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03.07.2023, 12:04 Uhr
Andrea Heuser
Text & Debatte
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(c) C.H. Beck

Über Uwe Neumahrs Bestseller "Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg '46. Treffen am Abgrund"

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Schloss Faber-Castell in Nürnberg. Bild von Karl-Heinz Lüpke auf Pixabay

Sie kamen, um zu berichten von den Gräueln des Krieges und des Holocausts: Wohl nie waren so viele berühmte Schriftsteller und Reporterinnen aus aller Welt unter einem Dach versammelt wie in Nürnberg 1946, die auf Schloss Faber-Castell wohnten, diskutierten und schrieben. Der Germanist Uwe Neumahr erzählt ihre Geschichte in seinem kürzlich erschienenen Buch und SPIEGEL-Bestseller Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg '46. Treffen am Abgrund (C.H. Beck). Die Autorin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Andrea Heuser hat es für uns gelesen und rezensiert.

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Herbst 1945, Stein bei Nürnberg. Inmitten der desolaten Zustände eines zerstörten und besiegten Deutschlands, der sogenannten ‚Stunde Null‘, wird durch den Auftakt der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nicht nur Nürnberg zu einem „deutschen Schicksalsort“, auf den im folgenden Jahr die ganze Welt voller Erwartungen schaut, sondern auch Stein. Denn dank der dort logierenden weltberühmten Schriftsteller, Journalisten und Reporterinnen entstanden in der Enklave des Press Camp, des ‚Bleistiftschlosses‘ der Grafen Faber-Castell, eindringliche Zeugnisse der zeit- und prozessgeschichtlichen Ereignisse.

Uwe Neumahrs überaus lesenswertes Sachbuch Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg '46. Treffen am Abgrund erzählt auf ebenso anschaulich-fesselnde wie informative Weise die Geschichte dieses Presselagers und seiner prominenten Bewohnerinnen und Bewohner. Als Chronisten und Chronistinnen des Prozessgeschehens versuchten u.a. Erich Kästner, Erika Mann, John Dos Passos, Boris Polewoi, Martha Gellhorn, Augusto Roa Bastos, Peter de Mendelssohn, Ilja Ehrenburg, Janet Flanner, Rebecca West, Willy Brandt und Wolfgang Hildesheimer sich diesem historisch und juristisch einmaligen Ereignis auf literarischen, bildnerischen und journalistischen Wegen anzunähern. Ein Geschehen, das aufgrund der schier unfassbaren Dimensionen des dort verhandelten Grauens allerdings oft genug die Grenzen des Vermittelbaren und Verkraftbaren sprengte.

Das Schloss der Schriftsteller war also der Ort, an dem die intellektuelle Prominenz aus Ost und West während der Prozesse nicht nur wohnte und schrieb; wo sie diskutierte, stritt und angesichts der verhandelten Verbrechen verstummte. Man kam auch sozial zusammen; tanzte, trank, ging Affären ein, knüpfte Freundschaften.

„Der Nürnberger Prozess veränderte die Menschen, die ihnen beiwohnten. Damit einhergehend änderte sich auch der Schreibstil der Berichterstatter“ – so Neumahrs Resümee. Während beispielsweise Janet Flanner, die von ihrer Leserschaft gerade für ihre witzig-pointierten Finalsätze sehr geschätzt wurde, auffallend zurückhaltend über das Tribunal schrieb, wirkten die Berichte der sonst so temperamentvoll-agitatorisch schreibenden, ehemaligen Kriegsberichterstatterin Martha Gellhorn ungewöhnlich formalisiert und spröde, als handele es sich bei ihren Prozessberichten lediglich um eine Pflichtübung. Erich Kästner wiederum begründete die für ihn untypische Wortkargheit seiner Streiflichter aus Nürnberg mit dem Unvermögen, einen adäquaten Ausdruck für die Dimension der Verbrechen zu finden. Die Aporie von Darstellungsgebot und Darstellungsnot brachte er hingegen prägnant auf den Punkt: „Die Gedanken fliehen, so oft sie sich der Erinnerung an die Filmbilder nähern. Was in den Lagern geschah ist so fürchterlich, dass man darüber nicht schweigen darf und nicht sprechen kann.“

Entthronte Götter und streitlustige Korrespondentinnen

Interessanterweise lässt sich bei aller unterschiedlichen Stilistik und Herangehensweise der Autorinnen und Autoren an die Prozessberichte ein gemeinsamer Hang zur minutiösen Beschreibung der Angeklagten feststellen. Sie wirkten laut Neumahr „geradezu besessen davon, Mimik, Gestik und Verhalten der entthronten Götter zu beschreiben.“ Peter de Mendelssohn zufolge glichen die Admiräle Dönitz und Raeder etwa „zwei arbeitslosen Straßenbahnschaffnern“ und Göring einem „Platzanweiser im Kino.“ Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass es sich hierbei um eine Art Kompensationsmechanismus handelte; den Versuch, die bürokratisierte Vernichtungsmaschinerie des NS-Terrorregimes in Einzelpersonen greifbar, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in menschlichen Gesichtern sichtbar zu machen, an ihnen die später vielbeschworene „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) durchzuexerzieren.

Es ist ein großer Lektüregewinn, dass der versierte Germanist Neumahr auf Basis der bereits vorliegenden Materialien – insbesondere Steffen Radlmaiers bildreicher Broschüre Das Bleistiftschloss als Press Camp sowie der von Radlmaier herausgegebenen Anthologie Der Nürnberger Lernprozess – mittels bislang unveröffentlichter Briefe und Nachlässe (u.a. von Erika Mann und Peter de Mendelssohn) weitere Quellen erschließen konnte. Denn die zahlreichen, gekonnt eingeflochtenen Anekdoten und „O-Töne“ tragen sehr zur Farbigkeit und Anschaulichkeit der Informationen rund um das Press Camp bei, von dem man tatsächlich ein recht klares Bild bekommt.

Besonders die Briefe des für die Organisation des Press Camps zuständigen US-Offiziers Ernest Cecil Deane an seine Frau zeichnen ein plastisches Bild seiner Gäste; ihrer Launen und Neigungen. Die sich harsch und streitlustig beschwerende Erika Mann etwa – „eine völlig vitaminlose Büchsenkost, die wir uns bieten lassen müssen […], ziemliche Kälte und viel Verdruß“ – kommt bei ihm nicht sehr gut weg: „… und ich hoffe, ich muss so etwas nie mehr erleben! Korrespondentinnen sind im Allgemeinen ein Problem, und einige der am gestrigen Treffen Beteiligten, darunter Higgins, Knox und Mann, sind es besonders.“

Zutritt für Deutsche verboten

Zu den Verdiensten dieses Buches zählt zudem, dass es den Anteil, den die weiblichen Journalisten und Reporter an der männerzentrierten Prozessberichterstattung hatten, klar herausstellt. Das galt freilich nur für die Alliierten. Ausgehend von der Kollektivschuld der Deutschen waren Deutsche nicht nur generell von der Prozessführung ausgeschlossen. Auch als Korrespondenten war nur eine kleine, von den Alliierten legitimierte Auswahl an deutschen Berichterstattern überhaupt zugelassen. Und allein für die Männer formulierte der spätere Bundespräsident und damalige Chefredakteur der Rhein-Neckar-Zeitung, Theodor Heuss, dann die Hoffnung: „… dass deutsche Männer unter freier Verantwortung gegenüber der Militärregierung wie gegenüber dem deutschen Volke versuchen können, selber die Sinndeutung des deutschen Schicksals aufzunehmen.“ Die Unversöhnlichkeit gegenüber allem Deutschen spiegelte sich auch im Press Camp. Am Schloss der Schriftsteller war ein Schild angebracht mit der Aufschrift: Zutritt für Deutsche verboten.

Dennoch konnten die Gegensätze im Bleistiftschloss herausfordernder und schillernder nicht sein. Und das Buch entfaltet seine größte Stärke dort, wo es dieses Zusammentreffen zwischen Ost und West vor dem Hintergrund des sich langsam anbahnenden ‚Kalten Krieges‘, zwischen Kommunisten und Kapitalisten, zwischen Mitläufern, Opfern und Tätern, Männern und Frauen, Geliebten und Konkurrenten nicht nur berichtend auffächert, sondern mit Zitaten aus Briefen und Tagebüchern, mit Anekdoten erzählerisch lebendig werden lässt. Es war, dieser Eindruck stellt sich schnell ein, in der Tat ein Treffen am Abgrund. Sehr bewegend liest sich in diesem Kontext etwa die Wiederbegegnung von Erika Mann und W. E. Süskind, der von Mann mit seiner bequemen Haltung der ‚inneren Emigration‘ konfrontiert wird: „Süßkind, derweilen, verdiente nicht übel, musste auch nicht in den Krieg, sondern lebte beschaulich auf seinem neuen und hübschen Landsitz am Starnberger See.“

Neben all dem Berichteten schärft Neumahrs erzählerisch-einfühlsames Sachbuch aber auch den Blick für das, was ausgespart, was versäumt wurde. Wie etwa Erich Kästners Versprechen an Peter de Mendelssohn, ein Buch über das Leben der Deutschen unter Hitler zu schreiben. Kästner schrieb dieses Buch nie. Zu vermuten steht, dass es Kästner zu sehr mit seiner eigenen unbewältigten Haltung zur ‚inneren Emigration‘ konfrontiert hätte. Hier würde man angeregt durch die Lektüre des Schlosses der Schriftsteller gerne ‚weitergraben‘; als Leser zum Archäologen werden, so wie Walter Benjamin ihn einst beschrieb. Weitere Schichten freilegen, erinnernd aufdecken im Bodenreich der Künstlerbiographien, wo Zeitgeschichte und Literaturgeschichte den Humus für das gegenwärtige demokratische, gesellschaftspolitische Deutschland bilden.

Prozessgeschichte und Kollektivbiographie

Die seriengewohnten Leserinnen und Leser erfreuen sich zudem an einer Reihe aufschlussreicher Prequels: Wer zum Beispiel war der Journalist Willy Brandt; wie sprach und agierte er, lang bevor er Kanzler wurde?

Uwe Neumahr hat sich mit dem Schloss der Schriftsteller viel vorgenommen. Den hohen Anspruch Prozessgeschichte mit Literatur- und Zeitgeschichte zu verknüpfen und zugleich eine Kollektivbiographie der Press Camp-Schriftsteller zu schreiben, löst er methodisch und vor allem inhaltlich in seiner Verknüpfung von einleitendem Analysebericht über das Schloss, die internationale Nachkriegspresse und ihre zeithistorische Verortung sowie mit den darauffolgenden Einzelessays zu den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern durchaus ein. Fußnoten und Literaturverzeichnis sorgen für die entsprechende Bodenhaftung.

Dass der Autor allerdings dem Prozess selbst und nicht etwa dem Schloss die Rolle des „Regisseurs“ und des „Hauptdarstellers“ zuweist, überzeugt hingegen etwas weniger – da bleiben Desiderate offen. Hier hätte man sich durchaus mehr Details und noch tiefere Einblicke gewünscht. Gerade weil der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess früh und dann beständig fiktionalisiert wurde, tat es sicher not, noch einmal auf darauf zu verweisen, dass die Hauptzeit des Prozesses von Langeweile und Aktenvorträgen geprägt war. Dennoch ist und bleibt auch nach dieser Lektüre immer noch der Eindruck bestehen, den Max Lerner so treffend formuliert hat: „Nürnberg ist immer noch der Prozess, den niemand kennt.“

Die eigentliche Hauptrolle in diesem unbedingt weiter zu empfehlenden Sachbuch fällt daher klar den „Sidekicks“ des Prozesses zu: den Schriftstellern. Sie, die Grauzone zwischen Prozess- und Zeitgeschichte so widersprüchlich, so erfolgreich wie scheiternd auslotend, bilden die schillernde Spitze des Bleistifts. Sei er nun von Faber-Castell, oder nicht.

 

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg '46. Treffen am Abgrund. München 2023, C.H. Beck Verlag, 304 S., 26,00 Euro, ISBN 978-3-406-791-451.