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24.10.2025, 11:07 Uhr
Andrea Heuser
Text & Debatte

Zum 125. Geburtstag von Thomas Wolfe. Eine Würdigung (III)

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Thomas Wolfe 1937, fotografiert von Carl van Hechten

Am 3. Oktober 1900 kam Thomas Wolfe (Thomas Clayton Wolfe) als letztes von acht Kindern eines pennsylvania-deutschen Steinmetzen und seiner Frau, die englisch-schottische Wurzeln hatte, in Ashville, North Carolina zur Welt. Wolfe, der inzwischen als einer der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt, starb mit nur 38 Jahren an Gehirntuberkulose. Deutschland, und insbesondere München, hat der sprachgewaltige Autor mit seinen Deutschlanderzählungen ein literarisches Denkmal gesetzt. Hier wurde er als der „amerikanische Homer“ zunächst noch stürmischer gefeiert als in den USA. Dass Deutschland im Wahn des Faschismus unterging, hat Thomas Wolfe nicht wirklich verkraftet. 

Anlässlich seines 125. Geburtstags erinnert die Schriftstellerin Andrea Heuser an den so zerrissenen wie, mit William Faulkner, „überragenden Autor seiner Generation“, in Form einer persönlichen, dreiteiligen Würdigung. Der erste Teil ist Wolfes opus magnum Schau heimwärts, Engel gewidmet. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Thomas Wolfes ambivalentem Deutschlandbild (Schwerpunkt Bayern) und der dritte Teil geht auf seine Erzählung Das Oktoberfest ein. 

*

III. „Munich almost killed me.“ – Thomas Wolfes Oktoberfest

Oktoberfest – Heute ist Mittw., 26. Sept. [1928] – Ich habe während der ein, zwei Wochen hier kaum etwas oder gar nichts eingetragen – Habe das hiesige wahre Leben in mich aufgesogen – Letzten Abend wieder auf der WieseOktoberfest –  Versuche mich heute von diesem Albtraum zu erholen, der mich lahmgelegt hat. Oktoberfest. [Hervorhebungen von T.W.]

Diese knappen Äußerungen zum Oktoberfest, die das Wesentliche aussparen, finden sich in Thomas Wolfes unmittelbaren, zeitnahen Notizen. Die in dieser Würdigung zitierten Passagen sind auch im Folgenden allesamt dem von Oliver Lubrich herausgegebenen Band: Thomas Wolfe, Eine Deutschlandreise in sechs Etappen (Manesse, München 2020) entnommen. 

Oktoberfest. Die Erzählung der Notizen 

Dass es sich bei seinen Wiesn-Besuchen [für den Amerikaner Wolfe war es „die Wiese“] um einen „Albtraum“ gehandelt haben muss, wird von Thomas Wolfe aber nicht nur expressis verbis gesagt. Dafür spricht vor allen Dingen auch das Nonverbale. Und das umso eindrücklicher. Da ist zum einen die auffallende Verwendung der Gedankenstriche; Auslassungen, die sich als die Unmöglichkeit lesen lassen, die Wucht des Erlebten unmittelbar in Worte zu fassen. Zum anderen aber etwas, das man zunächst als Beiläufigkeit überlesen könnte: Wolfe hat während dieser Wochen kaum etwas notiert; er war „vom Leben aufgesogen“.

Wer Wolfes Manie verfolgt hat, alles, was dieser junge Autor auf seinen Europareisen sah und hörte und wahrnahm, möglichst akribisch festzuhalten und aufzuzeichnen, der wird hier ebenfalls aufmerken. Oktoberfest, wie es ganz artikellos im obigen Eintrag heißt, ist offenbar also ein einschneidendes Erlebnis, das den Autor nicht nur physisch, sondern auch sprachlich „lahmgelegt hat“. Auch die für Thomas Wolfe typische Ambivalenz spiegelt sich in dieser komprimierten Notiz wieder; hier zwischen Sog und Horror, zwischen „[vom wahren Leben] aufgesogen“ und „Albtraum“. Einen Tag [Dienstagabend] zuvor heißt es entsprechend: „Ich war vollkommen besessen und versunken im Leben dieses Ortes, bis ich die Kraft zum Schreiben fast verloren hatte.“

Eine Woche später [4. Oktober] dann dieser Vermerk: 

Kam heute Nachmittag kurz nach zwei aus der Klinik. Die Leute in der Pension schienen ehrlich besorgt zu sein und froh, mich zu sehen. Ging raus wegen Hutkauf und Post. Entstand eine Art lockere Mütze, um meine kahle, verschrammte Birne zu bedecken – so wie die Korps studenten [Originalschreibweise, T.W.] sie tragen. Fand Brief von Greta und ein Telegramm von Aline vor. Meine Verletzungen scheinen schnell zu heilen. Kann über die Nase noch nichts sagen… Sieht aber so aus, als ob ich ohne bleibende Entstellung aus der Sache herauskäme.

In dieser Notiz wird der Albtraum-Sog Oktoberfest dann schon etwas Konkreter. Die Folgen einer Schlägerei, heftige Körperverletzungen, werden vermerkt. Der Ton klingt, wohlmöglich wegen der recht sicheren Aussicht auf Heilung, der Entlassung aus dem Krankenhaus oder schlicht ob der einsetzenden zeitlichen Distanz, nun schon gelassener, resümierend. Über seine eigenen Gefühle äußert der Autor nichts. Im Spiegel der anderen – Leute in der Pension, Alines Telegramm – wird die „unerhörte Neuigkeit“ erst hörbar. 
Was sich nun wirklich genau ereignet hat, wie sich Oktoberfest als Summe ja durchaus mehrfacher Besuche für Thomas Wolfe tatsächlich angefühlt hat – diese Notizen belassen es letztlich beim unerhörten Ereignis. Jene Schlägerei hatten ihm jedenfalls eine leichte Gehirnerschütterung, Kopfwunden und eine gebrochene Nase eingebracht. Zum Zwecke der Behandlung musste er kahlgeschoren werden und nicht nur die Wolfe-Forschung hat entsprechend betont, wie der Autor sich dadurch selbst in das Abbild des damaligen Klischees von dem saufenden und schlagenden Hunnen-Deutschen verwandelte, sondern, charakteristisch für Wolfes scharfe Selbstwahrnehmung, auch er selbst („Korps studenten“).

Das Fazit der Notizen könnte somit lauten: Oktoberfest. Reingestürzt und abgestürzt. Eine Episode mit gewalttätigem Ausgang. 

Oktoberfest. Die Erzählung der Briefe

In dem langen, zweiteiligen Brief an Aline Bernstein, mit dem Thomas Wolfe auf das Telegramm seiner damaligen Geliebten antwortet [4.-5. 0ktober 1928], liest sich dieser ihn absorbierende Albtraum des Oktoberfests dann schon um einiges reflektierter. Ob er Aline damit beruhigen wollte oder auch primär auf die Interessen und Fragen der Empfängerin eingehen wollte; hier jedenfalls wird die ganze Angelegenheit im distanziert-pointierten Ton des Berichts kommuniziert:  

Was das Oktoberfest ist, davon hatte ich keine Ahnung gehabt, bis es vor ein oder zwei Wochen begann. Ich hatte bloß jedermann davon reden hören. Ich stellte es mir als einen Ort vor, zu dem das ganze bayerische Landvolk hinströmt, seine altehrwürdigen Tänze aufführt, seine Waren verkauft, so was in der Art. Aber als ich zum ersten Mal hinging, stieß ich zu meiner Enttäuschung nur auf eine Art Coney Island – Karusselle, allerlei Flitterkram, unzählige Würstchenbuden, Orte, an denen ganze Ochsen am Spieß schmorten, und gewaltige Bierhallen.

Über die Bierhallen heißt es, für die Augen und Ohren seiner Geliebten bestimmt, deren Deutschlandbild offenbar auch nicht das Positivste war, dann auch überaus kritisch:

Der Lärm ist ohrenbetäubend, man kann die Luft mit dem Messer schneiden – und an diesen Orten dringt man zum Herzen Deutschlands vor, nicht zum Herzen der Dichter und Denker, sondern zu seinem wahren Herzen. Es ist ein einziger, gewaltiger Schlund.

Interessant ist, dass Wolfe hier nicht vom Herzen Bayerns spricht, zu dem der Besucher vordringt, sondern von Deutschland als Ganzem; hatte er doch den Eindruck, darin etwas Archetypischem auf der Spur zu sein. Der Sog des Monströsen, dem er sich in Form der Schlägerei offenbar selbst, trotz seiner grundsätzlichen, distanzierten Abscheu nicht durchweg entziehen konnte, wurde von ihm, unabhängig von den aufkeimenden völkischen und nationalsozialistischen Kräften, als etwas Essenzielles, als Triebkraft des „deutschen Wesens“ wahrgenommen. Spätestens an dieser Stelle wirkt der Brief stark literarisiert, da er mit einer Metaphorik arbeitet, die das Oktoberfest vom eigenen Erleben weg und zur prosaischen Mentalitätsstudie hinführt:  

Sie essen und trinken und schnauben sich in einen Zustand tierischer Betäubung hinein – die Stätte verwandelt sich in ein einziges heulendes, brüllendes Tier, und wenn die Kapelle eines ihrer Trinklieder spielt, erhebt man sich überall von den Tischen, stellt sich auf die Stühle und schunkelt mit untergehakten Armen hin und her, in pulsierenden Ringen. […] Man meint in diesen Reihen die Magie, die Essenz des Volkes zu spüren – das Wesen dieses Tiers, das es so grundlegend von den anderen Tieren ein paar Meilen jenseits der Grenze unterscheidet.

Das Tierische, besser gesagt, das Monströse, wird ihn dann aber schließlich doch einholen; und zwar in der Schilderung des Vorgangs der Prügelei selbst, um die Thomas Wolfe nicht herumkommt. Schließlich wollte seine Geliebte darüber informiert sein, was genau ihm denn nun zugestoßen war, und so setzt er sie, wie es seine Art ist, schließlich recht sprachgewaltig davon ins Bild:

„Ich erstickte schier im Blut und trachtete nach nichts sonst, als es zu einem gründlichen Ende zu bringen.“

Wir erfahren also, dass er „sieben bis acht Maß intus“ hatte, also „sturzbetrunken“ war, als er beim Verlassen des Bierzeltes von „einer Gruppe Männern, unter denen sich auch eine Frau befand“ angesprochen wurde. Oder redet er sie an? Der Lesende ahnt den so genannten ‚Filmriss‘. Denn an die genauen Details, den Inhalt des Gesagten (von wem zu wem?) und den Ton erinnert Wolfe sich seines Zustands entsprechend nicht. Er vermutet aber, das Gesagte sei wohl „durchaus freundlich gemeint“ gewesen. Dennoch fand er sich alsbald in einer wüsten Schlägerei wieder, wurde zu Boden gerungen und „in den Schlamm“ geworfen, wo er mit seinen Gegnern bis aufs Blut rang, von denen er einen „mit der Faust zu Boden schlug“. Es ging also, wie er schreibt, gefühlt auf einmal um Leben und Tod. Erst die Frau schien ihn in seiner „Besessenheit“ wieder einigermaßen zu Bewusstsein zu bringen:

Die Frau hing mir inzwischen am Rücken, schrie, schlug mich auf den Kopf, hatte es jedoch auf Gesicht und Augen abgesehen. Sie schrie „Lass meinen Mann in Ruhe!“ Ein paar Leute kamen und zerrten mich von ihm weg – der Mann und die Frau schrien mich an und schimpften, aber ich verstand nichts von dem, was sie sagten, bis auf ihr flehentliches: „Lass meinen Mann in Ruhe!“, das mich sehr berührte, soweit ich mich erinnere, weil ich Dich in ihr dastehen sah, wie ich Dich manchmal in der Tat in allen Frauen sehe.

War das die sich einschmeichelnde Version für die Geliebte, die ihm in "allen Frauen" stets präsent war? Ausführlich plastisch und vage-verwischt zugleich erscheint diese Schilderung der Prügelei. Thomas Wolfe muss sich durchaus bewusst gewesen sein, dass er Aline gegenüber hier kein gutes Bild abgab; da konnte er einleitend noch so sehr auf das Tierische der Menschenmasse analytisch abheben. Nun stand er selbst mit seinen brachialen Gewalttaten im Fokus, die er immerhin nicht als Notwehr verbrämte, sondern als eine halbbewusste, hochalkoholisierte Gemengelage von Täter- und Opfersein. Für einen Polizeibericht taugt dieser Brief jedenfalls nicht, es sei dann als Zeugnis seiner eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit. Gegen Ende des diesbezüglichen Briefteils heißt es dann jedenfalls durchaus rätselhaft, dass genau diese zuvor noch so vital und agil schimpfende, schreiende Frau dann plötzlich wie tot neben ihm im Krankenhaus lag:

Die Frau lag dort auf einem Tisch mit Rädern. Das Licht fiel auf ihr Gesicht – die Augen waren geschlossen. Ich glaube, das ist der schlimmste Moment meines Lebens gewesen... Ich dachte, sie sei tot und dass ich mich nie mehr erinnern würde können, wie es dazu gekommen war. […] Als ich aufstand und mich umsah, waren die Frau und der Rolltisch verschwunden. Ich schreibe dies am Samstag (sechs Tage später): Wäre sie wirklich tot, so hätte ich es in der Zwischenzeit bestimmt erfahren.

Während die Frau in Wolfes Schilderung der Schlägerei also zunächst als diejenige erscheint, die sich zwar einmischte, die jedoch nicht im Fokus der brutalen Handgreiflichkeiten stand, sondern deren Flehen für ihren Mann ihn so berührte, liegt sie nun als Opfer wie tot neben ihm. Hat er sie schließlich auch zu Boden geschlagen? Wie genau kam es dazu? Und wie passt die sicherlich ernstzunehmende Aussage vom „schlimmsten Moment seines Lebens“ zu diesem doch recht abwimmelnd-defiätistischen Ton: „wenn sie gestorben wäre, hätte er es sicherlich erfahren?“ So plastisch die Schilderung der Prügelei, das Ereignis Oktoberfest also einerseits ist, es gibt andererseits Rätsel auf.

Das Briefe-Fazit könnte somit lauten: Oktoberfest. Reingezogen, verführt. Eine Episode mit gewalttätigem, aber letztlich gutem Ausgang. 

Oktoberfest. Eine Erzählung (1937) 

Oktoberfest erscheint dann fast ein Jahrzehnt später, im Juni 1937 in Scribner‘s Magazin (New York), in Form einer Erzählung, also literarisch ausgestaltet und transformiert. Das Essentielle, Metaphorische dieses Volksfest-Erlebnisses findet sich hier recht ausgedehnt wieder. Ansonsten aber ist die Schilderung des Oktoberfests von 1928, für jeden heutigen Besuchenden der Wiesn zwar erstaunlich anschaulich-aktuell und insofern ein Lesegenuss. Zugleich ist jedoch nichts von dem Albtraum-Sog der Notizen und Briefe wiederzuentdecken; die Prügelei fehlt gänzlich. Warum? Denn schließlich wäre eine sich-prügelnde Erzählerfigur alles andere als ein schlechtes und sicherlich auch umsatzträchtiges Plot-Element. 

Dass er selbst ein Jahr später bereits tot sein sollte, konnte Thomas Wolfe zum Zeitpunkt der Veröffentlichung natürlich nicht ahnen. Und doch scheint es ihm in seiner, wie stets als alter ego angelegten, Erzählerfigur zwar nicht direkt darum gegangen zu sein, seinen damaligen Albtraum, den (beinahe) Kampf auf Leben und Tod aufzuarbeiten; dennoch scheint er etwas Grundlegendem darin auf der Spur gewesen zu sein. 

Denn die Veröffentlichung fällt mit einer Art „Tod“, seiner Abkehr und seinem endgültigen Abschied vom inzwischen nationalsozialistischen Deutschland zusammen. Oktoberfest liest sich nun aber gerade nicht, wie man ja meinen könnte und trotz der Analogisierungen von Volksfest und archaisch-barbarischen Riten, als ein Beleg für jenen fatalen monströsen Zug des ‚deutschen Wesens‘, wie es in seinem damaligen Brief an Aline noch anklang. 

Ganz im Gegenteil; gerade das Ende der Erzählung ist, wie die folgenden Ausschnitte zeigen werden, eine Liebeserklärung an die in München erlebte Freundschaft und Liebe, in der, wenn auch nur für die kurze Zeit des Augenblicks, das Glück erfahrbar wird. Zwar muss dieses Glück schließlich weh vergehen, denn die Straßen, oder wenn man so will, die Bühne des Lebens ist „leer“ und „kalt“; aber das Erfahrene bleibt erzählerisch als eine Sehnsuchts- und Erfahrungsspur bewahrt, deren Authentizität berührend spürbar wird. 
Berührend gerade auch aufgrund des späten Datums der Publikation.

War Thomas Wolfe diese Dennoch-Liebeserklärung an das „Herz Deutschlands“ zu diesem Zeitpunkt vielleicht besonders wichtig? Man kann nur mutmaßen. Und darüber hinaus sich lesend selbst eine eigene Meinung bilden. 

Wovon also handelt Oktoberfest in seinem Kern denn nun? Fahren wir entsprechend mit den O-Tönen; mit Auszügen aus der Erzählung fort.

Jeder heutige Besuchende der Wiesn sieht es ebenfalls vor sich –  das Gedränge:

Die Deutschen bewegten sich langsam und geduldig vorwärts, mit der ungeheuren Massivität, die ein Wesenszug ihres Daseins zu sein scheint, und nahmen die Bewegung der Menge mit tiefer Genugtuung hin, während sie selbst darin aufgingen und ein Teil des großen Tiers um sie herum wurden. Ihre schweren Leiber rammten und rempelten einander plump und unsanft an, aber es gab keinerlei Groll zwischen ihnen. Sie brüllten einander und aller Welt einen Gruß oder ein neckisches Wort zu; sie zogen in Gruppen zu sechst oder acht einher, Männer und Frauen bunt gemischt, mit untergehakten Armen.

Die Bierhallen/Bierzelte:

Zwischen den unzähligen kleineren Gebäuden des Jahrmarkts verstreut, erhoben sich um uns gleich Löwen, sie inmitten einer Meute kleinerer Tiere ruhen, die von den berühmten Brauereien errichteten imposanten Bierhallen. […] Unmittelbar vor mir konnte ich von Weitem jetzt die große rote Fassade der Brauerei Löwenbräu sehen, mit den zwei aufgerichteten königlichen Löwen in ihrem stolzen Wappen. Doch als wir uns dem mächtigen Gebrüll näherten, das vor der Halle gebändigt wurde, erkannten wir die Aussichtslosigkeit, dort einen Platz zu finden. Tausende von Menschen brüllten an den Tischen über ihrem Bier, und viele Hunderte wälzten sich unentwegt auf und ab und hielten Ausschau nach einer Lücke.

Das Essen:

Jedermann aß; jedermann trank. Ein mörderischer Hunger, ein Hunger, der keine Besänftigung kannte, der sich alles gebratene Ochsenfleisch, alle Würste, allen Salzfisch der Welt einverleiben wollte, packte mich und hielt mich in seinen Klauen. Auf der ganzen Welt gab es nichts als Essen –herrliches Essen. […] Was wussten diese Leute von Büchern? Was wussten sie von Bildern? Was wussten sie von der millionenfachen Aufruhr des Herzens, von den Kämpfen und Quälereien des Geistes, den Hoffnungen, Ängsten, Gehässigkeiten, Fehlschlägen und Ambitionen, der ganzen fieberhaften Sphäre des modernen Lebens? Diese Leute lebten für nichts anders als für Essen und Trinken – und recht hatten sie.

Die ausgelassene Stimmung; die archaische Tiefenschicht:  

Und schließlich, im Auge dieses tosenden Orkans, nahmen wir [der dt. Freund des Erzählers, Heinrich Bahr] triumphierend Platz, keuchten siegessstolz und bestellten sofort zwei Liter Dunkles und zwei Portionen Schweinswürstel mit Sauerkraut. […] Die Wirkung dieser Menschenhorden überall in der riesigen und vernebelten Halle hatte etwas beinahe Übernatürliches und Rituelles: Etwas, das zum Wesen eines Volkes gehörte, war in diesen Horden beschlossen, […], etwas, das älter war als die alten, barbarischen Wälder, etwas, das einen Altar umwogt und ein Menschenopfer dargebracht und verbranntes Fleisch verzehrt hatte.

Der Anthropomorphismus „im Auge des tosenden Orkans“ erinnert an das berühmte Shakespeare-Zitat aus dessen Drama Der Sturm: „Im Auge des Sturms ist Ruhe.“ 
Im Zentrum dieses Festorkans ankert der Erzähler. Sein distanzierter, berichtender Blick navigiert sich und seine Leserschaft durch dieses Erlebnis, dessen Ruhe sich dann allerdings nach und nach auflöst, bis er selbst ganz in der Stimmung aufgeht und mit den „Menschenhorden“ des Festzelts verschmilzt; schunkelnd, singend und tanzend.

Anders als in seinem Brief an Aline, wird hier in der Fiktion diese Ausgelassenheit als eine positiv-harmonische definiert oder, wenn man so will, umdefiniert. So schaut der Erzähler plötzlich in „das fröhliche, gerötete und lächelnde Gesicht eines hübschen Mädchens“, das ihn „gutmütig und neckisch am Arm zupfte“. Die Trunkenheit des Erzählers wird somit keinesfalls zu einer Erfahrung der bewusstseinstrübenden Fremdheit und Ausgeschlossenheit, die noch zuvor fragend-reflektierend im Raum stand („was wussten diese Leute von Büchern, was wussten sie von Bildern?“) – denn das Mädchen erkennt in ihm den Künstler und fragt ihn ganz direkt, ob er „ein schöpferischer Mensch“ sei, das sähe sie ihm an. Damit entlarvt, und dies ist typisch für Wolfes Figurenentwicklung, der Erzähler sich selbst und seine vorherige Wahrnehmung als ignorant und kurzsichtig.  

„Und nun gab es keine Fremdheit mehr. Es gab keine Barrieren mehr. Wir tranken und aßen und schwatzten zusammen. […] Ich war euphorisch und glücklich. Ich radebrechte furchtlos in meinem bisschen Deutsch.“

Wir nähern uns dem Happy End: 

Die Nebel des starken und berauschenden Biers, und noch mehr die Nebel der Geselligkeit und Zuneigung, der Freundschaft und menschlichen Wärme, waren uns zu Kopf und Herz gestiegen. Wir wussten, dass es etwas Rares und Kostbares war, der Zauber des Augenblicks voll des Staunens und der Freude, der enden musste, und es widerstrebte uns, ihn entschwinden zu sehen.

Die „Nebel“ der Freundschaft und der menschlichen Wärme – Thomas Wolfe wäre nicht er und er schriebe keine moderne Weltliteratur, erschienen die, mit der für ihn charakteristischen, vitalen Ausdrucksstärke geschilderten Empfindungswelten, selbst noch in den Momenten von Ausgelassenheit und Glück, nicht zutiefst ambivalent. 
Nun es ist ja nicht etwa so, dass die Erzählung qua Fiktion per se die ‚unwahre‘ Variante jener gesammelten Oktoberfest-Erlebnisse des Autors darstellt. Möglicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall, denn in der Ambivalenz und Vielschichtigkeit der erzählten Empfindungs- und Erlebnisschichten konnte Thomas Wolfe gerade mittels der Fiktion zu einer Art tieferen Wahrheit vordringen, an der die Publikationszeit 1937 durchaus reflektierend ‚mitschreibt‘.

Auf allen drei hier geschilderten Formen der Notizen, des Briefes und schließlich der Erzählung liegen Filter, durch die das ursprünglich Erlebte gemäß des sprachlichen Anverwandlungsprozesses jeweils gesiebt und verändert wird: in den Notizen ist der Schock, die Sprachlosigkeit gegenüber dem unmittelbar Erlebten präsent, in dem zweiteiligen Brief an Aline ist es die Reflektion und die Rücksichtnahme auf die Empfängerin, und in der zeitlich größten Distanz der Erzählung handelt es sich um die umfassendste Transformation ins Fiktive. Die so genannte Oktoberfest-„Wahrheit“ mag zwischen diesen drei Mitteilungsformen oszillieren. 

Der letzte Absatz der Erzählung jedenfalls liest sich im Nachhinein biographisch geradezu wie ein Abschied auf Wolfes eigenes Dasein; auf der Handlungsebene als eine bewusste Gegenerzählung zum eindimensionalen Klischee des brachial-plumpen Frohsinn der bayerischen Wiesn-Festzelte, und schließlich werkimmanent gelesen blitzt hier der Blick des Erzählers aus seinem opus magnum Schau heimwärts, Engel wieder auf: in der Leere und Kälte des „geweißten“ Himmelsglanzes, in der Fragilität des menschlichen Daseins zwischen tiefer Einsamkeit und Glück:  

Wir ahnten etwas Unschätzbares und Unsagbares, eine unsichtbare Welt, die wir sehen mussten, eine unfassbare Welt, die wir berühren mussten, eine Welt der Wärme, der Freude, des bevorstehenden und heranschwebenden Glücks, der unwirklichen Wonne, die beinah unser war. Und wir zogen durch die Straßen, wir zogen durch die Straßen. Der Mond gleißte leer und kalt aus dem geweißten Himmelsglanz. Und die Straßen waren still. Alle Türen waren zu. Und aus der Ferne kam das letzte gedämpfte Gemurmel des Fests. Und wir gingen heim.

„Und wir gingen heim.“ – In diesem ganz schlichten wie elementaren Satz ist die Essenz dessen, was Thomas Wolfe als Schriftsteller tut, für mich eingefangen: heimwärts zu schauen und zu ertragen, was man dabei sieht und fühlt. Und dies ganz jenseits der Engel, die die Menschen nicht sind.