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10.10.2025, 13:07 Uhr
Andrea Heuser
Text & Debatte

Zum 125. Geburtstag von Thomas Wolfe. Eine Würdigung (II)

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Thomas Wolfe 1937, fotografiert von Carl van Hechten

Am 3. Oktober 1900 kam Thomas Wolfe (Thomas Clayton Wolfe) als letztes von acht Kindern eines pennsylvania-deutschen Steinmetzen und seiner Frau, die englisch-schottische Wurzeln hatte, in Ashville, North Carolina zur Welt. Wolfe, der inzwischen als einer der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt, starb mit nur 38 Jahren an Gehirntuberkulose. Deutschland, und insbesondere München, hat der sprachgewaltige Autor mit seinen Deutschlanderzählungen ein literarisches Denkmal gesetzt. Hier wurde er als der „amerikanische Homer“ zunächst noch stürmischer gefeiert als in den USA. Dass Deutschland im Wahn des Faschismus unterging, hat Thomas Wolfe nicht wirklich verkraftet. 

Anlässlich seines 125. Geburtstags erinnert die Schriftstellerin Andrea Heuser an den so zerrissenen wie, mit William Faulkner, „überragenden Autor seiner Generation“, in Form einer persönlichen, dreiteiligen Würdigung. Der erste Teil ist Wolfes opus magnum Schau heimwärts, Engel gewidmet. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Thomas Wolfes ambivalentem Deutschlandbild (Schwerpunkt Bayern) und der dritte Teil geht auf seine Erzählung Das Oktoberfest ein.   

*

II. „Die schreckliche Verschmelzung des Brutalen und des Geistigen“ – Thomas Wolfes ambivalentes Deutschlandbild

München gefällt mir, und mir gefällt, was ich bis jetzt von Deutschland gesehen habe – die Menschen sind, glaube ich, schlicht, ehrlicher und sehr viel freundlicher als die Franzosen. Und ich denke nicht, dass ihre Freundlichkeit und Ehrlichkeit das Resultat einer böswilligen Verschwörung zur Unterdrückung der Welt durch Täuschung sind… Anscheinend leben wir in einer Welt, in der man sich bis zum Ende seiner Kräfte durch eine Wüste der Absurditäten kämpfen muss, um bei einer sehr einfachen und offensichtlichen Tatsache anzugelangen.

Dies schrieb der junge, sechsundzwanzigjährige Thomas Wolfe im Dezember 1926 an seine Geliebte Aline Bernstein. Innerhalb eines Jahrzehnts (1926-1936) hat Thomas Wolfe Deutschland sechs Mal besucht und dort insgesamt acht Monate verbracht.

Aus dieser frühen, privaten Schilderung seiner ersten München- und Deutschland-Eindrücke lässt sich bereits jener Konflikt herauslesen, der auch für Wolfes spätere Empfindungen und Äußerungen über Deutschland stets bestimmend sein wird: jene Schieflage zwischen den eigenen, überwiegend positiven, geradezu beglückenden Erfahrungen mit Land und Leuten im direkten, privaten Kontakt, und jenem – im Nachschatten des Ersten Weltkriegs – negativ konnotierten Deutschlandbild der Weltöffentlichkeit. Dazu gesellt sich auf einer tieferen Ebene der Empfindungsschichten noch der Konflikt, dass Wolfe sich einerseits, nicht zuletzt aufgrund seiner deutschen Vorfahren, diesem Land tatsächlich zugehörig fühlte; während ihn andererseits das im öffentlichen Raum beobachtete kraftmeierische ‚Herrenmenschentum‘ befremdete und abstieß. 

Wie ansatzweise schon im Zusammenhang mit Wolfes opus magnum Schau heimwärts, Engel praktiziert, wird meine Würdigung gerade in Hinblick auf die persönlichen Deutschlanderfahrungen und -empfindungen des Autors verstärkt darin bestehen, dass sie Thomas Wolfe möglichst oft selbst zu Wort kommen lässt. Die hier zitierten Passagen sind allesamt dem von Oliver Lubrich herausgegebenen Band: Thomas Wolfe, Eine Deutschlandreise in sechs Etappen (Manesse, München 2020) entnommen. Das Buch versammelt in den literarischen Deutschland-Zeitbildern 1926-1936 alle relevanten Selbstzeugnisse des Autors in Form von Briefen, Notizen und Erzählungen. 

Der Gesamteindruck, der sich mir beim Lesen dieser Selbstzeugnisse vermittelt hat, ist der einer prekären Liebe, die Thomas Wolfe im Laufe seiner Reisen zu Deutschland, dem Land seiner Vorfahren (väterlicherseits) entwickelt hat. Reisen, die im komplexen Sinne auch ein Unterwegssein zu sich selbst darstellen. Diese Reise verlief über Phasen vorsichtig-neugieriger Annäherung – im stetigen Abgleich zwischen Klischees und Realität – über tiefes Ergriffensein, Glücks- und Freundschaftserfahrungen bis hin zur schmerzhaften Distanzierung und – am Ende der Olympischen Spiele 1936 – schließlich zum Abschied vom (dann) faschistischen Deutschland. Ein Abschied, bei dem im Grunde offenbleibt, ob er ihn innerlich je wirklich ganz vollziehen konnte oder wollte. Sein tragisch-früher Tod knapp zwei Jahre später lässt hier nur Spekulationen darüber zu, wie es auf längere Sicht mit Wolfes Deutschlandbeziehung weitergegangen wäre. 

Überhaupt scheint in der Rezensionslandschaft alles, was der junge Autor über Deutschland dachte, wahrnahm und fühlte vom aufkeimenden Nationalsozialismus her gelesen und determiniert zu werden. Es entsteht der Eindruck, dass jede Bemerkung und Beobachtung Wolfes danach abgehorcht wurde, ob dieser hochbegabte sensible Mann auch wirklich die Zeichen der Zeit erkannt hat und wenn nicht, warum nicht.

Für mich stellte sich beim Lesen allerdings das Gefühl ein: er, der Amerikaner, war, möglichst neutral gesprochen, mit etwas Anderen, für ihn Wesentlicheren beschäftigt: er empfand, schon 1926, Deutschland als seine ‚andere Heimat‘ und hatte das Gefühl sich ob der herrschenden negativen Weltmeinung dafür, schon weit vor dem Nationalsozialismus, rechtfertigen zu müssen. So ist er denn meines Erachtens auch nichts Geringerem auf der Spur, als der Essenz des deutschen Wesens in all seinen lichten und, wie er es selbst nannte, dunklen Seiten; in einem stets so wahrnehmungssensibel-treffenden wie tastenden Versuch, sich in der „schreckliche[n] Verschmelzung des Brutalen und des Geistigen“ selbst zu verorten und anzusehen. Dies geschieht stellenweise auch im, für uns heute gänzlich unerträglichen, völkischen Vokabular von „Rasse“, „Blut“, „Reinheit“ – Worte, die Thomas Wolfe zunächst noch ‚unschuldig‘ und ohne Ideologie verwendete; damit war 1936 dann allerdings Schluss. 

In seiner 1937 erscheinenden Erzählung I Have a Thing to Tell You – einige Monate später erscheint Oktoberfest – reflektiert er nicht nur seinen sukzessiven Abschied, seine Abkehr vom faschistischen Deutschland, sondern reflektiert anhand des jüdischen Mitreisenden, der sich zunächst als höchst unsympathisch und später dann als bemitleidenswerter Flüchtling erweist, auch in einer eindrücklichen Art und Weise seinen Umgang mit den herrschenden und, wie er an anderer Stelle äußert, auch eigenen antisemitischen Vorurteilen aus seiner Kindheit, die hier zugunsten von Einfühlung und Mitgefühl überwunden werden. 

Zur Anschauung seien hier, mit der Konzentration auf Wolfes München- und Bayernbilder, die er „zwischen Bierhöllen und Bücherläden“ selbst verortete, einige kurze Passagen dieses literarisch-reflektiven Facettenreichtums zitiert:    

„Ein einziger Ozean aus Bier, Stärke, teutonischer männlicher Energie und Lebenskraft.“

Das Brauhaus als Allegorie auf die deutsche Psyche: 

Gestern Abend ging ich ins Hofbrau Haus und trank einen großen Krug vom besten Bier, das ich je gekostet habe. […] Das Lokal war ein einziger riesiger Ozean aus Bier, Stärke, teutonischer männlicher Energie und Lebenskraft. Es war, als sähe man einem gewaltigen Hefepilz zu, der sich aus seinen eigenen Innereien entfaltet: Es war Mark, Herz und Gedärm ihrer Stärke – das sich entfaltende, unvorhergesehene Ding, das nicht zurückgehalten oder zugestöpselt werden kann.

Thomas Wolfe belässt es natürlich nicht bei einem einzigen Brauhaus-Besuch. Die allegorisch-analytische Perspektive wird durch schlichte, prägnante Szenenschilderungen ergänzt:  

Pschorr Brau – bayerisches – oder vorgeblich bayerisches – Orchester in Tracht – Der Bayer gilt ins ganz Deutschland als origineller Typ – Eskapaden des Orchesterleiters – Trinkt im ganzen Lokal die Bierreste aus – Johlt laut – Publikum brüllt vor Lachen – Kapelle macht schrecklichen Krach – jeder laut – dick von Rauch – furchtbar schwer – Es liegt ihnen im Blut – eine typische Zurschaustellung – und die mag ich nicht – Eben deshalb hab ich sie alle satt. 

Kapelle spielt Ein Prosit, Ein Prosit – Wenn jemand dem Kapellmeister einen Liter Bier spendiert – Er hält es hoch, und jeder erhebt sein Glas – Kriegen sie das denn nie satt?

Passend dazu sei ein Bonmot zum Klischee des feisten, plumpen Deutschen ergänzt: 

„Die Nacken der deutschen Männer machen das [Zeichnung von Speckwülsten]. Mir wäre es lieber, sie ließen es sein – es ist so einfach für die Karrikaturisten.“

„Der Bayer gilt in ganz Deutschland als origineller Typ“

Land ...

Berchtesgaden: Schönes Land, gemeine Menschen – wir bekamen die Hunnenschädel und Dreifachnacken allmählich sehr satt – Unser Hotel – Geschrubbte Fußböden – Bergsteigende bayerische Burschen und Mädel singen die ganze Nacht besoffene Lieder. Ich war reizbar und ungeduldig zu jener Zeit.

... und Stadt:

Einer der wenigen Orte auf Erden, die ihrer Legende gerecht werden – deren Schönheit und Zauber wächst, wenn man sie kennenlernt –, ist die Stadt München in Bayern. Es ist nicht leicht, einen Grund für die Verführungskraft der Stadt zu finden. Es gibt wenig, was originell oder einzigartig wäre, wie etwa die Kanäle Venedigs oder die Frankfurter Altstadt.

Gibt es vererbte Erinnerung?

Deutschland. Die andere, intuitive Heimat:

„Der Anblick des täglichen Lebens in Deutschland ist ein Anblick der Einfachheit, Größe, Ehrlichkeit, Zweckmäßigkeit. Aber mehr als das alles hat die ungeheure Schönheit dieses Landes, der überraschende, in Jahrhunderten seines Lebens angehäufte Reichtum in mir all die Echos einer unbekannten und fast unerträglichen Erinnerung geweckt.“

Wie kann man etwas erinnern, das einem eigentlich unbekannt ist? Solche Paradoxien menschlichen Empfindens, die nichtsdestoweniger wahrhaftig sind, konnte Thomas Wolfe ins Wort holen. Er wurde in den beiden Ländern seiner Vorfahren, also in Deutschland (väterlicherseits) wie in England (mütterlicherseits) vom Geist der Erinnerung gejagt. Er hat die Paradoxie des Wiedererkennens gespürt, ganz besonders in Deutschland – was für ein literarischer Stoff. Gibt es sowas wie vererbte Erinnerung?

Und sie [diese Erinnerung] wuchs und wuchs. Tausendmal und an hundert Orten, am Rhein, im Schwarzwald, in Nürnberg, in Bayern, inmitten all des gotischen Zaubers von hundert alten Städten, angesichts der unglaublichen Fülle von Dörfern, der ungeheuren Vollendung der Kirchen, angesichts der gepflügten, grünen Felder, der verschwenderisch kultivierten Erde, des lieblichen Grüns all der singenden und verzauberten Hügel, und schließlich in den alten dunklen Wäldern Deutschlands, die den Sinn und Geist des Menschen behexen wie die feinen Waldklänge des Horns, habe ich sogleich und für ewig gefühlt, dass ich dies Land immer gekannt habe und dass es meine Heimat ist.

„Dunkel im Walde, seltsam wie Zeit“ (Autobiographische Deutschland-Erzählung, 1934)

Die überwältigenden Gefühle wie es Menschen empfinden, die zum ersten Mal in das Land ihrer Vorväter kommen, sind hier kaum gebändigt in Worte gefasst. Und zugleich lösten sie bei Thomas Wolfe wohl zwangsweise die Frage danach aus, wer er selber ist:

„Wie kann es sein, dass dieser Junge, der Amerikaner ist, dieses fremde Land von jenem Augenblick an kannte, da er es sah?“

Er konnte es nicht beweisen, und doch wusste er, dass es da war, tief vergraben in dem alten, hordenererbten Gehirn und Blut der Menschen, das vollkommene Wissen um dieses Land und das Volk seines Vaters. Er hatte all das empfunden, das tragische und unlösliche Gemisch der Rasse. Er wusste um die schreckliche Verschmelzung des Brutalen und des Geistigen. Er kannte die namenlose Furcht vor dem alten barbarischen Wald, den Kreis der brutalen und barbarischen Gestalten, die ihn mit ihrem finsteren und unheimlichen Ring umgaben, das Gefühl, in den blinden Waldesschrecken barbarischer Zeiten zu ertrinken. Er trug all das in sich, die beharrliche Völlerei und Begierde des unersättlichen Schweins wie auch die eindringliche, seltsame und kraftvolle Musik der Seele. 

Alles festhalten, dem Vergessen entreißen – die Manie der Notizen

Akribisch finden wir in den Reisenotizen dieses vom Wahn des Festhaltens/Notierens geradezu besessenen Autors nicht nur vermerkt, welche Bücher ausländischer Autoren, unterteilt in lebende und tote Schriftsteller, er, wie zum Beweis der deutschen Weltoffenheit, jeweils in den Auslagen der Bücherläden in der jeweiligen Stadt oder Ortschaft fand. Und das für alle acht Deutschlandreisen. Für das Jahr 1928 notierte er u.a. Galsworth, Wilde, Hamsun, Strindberg; dazu welche Mahlzeiten er täglich wo gegessen (z.B.  Geflügelrisotto mit Parmesan für 4,80 Reichsmark) und welche neuen deutschen Worte er gerade gelernt hatte, z.B. „Erotik“ und „Schönheitspflege“ sowie kleine, beiläufige Alltagsszenen, die er gerade beobachtete: „Betrunkenes junges Liebespaar, Kind mit Tonpfeife im Mund, ein Pastete fressender Hund usw. (25. Oktober 1928).  

Das deutsche Wesen

Wie grausam, unergründlich, seltsam und beklagenswert war das Rätsel der Rasse: die Kraft und Stärke des unbestechlichen und emporstrebenden Geistes, der sich aus der verderbten Bestie mit solch strahlender Reinheit erhob, und die machtvollen Zauber großartiger Musik, edler Poesie, so traurig und unabänderlich verwoben und eingewirkt in den blinden, brutalen Hunger des Bauches und der Bestie. 

Ich denke, diese Reflektion kann für sich stehen und bedarf keines weiteren Kommentars. 

Mitropa – Der (vergangene) Glanz der Reisezüge

Für all diejenige, die gegenwärtig mit der Deutschen Bahn reisen (müssen): lasst uns neidisch den schwelgerischen Erinnerungen an Wolfes Fahrten mit den Luxus-Zügen der Deutschen Reichsbahn zu Zeiten der Weimarer Republik lauschen: 

In Europa ist die Empfindung von Freude und Vergnügen unmittelbarer, stets gegenwärtig. Die luxuriösen Züge, die prachtvolle Möblierung, die tiefen Kastanien-, dunklen Blautöne und die frischen, lebhaften Farben der Waggons, das gute Essen und das weltbürgerliche Aussehen der Reisenden – all das erfüllt einen mit einer kraftvollen sinnlichen Freude, einem Gefühl sich erfüllender Erwartung.  Binnen weniger Stunden durchquert man Land um Land, Jahrhunderte der Geschichte, eine an Kultur überreiche Welt und Nationen, in denen es vor Menschen wimmelt…

Und zum Schluss noch ein wunderschönes Bonmot von Wolfes Reise nach Eisenach (1935):

„All das Gold und Singen des Tages waren da. Es war Glück genug für einen lebendigen Menschen.“

1935: So bin ich nun, da ich Deutschland in wenigen Tagen verlasse, erschöpft, und fühle mich wie ausgewrungen. Ich bin erledigt durch Freundschaft, müde vor Vergnügen, ermattet von Entzücken. […] Ich werde es überleben. Man stirbt nicht an liebender Freundschaft. 

Die ausgewählten, kurzen Passagen möglich verdeutlich haben, was ich mit der prekären Liebe meine, als die ich Thomas Wolfes Verhältnis zu Deutschland lese und interpretiere. 

Wenn Sie wissen möchten, warum München Thomas Wolfe fast ‚gekillt‘ hätte, lesen Sie kommende Woche, am 17.10., den dritten und letzten Teil der Wolfe-Widmung, die sich mit seinem Oktoberfest-Erlebnis beschäftigt.