Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 37: Elisabeth Freundlich, Wir waren ja wahnsinnig, damals (1948)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
„Die Wahrheit kann man nicht in Worten ausdrücken, sondern nur durch ein ganzes Menschenleben“, schreibt Elisabeth Freundlich in ihren Lebenserinnerungen. Und dieses Leben hat es wahrlich in sich. Elisabeth Freundlich wird 1906 in Wien in eine großbürgerliche jüdische Familie hineingeboren. Ihre Mutter Olga ist eine geborene Lanzer, ihr Vater der sozialdemokratische Rechtsanwalt Jacques Freundlich, der Mitglied des Verfassungsgerichtshofes ist sowie Mitbegründer und Präsident der Arbeiter-Zentral-Bank-AG.
Elisabeth Freundlich verlebt eine behütete Kindheit, besucht das Gymnasium und studiert nach der Matura Germanistik, Romanistik, Kunst- und Theatergeschichte an der Wiener Universität. Promoviert wird sie mit einer Arbeit über Clemens Brentano und die Bühne. Während dieser Zeit ist sie Mitglied des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs. Anfang der 1930er Jahre interessiert sie sich für das Theater und den Film und beginnt zu schreiben. So ist sie von 1932 bis 1933 Mitarbeiterin der Zeitschrift Die Wiener Weltbühne. Die Arretierung ihres Vaters 1934 politisiert Elisabeth Freundlich. Sie unterstützt deutsche und spanische Friedensinitiativen und Hilfskomitees.
Am 11. März 1938, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Österreich, flieht sie mit ihren Eltern aus Wien über Zürich nach Paris: „Wir waren Juden und Sozialdemokraten, Grund genug, uns schleunigst auf und davon zu machen.“ Zwei Schwestern der Mutter werden über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, von ihrer jüngeren Schwester in Berlin fehlt später jede Spur.
1938 gründet Elisabeth Freundlich in Paris zusammen mit Franz Werfel, Joseph Roth und Alfred Polgar die Ligue de l'Autriche Vivante (Liga für das geistige Österreich). Nach Kriegsausbruch 1939 schreibt sie Beiträge für die Österreich-Sendungen des Deutschland-Programms im französischen Rundfunk und für die zweisprachige Exilzeitschrift Nouvelles d´Autriche. Wie Elisabeth Freundlich später in ihren Erinnerungen Die Fahrenden Jahre schreibt, ist dies einer der prägendsten Abschnitte in ihrem Leben.
Mit Hilfe eines US-Notvisums des Emergency Rescue Commitees, das sie durch Zufall über einen Parteifreund ihres Vaters erhalten, gelingt ihr und ihren Eltern im Herbst 1940 die Ausreise in die USA. Wie zahlreiche Emigranten müssen sie dazu über die Pyrenäen nach Spanien fliehen. Sie nimmt an der Columbia University in New York das Studium der Bibliothekswissenschaften auf. Danach arbeitet sie als Sachbearbeiterin im Metropolitan Museum of Art, als Lektorin in Princeton und am Wheaton College in der Nähe von Harvard, ehrenamtlich auch als Feuilletonredakteurin bei der in New York erscheinenden Monatszeitschrift Austro-American-Tribune.
Zu dieser Zeit entsteht ihre eindringliche Erzählung Invasion Day (Titel der Neuauflage: Wir waren ja wahnsinnig, damals), die auf Vermittlung von F. C. Weiskopf erstmals unter dem Pseudonym Elisabeth Lanzer 1948 in Deutschland veröffentlicht wird. Der Text ist einem „O. B.“ gewidmet, „Mitglied der Internationalen Brigaden gefallen bei Teruel im Juli des Jahres neunzehnhundertsiebenunddreißig“. Darin blickt die Fotografin Leni aus Österreich auf ihre Zeit im antifaschistischen Widerstand in Europa zurück:
„Aber es war auch viel echte Bitterkeit in seiner Stimme, als er fortfuhr: ‚Blum, das Nichtinterventionsgesetz. Wenn wir nur Waffen hätten!‘ ‚Lass nur‘, hatte sie eifrig erwidert, ‚wir schaffen es schon.` Und hatte zu erzählen begonnen, von Kampagnen, von Massenmeetings, von Protestaktionen der französischen Arbeiter für Waffenlieferungen an die Loyalisten in Spanien, von all den Dingen, die er versäumt hatte, weil er in Spanien wirklich dabei gewesen war.“
Kampfgefährten, gefallene Soldaten, Emigranten, Deportierte – viele Schicksale blitzen in ihren sprunghaften Erinnerungen auf, enttäuschte Hoffnungen, „dass es allerhand Risse und Sprünge im Gemäuer“ des aufkeimenden Nationalsozialismus gebe, an die Arbeit im Untergrund, Inhaftierungen und Folter. Europa brennt, überall gibt es Flucht und manchmal auch Rettung. Für Leni führt sie über Paris und Brüssel letztlich in eine Blockhütte in den kanadischen Wäldern, wo sie sich entschließt, zukünftig als Schriftstellerin zu arbeiten. Am 6. Juni 1944, als alliierte Truppen in der Normandie landen, kommt der plötzliche Umschwung: Sie muss zurück nach Deutschland, zurück zu den kämpfenden Freunden.
1945 heiratet Elisabeth Freundlich den aus Breslau stammenden Schriftsteller und Philosophen Günther Anders, den Ex-Mann von Hannah Arendt. Beide kehren 1950 nach Wien zurück, lassen sich aber 1955 scheiden. Wie andere Rückkehrerinnen aus dem Exil hat Elisabeth Freundlich es nicht leicht, für ihre Texte einen Verlag zu finden. Sie arbeitet als Kulturjournalistin für den Mannheimer Morgen und die Frankfurter Hefte und berichtet als Gerichtsreporterin über NS-Prozesse in Österreich. Ab 1978 ist sie nur noch als freie Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. 2001 verstirbt sie in einem Wiener Pflegeheim und wirde im Grab der Eltern in Zürich beigesetzt.
Elisabeth Freundlich: Wir waren ja wahnsinnig damals. Erzählung. persona verlag, Mannheim 2022 (Neuausgabe der 1948 unter dem Pseudonym Elisabeth Lanzer erschienenen Erzählung Invasion Day)
Lesen Sie nächste Woche über einen Roman, der das nationalsozialistische Wien aus der Mitte des Unheils existenzieller Bedrohung und mit stilistischer Drastik schildert, aber erst siebzig Jahre nach seiner Entstehung erscheinen konnte.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 37: Elisabeth Freundlich, Wir waren ja wahnsinnig, damals (1948)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
„Die Wahrheit kann man nicht in Worten ausdrücken, sondern nur durch ein ganzes Menschenleben“, schreibt Elisabeth Freundlich in ihren Lebenserinnerungen. Und dieses Leben hat es wahrlich in sich. Elisabeth Freundlich wird 1906 in Wien in eine großbürgerliche jüdische Familie hineingeboren. Ihre Mutter Olga ist eine geborene Lanzer, ihr Vater der sozialdemokratische Rechtsanwalt Jacques Freundlich, der Mitglied des Verfassungsgerichtshofes ist sowie Mitbegründer und Präsident der Arbeiter-Zentral-Bank-AG.
Elisabeth Freundlich verlebt eine behütete Kindheit, besucht das Gymnasium und studiert nach der Matura Germanistik, Romanistik, Kunst- und Theatergeschichte an der Wiener Universität. Promoviert wird sie mit einer Arbeit über Clemens Brentano und die Bühne. Während dieser Zeit ist sie Mitglied des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs. Anfang der 1930er Jahre interessiert sie sich für das Theater und den Film und beginnt zu schreiben. So ist sie von 1932 bis 1933 Mitarbeiterin der Zeitschrift Die Wiener Weltbühne. Die Arretierung ihres Vaters 1934 politisiert Elisabeth Freundlich. Sie unterstützt deutsche und spanische Friedensinitiativen und Hilfskomitees.
Am 11. März 1938, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Österreich, flieht sie mit ihren Eltern aus Wien über Zürich nach Paris: „Wir waren Juden und Sozialdemokraten, Grund genug, uns schleunigst auf und davon zu machen.“ Zwei Schwestern der Mutter werden über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, von ihrer jüngeren Schwester in Berlin fehlt später jede Spur.
1938 gründet Elisabeth Freundlich in Paris zusammen mit Franz Werfel, Joseph Roth und Alfred Polgar die Ligue de l'Autriche Vivante (Liga für das geistige Österreich). Nach Kriegsausbruch 1939 schreibt sie Beiträge für die Österreich-Sendungen des Deutschland-Programms im französischen Rundfunk und für die zweisprachige Exilzeitschrift Nouvelles d´Autriche. Wie Elisabeth Freundlich später in ihren Erinnerungen Die Fahrenden Jahre schreibt, ist dies einer der prägendsten Abschnitte in ihrem Leben.
Mit Hilfe eines US-Notvisums des Emergency Rescue Commitees, das sie durch Zufall über einen Parteifreund ihres Vaters erhalten, gelingt ihr und ihren Eltern im Herbst 1940 die Ausreise in die USA. Wie zahlreiche Emigranten müssen sie dazu über die Pyrenäen nach Spanien fliehen. Sie nimmt an der Columbia University in New York das Studium der Bibliothekswissenschaften auf. Danach arbeitet sie als Sachbearbeiterin im Metropolitan Museum of Art, als Lektorin in Princeton und am Wheaton College in der Nähe von Harvard, ehrenamtlich auch als Feuilletonredakteurin bei der in New York erscheinenden Monatszeitschrift Austro-American-Tribune.
Zu dieser Zeit entsteht ihre eindringliche Erzählung Invasion Day (Titel der Neuauflage: Wir waren ja wahnsinnig, damals), die auf Vermittlung von F. C. Weiskopf erstmals unter dem Pseudonym Elisabeth Lanzer 1948 in Deutschland veröffentlicht wird. Der Text ist einem „O. B.“ gewidmet, „Mitglied der Internationalen Brigaden gefallen bei Teruel im Juli des Jahres neunzehnhundertsiebenunddreißig“. Darin blickt die Fotografin Leni aus Österreich auf ihre Zeit im antifaschistischen Widerstand in Europa zurück:
„Aber es war auch viel echte Bitterkeit in seiner Stimme, als er fortfuhr: ‚Blum, das Nichtinterventionsgesetz. Wenn wir nur Waffen hätten!‘ ‚Lass nur‘, hatte sie eifrig erwidert, ‚wir schaffen es schon.` Und hatte zu erzählen begonnen, von Kampagnen, von Massenmeetings, von Protestaktionen der französischen Arbeiter für Waffenlieferungen an die Loyalisten in Spanien, von all den Dingen, die er versäumt hatte, weil er in Spanien wirklich dabei gewesen war.“
Kampfgefährten, gefallene Soldaten, Emigranten, Deportierte – viele Schicksale blitzen in ihren sprunghaften Erinnerungen auf, enttäuschte Hoffnungen, „dass es allerhand Risse und Sprünge im Gemäuer“ des aufkeimenden Nationalsozialismus gebe, an die Arbeit im Untergrund, Inhaftierungen und Folter. Europa brennt, überall gibt es Flucht und manchmal auch Rettung. Für Leni führt sie über Paris und Brüssel letztlich in eine Blockhütte in den kanadischen Wäldern, wo sie sich entschließt, zukünftig als Schriftstellerin zu arbeiten. Am 6. Juni 1944, als alliierte Truppen in der Normandie landen, kommt der plötzliche Umschwung: Sie muss zurück nach Deutschland, zurück zu den kämpfenden Freunden.
1945 heiratet Elisabeth Freundlich den aus Breslau stammenden Schriftsteller und Philosophen Günther Anders, den Ex-Mann von Hannah Arendt. Beide kehren 1950 nach Wien zurück, lassen sich aber 1955 scheiden. Wie andere Rückkehrerinnen aus dem Exil hat Elisabeth Freundlich es nicht leicht, für ihre Texte einen Verlag zu finden. Sie arbeitet als Kulturjournalistin für den Mannheimer Morgen und die Frankfurter Hefte und berichtet als Gerichtsreporterin über NS-Prozesse in Österreich. Ab 1978 ist sie nur noch als freie Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. 2001 verstirbt sie in einem Wiener Pflegeheim und wirde im Grab der Eltern in Zürich beigesetzt.
Elisabeth Freundlich: Wir waren ja wahnsinnig damals. Erzählung. persona verlag, Mannheim 2022 (Neuausgabe der 1948 unter dem Pseudonym Elisabeth Lanzer erschienenen Erzählung Invasion Day)
Lesen Sie nächste Woche über einen Roman, der das nationalsozialistische Wien aus der Mitte des Unheils existenzieller Bedrohung und mit stilistischer Drastik schildert, aber erst siebzig Jahre nach seiner Entstehung erscheinen konnte.
