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12.10.2023, 12:07 Uhr
Jürgen Bulla
Text & Debatte

„Giovanni und der Wein“. Ein Text von Jürgen Bulla

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Bild von Klaus Fedorow auf Pixabay

Giovanni Giovannese, Unternehmensberater in Mailand, ist nicht nur irgendwie erfolgreich, sondern schon so erfolgreich, dass es ihm gelegentlich vor sich selbst graut. Als ihn sein vergoldetes Herz sticht, geht der 52-Jährige zu seinem Leibarzt Dr. Sergio Conciescouciotto und erhält die Diagnose eines ausgeprägten Vorhofflimmerns, die ihn entsetzt, aber auch erleichtert, ist sie doch ein klares Signal, dass Giovanni seinem Leben eine Wende geben muss. Während der Dottore einige stehende Formeln der Entschleunigung und Entspannung spricht, flimmert aus Giovannis Herzgegend sein lang gehegter Traum herauf und nimmt vor den Augen Kontur an: ein kleines, pittoreskes Weingut, das ihn, den Ruhebedürftigen, zu Höchstleistungen antreiben soll. Eine besondere Herausforderung muss es sein, nicht dort, wo die anderen ehemaligen Unternehmensberater ihre sonnigen Güter haben, sondern im Trentino, in den Bergen auf ungefähr 600 Metern Höhe zwischen dem Adamello-Massiv und den imposanten Felsen der Brenta-Dolomiten. Eisig kalt fließt ein Gebirgsbach durch die kleine Gemeinde, die Giovanni im erfolgreichen Auge hat, und in den Bergwäldern über dem Ort leben Braunbären. Wem es hier gelingt, Wein anzubauen, und nicht nur einen irgendwie genießbaren, sondern den besten der besten, der darf sich den König der Winzer nennen, und nichts anderes ist Giovannis Ziel. Der Dottore rät ihm noch einmal eindringlich zur Ruhe zu kommen, und Giovanni Giovannese, dieser wild entschlossene Naturbursche, nickt eifrig.

Mit heroisch flimmerndem Vorhof kommt er nach Hause. Seiner treuen Ehefrau Pamela fällt sofort das lange nicht gesehene absolutistische Strahlen auf, das den gesamten Körper ihres Mannes ausleuchtet, und sie weiß, dass eine wichtige Entscheidung bereits unumstößlich getroffen ist. Es braucht eine Weile, bis Pamela, die Mailands Modewelt liebt, den Plänen Giovannis seufzend zustimmt. Am Ende hilft der bescheidene Hinweis auf den Ehevertrag, der Pamela doch recht wenig finanziellen Freiraum lässt.

Das Büro ist schnell aufgelöst, das Weingut nach wenigen Wochen erworben. Das alte Steinhaus mit den roten Fensterläden bringt Pamela nahe an einen Zusammenbruch, während Giovanni sein Glück kaum fassen kann. Ganz alleine will er Hand anlegen, ohne fremde Hilfe will er es schaffen, wie damals, als ihm die Erfüllung des sogno ricorrente italiano, des Italian Dream, gelungen ist, vom kleinen apulischen Fischerjungen hinauf in die klimatisierten Büros mit Hydrokulturen und Aquarien. Die Warnungen des Mailänder Dottore verhallen an den schroffen Felswänden des Trentino, und wenn Giovanni sie doch einmal leise hört, weist er auf die gute Luft, die reine Natur, die Freiheit des Atmens und des Denkens hin, eine Atmosphäre, in der die Arbeit keine Arbeit, sondern das pure Vergnügen sei.

Er balanciert Bretter mit der Anmut des Anfängers und fällt kopfüber in den Schlammboden vor dem Haus, rappelt sich auf und lobt das schlammige Landleben. Er fackelt nicht lang und fackelt versehentlich eine morsche Holztreppe ab, die ohnehin neu errichtet hätte werden müssen, und lobt die Entschlusskraft des Landmanns. Er schreitet sinnierend durch die Rebstöcke und lässt sich nicht beirren, als er nicht eine einzige Traube sieht. Denn die Natur, wie Giovanni weise erkennt, entscheidet selbst, wann und wie sie blühen will.

Da die Arbeiten nach mehreren Monaten erst in dem Maße fortgeschritten sind, dass das Dach des Hauses immer noch undicht, die als Verkostungsraum gedachte frühere Scheune immer noch unbegehbar ist, und der Weinberg immer noch brach liegt, gibt Giovanni Giovannese, der trotz seiner Unbeirrbarkeit ja auch mit sich reden lässt, dem Drängen seiner nicht durchgehend geduldigen Ehefrau Pamela nach und beschäftigt sowohl Handwerker als auch einen Önologen. Der Besagte, wohl wissend, dass sein Fachwissen unter den ehemaligen Unternehmensberatern überaus begehrt ist und ihn sexy macht wie eine Flasche Chateau Neuve du Pape in der Hand des guten alten Hemingway, lässt sich ziemlich lange bitten, versichert dann aber, dass all sein Handeln bis zum Zerreißen des letzten Nervs der ökologischen Nachhaltigkeit diene, dass selbstverständlich alles in Hand- und Fußarbeit erledigt werden könne, und spricht unter vorgehaltener Hand halb gönnerhaft, halb verschwörerisch einige Empfehlungen aus, deren Umsetzung die Welt des Weins in ihren Grundfesten erschüttern wird: „Resistente Rebsorten wie Solaris und Souviginier gris“, raunt er, „halten die Kälte aus und brauchen nur drei bis vier Monate Reifezeit. Damit machen wir einen Spumante, in dem die ganze Kühle und Mineralität der Trentiner Felsberge aufschäumt.“ Giovanni ist aus dem Häuschen, das nebenbei nebst Verkostungsraum allmählich Gestalt annimmt.

Die resistenten Trauben, nachhaltig angebaut, ungespritzt, handgelesen und fußgestampft, gedeihen tatsächlich prächtig, und so entsteht ein großartiger, handabgefüllter, limitierter Prädikatswein, der es bald in die einschlägigen Lokale schafft und im Internet reißenden Absatz findet. Auch Food-Journalisten, die gerne mit Wortspielen arbeiten, besuchen Giovannis Weingut und loben den Spumante. Kurzerhand lädt Giovanni Giovannese, der sich bald den König der Winzer nennen darf, die Journalisten und die Bewohner des Trentino zu einem Fest nach der Ernte ein, einer groß angelegten Verkostung. Pamela, die das Landleben zu genießen beginnt, kombiniert Gersten-Risotto mit gerösteten Pinienkernen und rollt Weinblätter, die mit Spressa-Käse, Kräutern und in Butter gebratenem Knoblauch gefüllt werden. Giovanni hält vor den zahlreich Erschienenen eine etwas zu lange Rede, in der er die Tatkraft seiner Frau, die Expertise des Önologen, die eigene Entschlossenheit und die regenerativen Fähigkeiten der Natur in den wolkenverhangenen Himmel lobt. Der Spumante wird großflächig entkorkt, und Giovanni will gerade zu einem Trinkspruch ansetzen, als ein blitzender Range Rover vorfährt, dem kein Geringerer entsteigt, als Vincenzo del Monte, Unternehmensberater in Mailand, und dereinst Giovanni Giovanneses erbittertster Konkurrent. Auf dem Beifahrersitz seine Gattin Marietta, um Etliches jünger, mit einem Ausdruck der größtmöglichen Indifferenz. Vincenzo hat einen Kamelhaarmantel umgeworfen und trägt eine Art überdimensionalen Cowboyhut über der dunklen Sonnenbrille. Giovanni ist wie vom Donner gerührt, und tatsächlich bahnt sich ein Gewitter an, als Vincenzo ihn mit großer Geste umarmt und schelmisch lächelnd von seinem neu erworbenen Weingut berichtet, nur zwei Hügel weiter. Er werde gelegentlich vorbeischauen und sich, falls nötig, ein paar Tipps geben lassen. Er starrt auf den Rücken des Önologen, der einige Meter entfernt am Büffet steht. Giovanni ist um Antwort verlegen und nicht unglücklich, als das Herbstgewitter einsetzt und die Gäste in ihre Autos treibt.

 

Was nun beginnt, ist mit dem Begriff eines Konkurrenzkampfs nur ungenügend beschrieben. Giovanni, mit einem Feldstecher bewaffnet, beobachtet aus einiger Entfernung das Treiben auf Vincenzo del Montes Gut, und seine Belustigung über den dort herrschenden Dilettantismus weicht schnell dem blanken Entsetzen über die rapiden Fortschritte des Neuankömmlings. Der hält mit seinen Weinen bald überall dort Einzug, wo Giovanni schon ist, und nicht mehr lange sein wird. Die Vorgänge bleiben Giovanni unverständlich, bis er über seine Späher und nicht schlecht bezahlten Hobbyagenten in der kleinen Gemeinde Tione di Trento erfährt, dass Vincenzo ihm mit hohen Gehaltsversprechen seinen Önologen abgeworben hat. Giovanni Giovannese, dem Loyalität über alles geht, stellt den Mann zur Rede und jagt ihn zum Teufel, d.i. der Nachbar Vincenzo. Hat dieser anfangs in Wortgefechten immer nur lächelnd betont, ein Herzkranker, Ruhesuchender zu sein, den die Streitlust Giovannis irritiere, so ist er schnell entschlossen, ganz andere Seiten aufzuziehen, als er Giovannis rasche Aufholjagd mit Hilfe gleich mehrerer neuer Önologen erlebt. Die Härte und Schonungslosigkeit, die permanente innere Unruhe und ungesunde Hetze aus Mailands Bürotürmen sind bald wieder erreicht.

Beide Winzer schicken ihre Leute durch die Weinberge, durch die Bars in Tione und anderen Dörfern, sogar durch die Wälder zu den Bären, um auch über die kleinste Feindbewegung informiert zu werden. Gebannt verfolgen die Einwohner von Tione den Machtkampf und im gesamten Trentino werden Wetten abgeschlossen. Giovannis Feldherrnhügel ist eine glänzend gewählte Erhebung, von der er drei Dörfer und Vincenzos Weingut einsehen kann. Der Feldstecher thront dort oben auf einem Stativ wie das Feldzeichen einer römischen Legion. Im Volksmund heißt der Hügel nun il colle di odio. Vincenzo bezieht Stellung auf dem gegenüberliegenden Hügel, genannt il colle di sospetto. Die beiden beäugen einander oft stundenlang, ohne sich zu rühren, aber mit immer lauter schlagendem Herzen.

Die Zeit der Handlese, auch von Vincenzo zum heiligen Grundsatz erhoben, ist in kürzester Zeit vorüber. Spricht sich herum, dass Vincenzo einen Lehner 12 Volt Kombistreuer verwendet, ordnet Giovanni die Anschaffung mehrer Lehner 12 Volt Kombistreuer an. Hat Giovanni die neuesten Rebscheren und Bindegeräte, muss Vincenzo technisch noch mehr verfeinerte Geräte finden. Vincenzos Doppelturbine entlockt Giovanni ein müdes Lächeln. Er hat beinahe so viele Doppelturbinen im Einsatz, wie sein Weinberg Rebstöcke zählt, von den Laubschneidern, Spatenmaschinen und Bodenfräsen ganz zu schweigen, und die wendbaren Traktoren von Carraro knattern Tag und Nacht mit einem Lärm über die Hügel, der den braven Bürgern von Tione den Schlaf raubt, und sie an das Jüngste Gericht denken lässt.

 

Der Kampf geht ohne nennenswerte Gewinne und Verluste auf beiden Seiten weiter. Die Beschwichtigungen der Ehefrauen bleiben im selben Maße ungehört, wie das Vorhofflimmern beider Winzer stärker, und der Herzschlag lauter und unregelmäßiger wird. Nächtliche Sabotageakte an Maschinen und Wasserleitungen, einmal sogar ein Brandanschlag, der jedoch Dritten in die lehmigen Schuhe geschoben wird, befördern die Gesundheit der Streithähne ebenfalls nicht, wenngleich beide in kleinen Pausen mit stockendem Atem noch immer die Landluft preisen.

An einem überheißen Augusttag stehen Giovanni Giovannese und Vincenzo del Monte in der flimmernden Hitze auf ihren Hügeln, stützen sich ächzend auf Gehhilfen, bleich und schwitzend, und nehmen den jeweils anderen nur verschwommen, gleich einer Fata Morgana war, obwohl sie wissen, dass der Kontrahent allzu real und allseits präsent ist. Beide sticht das Herz noch mehr, seit sie das unbestätigte Gerücht vernommen haben, dass ihre Ehefrauen, des endlosen Feldzugs müde, sich in einem Akt des Hochverrats verbündet haben sollen. Da zieht ein Trockengewitter auf, ein Blitz fährt vom Himmel, taucht beide in ein grelles Licht und scheint sie an den Schläfen zu streifen. Giovanni Giovannese und Vincenzo del Monte sacken in die Knie und fallen unter lautem Stöhnen ein paar Meter weit die steilen Hänge hinab. Inmitten ihrer Weinstöcke kommen sie zu liegen, zwei erschöpfte Arbeiter im Weinberg des Herren. Am Ende fällt es schwer zu sagen, ob der Herr es war, der den Blitz sandte, oder der Gott des Weines Bacchus ihnen jene Ruhe gab, die sie nicht gesucht haben.

 

Jürgen Bulla (* 1975 in München) studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie, um zunächst als Deutsch- und Englischlehrer zu arbeiten. Seit 1995 begann er Gedichte und Prosatexte in Zeitschriften und Anthologien zu veröffentlichen. Außerdem liegen Übersetzungen englischsprachiger Lyrik von ihm vor. Bulla ist Kurator der Lesereihe „Season II“ und Mitveranstalter der Lesereihe „Lyrik im Caveau“. Daneben hat er sich als Mitveranstalter des Müchner Poetry Slam im Substanz engagiert und redaktionell bei verschiedenen Ausgaben der Lyrik-Zeitschrift Das Gedicht gearbeitet. 2004 erhielt er das Aufenthaltsstipendium der Staatsregierung Schleswig-Holstein im Künstlerhaus Kloster Cismar.