielte er gelegentlich Streichquartett und trug dabei, um seine Mitspieler besser zu hören, Lederohren, mit Riemen um den Kopf geschnallt. Und ich erinnere dessen Enkel Helmut Linde, der zwölfjährig im See ertrank, bei einer Tour mit einem Paddelboot, das ihm seine Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hieß Marga Linde, war [...] damals die Vermieterin von Tilly Wedekind, meiner Großmutter, weshalb wir mehrere Sommer im Linde-Haus verbrachten. [...] Ich erinnere Sepp Bierbichler, als noch niemand wusste, dass er ein berühmter Schauspieler (und jetzt auch Autor) werden würde, und ich erinnere Patrick Süskind, der mit dem Damenrad seiner Mutter durchs Dorf fuhr, im Stehen, weil er zu klein war, den Sattel zu erreichen.

(Anatol Regnier: Wir Nachgeborenen. München 2016, S. 307f.)

Hotspot im 4000-Seelen-Dorf Ambach ist die Wirtschaft „Zum Fischmeister“ – oder auch einfach „Bierbichler“ genannt. Zur Bierbichler-Familie gehören Josef Bierbichler und seine Schwester Annamirl Bierbichler, in deren Wirtshaus Achternbusch von 1982 bis 1890 wohnt (2. Stock, Zimmer 18) – und mit Annamirl eine Liaison hat. Das Fischmeister-Lokal ist auch beliebter Sammelplatz für Schriftsteller wie Tilman Spengler, Tankred Dorst oder Johano Strasser, der in seinem Gedicht Der See seinen Eindruck von diesem abgelegenen Landstrich eingefangen hat:

So treu nach der Natur
Säumt Schilf den blanken See
Dass wir
Die Horizonte enger raffend
Noch einen halben Himmel
In die Sucher holen
Auf der Terrasse kommt
Und geht der Wind
Wir lassen dann und wann
Die Tassen sinken
Und halten uns
An unsrer Beute fest.

(Johano Strasser: Der See. In: Edwin Kunz: Starnberger Seeflimmern. Fischerhude 2012, S. 93.)

Regnier beschreibt die Vorgänge in der künstlerkolonieähnlichen Ortschaft:

Voran ging es [...] im Gasthaus „Zum Fischmeister“ der Familie Bierbichler. Michael, der älteste Gastwirt-Sohn, war Musiker geworden und dirigierte am Münchner Gärtnerplatztheater, Josef, sein jüngerer Bruder, Schauspieler an großen Bühnen, und Annamirl, die Jüngste, ein Star auf ihre Weise, entdeckt von Herbert Achternbusch, der mit ihr, ihrem Bruder Josef und anderen Ambachern neuartige, nie gesehen Filme drehte, die dem Begriff „Heimat“ eine neue Bedeutung gaben, oder sie auf ihre alte zurückführten, fern von Kitsch und Klischee, bitter, ursprünglich, hart und unsentimental. Die Wirkung war enorm, Ambach wurde zum Kultort, zum allseits bekannte Geheimtipp. Irgendwann verließ Achternbusch Frau und Kinder und zog bei Annamirl ein, zum Entsetzen ihrer Eltern, die gescheit und kunstinteressiert waren, aber sich mit solchen Verhältnissen nur schwer anfreunden konnten.

(Ebd., S. 204.)

Szekler-Tor von Julius Benczúr, um 1900.

Zwei der Bilder Achternbuchs hängen auch heute noch in dem Haus. Josef Bierbichler spielt wiederum in Achternbuschs erfolgreichstem Theaterstück Gust (1986) mit, das mehrere Jahre auf dem Spielplan der Kammerspiele steht. Zahlreiche Werke nehmen Bezug auf seinen mehrjährigen Wohnort, so auch namentlich Das Ambacher Exil. In dem Kapitel „Ambach“ schreibt er über seine Zeit im Fischmeister, über die Atmosphäre und die anderen Gäste und Bewohner.

Wenn ich schreibe, bin ich der Kaiser von China. Ansonsten sitze ich im Gefängnis. Oder umgekehrt. Ambach kommt vom altdeutschen Auinpah, was auf neubayerisch Auwezwick heißen würde – aber wer würde einen schon im Namen Unheil verkündenden Ort aufsuchen, wer ihm ein paar Fische abkaufen? Der Fisch war von Auwezwick, würde man sagen, wenn jemand an Gräten erstickt ist. Oder wenn einer bei einem Fischessen auch nur hustet, würde jemand vorbeugend sagen: Na, hoffentlich ist der Fisch nicht von Auwezwick. So bildete sich Ambach, und die Fische sind ohne Gräten.

(Herbert Achternbusch: Das Ambacher Exil. Köln 1987, S. 38.)

Die Abgeschiedenheit vor den Toren der Stadt befeuert auch die schriftstellerische Kreativität des Naturpoeten Waldemar Bonsels. Blickfang für die tagtäglichen Passanten am Uferweg ist das Szekler-Tor, das zum Grundstück eines Hauses führt, in dem heute eine Literaturagentur ansässig ist, die u.a. den Pumuckl von Ellis Kaut vertritt. Vormals hat dort jedoch der Biene Maja-Autor gewohnt. Ursprünglich errichtet worden war das Prachttor wiederum von dessen Vorbesitzer, dem Maler und Piloty-Schüler Julius Benczúr, für seine unter Heimweh leidende Frau Piroska. In diesem Kleinod genießt später Bonsels die von der Zivilisation unberührte Natur. So schreibt er in seinem Aufsatz „Am Starnberger See“ im Starnberger Land- und Seeboten (22. Feburar 1931): „Niemand würde, entzückt und befriedigt von der urweltlichen Abgeschiedenheit dieser Landschaft, glauben, daß kaum eine Stunde von diesen Gefilden entfernt, eine Weltstadt mit mehr als einer halben Million Menschen atmet.“ (Zit. nach Heißerer 2010, S. 147.)

Zum Schauplatz in Bonsels' Œuvre wird Ambach in seiner Mario-Trilogie (1928-1937). In dieser Abfolge wird auch Bonsels Interesse für die Naturmystik ersichtlich: Mario entdeckt das Wunder des Waldes im Zusammenleben mit der mütterlichen Personifikation der Natur, der alten Dommelfei.

Im sogenannten „Waldschlössl“ (heutiges Klinikum Wiedemann, Simetsbergweg 9, das aktuell in ein Seniorenstift umgebaut werden soll) wohnt wiederum von 1933 bis 1935 Ernst Wiechert (Die Hirtennovelle, 1935). Dokumentiert ist eine amüsante Begegnung mit Shalom Ben-Chorin (geb. Fritz Rosenthal), der sich auf seiner Flucht aus München in Bernried aufhält und mit dem Ruderboot nach Ambach kommt, um Wiechert zu besuchen. Bei seinem Eintreffen am Ufer trifft er diesen gerade bei einem Bad vor: „Unter diesen Umständen mußte es bestimmt lächerlich wirken, daß ich in meinem Kahn zeremoniös aufstand (wobei ich halb das Gleichgewicht verlor) und, mich verbeugend, sagte: ‚Habe ich die Ehre mit Herrn Wiechert?‘ – ‚Derselbe bin ich‘, sagte der Schwimmer und reichte mir die nasse Hand ins Boot.“ (Zit. nach ebd., S. 154.)

Ebenfalls im Waldschlössl residieren Wolfgang Hildesheimer und Walter Kolbenhoff – und bilden seinerzeit eine Art Kolonie in der Kolonie.

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Heißerer, Dirk (2010): Wellen, Wind und Dorfbanditen. Literarische Erkundungen am Starnberger See. München.

Kunz, Edwin (2012): Starnberger Seeflimmern. Fischerhude.

Quellen:

Herbert Achternbusch: Das Ambacher Exil. Köln 1987.

Anatol Regnier: Wir Nachgeborenen. München 2016.