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10.04.2013, 10:25 Uhr
Joachim Schultz
Oskar Panizza-Reihe
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Oskar Panizza schuf mit der satirisch-grotesken Himmelstragödie "Das Liebeskonzil" (1894) den Anlass für einen der skandalösesten Blasphemieprozesse der deutschen Literaturgeschichte. Seit Oktober 2012 liest Joachim Schultz wöchentlich Werke von Oskar Panizza und begleitet ihn auf seinen Lebensstationen.

Panizza-Blog [26]: Der Deutschen geisteskranker Stier

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Wilhelm II.: Ein geisteskranker Stier? Aus dem Band "Chronik 1914" (Harenberg 1989), S. 131.

Panizza isoliert sich immer mehr. 1899 veröffentlicht er dann noch ein Buch, das diese Entwicklung beschleunigt. Der Titel: Parisjana. Deutsche Verse aus Paris. Hier eine Kostprobe:

Wo bist Du, Deutschland?
O, in Deinen Tannen
der dunkle und geheime Flüsterwind,
in dem du deine Seele auszuspannen
gewohnt, und der so freundlich und so lind,
er rauscht nicht mehr –
die Geister all entrannen
vor einem Nordwind eisig und geschwind...
Du Büffelherde, trotzig-ungelenke,
die durch die Wälder raset mit Gestank,
folgst heute einem einz'gen Stier zur Tränke,
und dieser Stier ist geisteskrank.

Wegen Majestätsbeleidigung kam man damals leicht ins Gefängnis. Man denke an den Fall Frank Wedekind, der 1895 wegen seines Gedichts „Palästina-Ausgabe“ zu sieben Monaten Festungshaft verurteilt wurde. Den deutschen Kaiser Wilhelm II. als geisteskranken Stier zu bezeichnen, war schon arg, auch wenn es Stimmen gab, die sagten, dass Panizza nicht ganz Unrecht habe. Kurt Tucholsky hat sich später in diesem Sinne geäußert. In einem 1919 erschienenen Artikel schreibt er: „Und als Mahnung und Aufschrei klingt durch die ungestüm polternden und holpernden Verse [...] die Aufforderung an seine Deutschen: Tut etwas! Seid aktiv und tut etwas!“ Was tun die Deutschen? Eine internationale Fahndung wegen Majestätsbeleidigung wird ausgeschrieben. Panizza ist in Paris nun erst mal nicht zu fassen. Vermutlich erhofft er sich Unterstützung durch seinen alten Freund Michael Georg Conrad, die dieser ihm beim Liebeskonzil noch gewährt hat. Doch Conrad steht nun auf der anderen Seite. Er schreibt in der Gesellschaft (Heft 2. Januar 1900, S. 127f.) eine Rezension, in der er seine Ablehnung mehr als deutlich formuliert. Für ihn sind diese Gedichte „undeutsch“ und ein „Verbrechen an der Zivilisation“, „Material für den Irrenarzt“ (vgl. Michael Bauer: Oskar Panizza. München: Hanser Verlag, S. 208). Vermutlich hat er Angst, selber belangt zu werden, wenn er diesen Majestätsbeleidiger unterstützt. Der Aufforderung Panizzas in den folgenden Versen wäre er mit Gewissheit nicht gefolgt:

O Musen flieht aus dem Bereiche
der deutschen Pikelhaube fort,
schürzt Euch, und flieht aus seinem Reiche,
wo man Euch knebelt Reim und Wort –
das Veilchen und die deutsche Eiche
gedeihen auch an and'rem Ort [...].

Auch sonst konnte niemand in Deutschland dieser Aufforderung folgen, denn das Buch kam nie dort an: alle seine Schriften wurden beschlagnahmt. Panizza selber war vorerst nicht zu fassen, er lebte als Staatenloser im Ausland. Aber er wird nun steckbrieflich gesucht. Und er hat einen neuen Feind gefunden: den deutschen Kaiser!

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