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03.10.2025, 09:04 Uhr
Andrea Heuser
Text & Debatte

Zum 125. Geburtstag von Thomas Wolfe. Eine Würdigung (I)

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Thomas Wolfe 1937, fotografiert von Carl van Hechten

Am 3. Oktober 1900 kam Thomas Wolfe (Thomas Clayton Wolfe) als letztes von acht Kindern eines pennsylvania-deutschen Steinmetzen und seiner Frau, die englisch-schottische Wurzeln hatte, in Ashville, North Carolina zur Welt. Wolfe, der inzwischen als einer der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt, starb mit nur 38 Jahren an Gehirntuberkulose. Deutschland, und insbesondere München, hat der sprachgewaltige Autor mit seinen Deutschlanderzählungen ein literarisches Denkmal gesetzt. Hier wurde er als der „amerikanische Homer“ zunächst noch stürmischer gefeiert als in den USA. Dass Deutschland im Wahn des Faschismus unterging, hat Thomas Wolfe nicht wirklich verkraftet. 

Anlässlich seines 125. Geburtstags erinnert die Schriftstellerin Andrea Heuser an den so zerrissenen wie, mit William Faulkner, „überragenden Autor seiner Generation“, in Form einer persönlichen, dreiteiligen Würdigung. Der erste Teil ist Wolfes opus magnum Schau heimwärts, Engel gewidmet. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Thomas Wolfes ambivalentem Deutschlandbild (Schwerpunkt Bayern) und der dritte Teil geht auf seine Erzählung Das Oktoberfest ein.   

*

 I. „Schau heimwärts, Engel“ (Look Homeward, Angel. A Story of the Buried Life (1929) – Das EINE Buch für die einsame Insel

... ein Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür; von einem Stein, einem Blatt, einer Tür. Und von all den vergessenen Gesichtern. [...] Uns sprachlos erinnernd suchen wir die große, vergessene Sprache, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür. Wo? Wann? O verloren und vom Winde betrauert, Geist, kehr wieder zurück. 

Ein Schicksal, das Engländer unter Deutsche führt, ist seltsam genug; doch wenn es von Epsom nach Pennsylvania führt und in den Hügelkranz um Altamont, wo der Hahn stolz im Korallenrot kräht und ein Marmorengel milde lächelt, webt eine dunkle Fügung mit, die in der öden Welt neue Wunder wirkt. 

Was für ein Romanbeginn! Das Lyrisch-Tastende; die Suche nach der vergessenen Sprache. Und dann dieser Wechsel im Ton, ins Prosaische. Nicht nur zog mich dieser erste, so rätselhaft-lockende erzählerische Satz direkt in den Bann der zu erwartenden Story: welche dunkle Fügung ist hier am Werk? Welche Wunder werden in der Ödnis gewirkt? Wie wird sich dieser schicksalsseltsame Engländer dort in der neuen Welt wohl durchschlagen? Da das Buch allein vom Umfang her ein epischer Wälzer von über 700 Seiten ist, gibt es dazu anscheinend sehr viel zu sagen. So weit so interessant; aber es war und ist vor allen Dingen die Sprache – der Wechsel der Tonarten, die Paradoxien; die suggestive und, je genauer man hinblickt, so betörend kluge Wahl der Adjektive etwa, auf die Thomas Wolfe niemals verzichtet; kein Nomen steht da nackt für sich allein, bleibt verinselt. 

„Uns sprachlos erinnernd suchen wir die große, vergessene Sprache“

Nehmen wir beispielsweise den stolzen Hahn, der da so atmosphärisch im Korallenrot – nicht simpel im Rot – kräht. Was in der Hügellandschaft von Altamont vielleicht idyllisch anmuten mag, bekommt schon wenige Sätze später eine ganz andere Färbung. Denn jener Engländer namens Gilbert Gaunt hielt sich in seiner neuen Heimat Pennsylvania mehr schlecht als recht damit über Wasser, dass er Kampfhähne gegen Bauergockel antreten ließ, die er oft genug tot, in ihren Blutlachen liegend, „zurücklassen musste“. 

Und der milde lächelnde Marmorengel erst – Da der Engel bereits im Titel vorkommt und dann noch den Beginn der Geschichte mit seinem Bild so sublim dominiert, achtet man hier natürlich ganz besonders auf seine Einführung. Und ja, diese Milde, das Lächeln verfolgt einen beim Lesen dann tatsächlich wie ein leiser, aber beharrlich nagender Hintergedanke: „wo ein Marmorengel milde lächelt“. Ja, aber wo, bitte schön, lächelt er denn mild? Denn es wird bald klar, dass Oliver, der Sohn des besagten Engländers Gaunt, der – in Hommage an Thomas Wolfes eigenen Vater – Steinmetz wird, trotz all seiner Mühen niemals den perfekten Engel zustande bringt. Stattdessen stellt er auf der Veranda vor seiner Werkstatt eine „plumpe, einfältig lächelnde Engelsfigur auf“. 

Welcher Engel lächelt da folglich so milde über dem Schicksal der Nachkommen Gilbert Gaunts, über seinem Sohn Oliver, dessen Frau Eliza und ihren neun Kindern, von denen sechs überlebten? Ist es der Engel des Schicksals? Und was ist von der Milde eines Marmorsteins überhaupt zu halten?

Was für ein Romanbeginn also und was für ein Titel! Schau heimwärts, Engel. Wer jemals – halb verschämt befürchtend wohlmöglich einem ‚Werbetrick‘ anheimzufallen – ein belletristisches Buch allein wegen seines verlockenden Titels kaufte, der wird verstehen, was ich meine.  

Gehen Sie einmal kurz in sich: Welchen Roman kauften Sie nur wegen seines Titels? Und wohin hat Sie das geführt? Haben Sie es bereut oder fühlten Sie sich bestätigt? Und was genau an diesem Titel sprach Sie so an, dass Sie nicht widerstehen konnten? Lag es an der speziellen Gemütsverfassung dieses Tages? Wären Sie vielleicht schon am nächsten Tag überlegen-distanziert an dem Buch vorbeigegangen oder hätten wenigstens erst einmal darin geblättert? 

Ich habe diesen Roman also tatsächlich wegen seines Titels gekauft. Dabei hatte ich es damals, mit Anfang zwanzig, so gar nicht mit Engeln. Engel standen bei mir generell unter Kitschverdacht; vor allen Dingen, wenn gar eine Frau damit gemeint war, also als „Angel“ angesprochen wurde. 

Meine Engel-Aversion änderte sich ein wenig später dann geradezu vollständig, als mir im Werke Walter Benjamins der „Engel der Geschichte“ begegnete, der vorwärtsgezogen wird vom Sturm der Zeit, der dabei aber rückwärts auf die sich anhäufenden Trümmer der menschlichen Geschichte schaut.  

Walter Benjamins geschichtsphilosophische Schrift stammt aus dem Jahr 1940 – zu diesem Zeitpunkt war Thomas Wolfe bereits seit zwei Jahren tot. Und dennoch: diese beiden Werke einmal geistig zusammenzubringen, Wolfe mit Benjamin zu lesen – dieser Versuch, auch wenn er an dieser Stelle natürlich nicht unternommen werden kann, erscheint mir vielversprechend.

Beide Engelsfiguren haben jedenfalls eines zentral gemeinsam: den geschichts- bzw. generationsträchtigen Blick, der dem Verhängnis unterworfen ist. Und ausschlaggebend beim Kauf von Thomas Wolfes Roman war für mich eben jene ungeheuer spannende Aufforderung: heimwärts zu schauen. Look Homeward, Angel. Dass der, der schaut, fernab der Heimat ist, ergibt sich daraus von selbst. Zumal der Untertitel: Geschichte vom begrabenen Leben, keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass es sich hierbei um einen Grabesengel handelt. Engel im Allgemeinen erschienen mir zwar langweilig; ein der Heimat ferner Engel hingegen höchst interessant. Jener Engel also, der heimwärts schaut – was er wohl sieht? Blickt er auf alle Zeiten zugleich und damit in den Tod? 

Was sagt der Text? Schauen wir uns gleich die nächsten drei, vier Sätze des Romanbeginns an. Denn wie lässt sich ein Schriftsteller besser würdigen, als ihn und seine Werke möglichst selbst zu Wort kommen zu lassen? So geht es weiter:

Die Summe dessen, was wir sind, hat keiner von uns je ermessen; man versetze uns zurück in Blöße und Nacht und wird vor viertausend Jahren auf Kreta die Liebe keimen sehen, die gestern in Texas ihr Ende fand. 
Die Saat unseres Untergangs wird in der Wüste aufgehen, das Gegengift wächst aus dem Gebirgsfelsen, und durch unser Leben spukt eine Schlampe aus Georgia, weil in London ein Taschendieb dem Galgen entging. Jeder Moment ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die minutengesättigten Tage summen wie Fliegen heimwärts in den Tod, und jeder Moment ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten. 

So auch dieser: Ein Engländer namens Gilbert Gaunt, der sich später Gant nannte (wohl aus Rücksicht auf die Aussprache durch die Yankees), kam 1837 auf einem Segelschiff von Bristol nach Baltimore und ließ den Ertrag des Wirtshauses, das er erworben hatte, bald seine sorglose Kehle hinunterrinnen.    

„Jeder Moment ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten.“ 

Gegen den Tod anerzählen – ein Urmotiv allen künstlerischen Schreibens und Schaffens. Schauen wir mit dem Engel heimwärts in den Tod? Gilt die Aufforderung, heimwärts zu schauen, im Grunde dem Lesenden? Denn lässt man sich auf die Lebensgeschichte, auf den Moment „Gilbert Gaunt“ ein, auf die Flüchtigkeit seines Eintagsfliegen-Daseins, auf dieses „buried life“, erfasst man darin zugleich etwas von der Frucht aller Menschenzeitalter.  
Man ahnt bereits: wenn man sich mit diesem ersten Absatz schon lange und tief beschäftigen kann, wie wird es einem dann erst mit dem gesamten, siebenhundertseitigen Roman ergehen?! (Und ich bin hier noch nicht einmal auf so scheinbar beiläufige Sinnstiftungen, wie etwa auf die lautliche Nähe eingegangen, die der Heimatort-Shift von Bris-tol zu Bal-ti-more meiner Ansicht nach birgt.)  

Zur Erleichterung sei gesagt: diese erste Seite ist – analog zum Verhältnis von Moment und Menschheitsgeschichte, vom Mikro- zum Makrokosmos – in gewisser Weise wie ein Ausblick auf alle Seiten. Und dabei ist die Geschichte als Story, im besten Sinne amerikanischer Literatur so unterhaltsam, ihre Figuren allesamt so vielschichtig-verquer, ihr Handeln, Denken und Fühlen ebenso bedauerns- wie letztlich nachvollziehbar-liebenswert, dass man dranbleiben will. Es wird daher nun auch nichts weiter mehr zitiert oder von der Handlung selbst verraten. 

Wer diese drei Generationen umspannende Familienchronik der Gants – in der sich auch eine Hommage des Autors an seine eigene Kindheit verbirgt, der aus einfachen Verhältnissen stammenden, hart arbeitenden Familie in der amerikanischen Provinz – wer also der Story rund um den brachial-impulsiven Quartalssäufer Oliver, dessen unverwüstlich duldsame, wie eigensinnig-raffgierige Frau Eliza und deren jeweils so unterschiedlichen Kindern durch die großen und kleinen Dramen des Familienalltags folgen mag (u.a. mit dem jüngsten Sohn, Eugene Gant, als alter ego Thomas Wolfes), der lese unbedingt selbst dieses opus magnum.

Um die Beziehung dieses Ehepaares Gant aber wenigstens mit einem Satz in ihrem widersprüchlichen Spektrum zu skizzieren, das der Erzähler im Roman selbst als „einen dunklen Kampf auf Leben und Tod“ beschrieb, in welchem „niemand eine Vorstellung davon [hatte], was Eliza in Angst und Schmerz und Herrlichkeit erduldete“, weht mich gerade eine Sequenz aus Wolfes Erzählung Das Oktoberfest an (zitiert aus: Thomas Wolfe, Eine Deutschlandreise), die zwar erst später, im Jahr 1937, erschien; das Erlebnis desselbigen ereignete sich aber im September 1928, parallel zu der Zeit, in der der junge Autor auf der Reise seine Arbeiten an seinem Romanerstling abschloss. Die Sorge der Frau, das Geld zusammenzuhalten, die alltägliche Gegenwärtigkeit von Gewalt, die Distanz und die verkappte Zuneigung – diese Basis-Gemengelage zwischen den Protagonisten Eliza und Oliver findet mit sich hier ebenfalls in dem öffentlichen Miteinander eines Schaustellers und seiner Frau auf der Wiesn wieder:

Ich sah zu, wie er mit verzweifelten Bemühungen begann, sich aus Kette und Zwangsjacke [der Tuchschlingen] zu befreien, bis ich merkte, wie sich sein Gesicht lila verfärbte und wie die großen Adern auf seiner Stirn in Strängen hervortraten. In der Zwischenzeit ging eine Frau durch die Menge, um einen Obulus zu erbitten, und als sie alles Geld eingesammelt hatte, das die Menge bereit war zu geben, da befreite sich der junge Mann, dessen geschwollenes Gesicht unterdessen fast schwarz war von Blut, im Nu und wurde auf den Boden heruntergelassen. […] der junge Mann saß auf einem Stuhl und erholte sich, die Hand vor den Augen. Inzwischen stand die Frau, die das Geld eingesammelt hatte, ängstlich neben ihm, musterte ihn und sagte dann etwas zu ihm. Und irgendwie, durch ihre bloße Nähe zueinander und sonst kein anderes äußeres Anzeichen, erahnte ich etwas von Zärtlichkeit und Liebe.   

Dort der expressiv-allegorische Duktus des Romans, hier der wahrnehmungsgenaue und ruhige Ton des erzählenden Berichts. Dieser Autor beherrschte beides gleichermaßen und drang in beiden Formen zu ähnlichen Aussagen über das zwischenmenschliche Miteinander vor, dessen fragile Nähe und Intimitäten stets der Mühsal, der Gewalt und dem Kampf „sich über Wasser zu halten“, abgerungen werden; aber dies geschieht jeweils, und das ist das so begeisternd Positive, mit einer unnachahmlichen Vitalität und Beharrungskraft. 

„Wir sind einsame, nackte Menschen, die verlorenen Amerikaner.“

Thomas Wolfe selbst, als jüngstes von acht Kindern, schaffte es im Übrigen von Ashville nach Harvard; er studierte dort Literatur und blieb selbst unverheiratet und kinderlos. Gewidmet ist sein Erstlingswerk aber einer Frau: der neunzehn Jahre älteren, verheirateten New Yorker Bühnen- und Kostümbildnerin Aline Bernstein, mit der er viele Jahre in Beziehung stand; sie war von 1925-1930 seine Geliebte, Muse und Mäzenin. 

Zurück zum Roman und seiner Wirkung: Als ich diese ersten, oben zitierten Sätze, von Schau heimwärts, Engel gelesen hatte, war ich zutiefst ergriffen. Und zwar nachhaltig. Was pathetisch oder wie eine Floskel klingen mag, ist einfach nur wahrhaftig. Die Sprachkunst von Thomas Wolfe, ihre Schönheit, Beharrlichkeit und Vitalität, ihre Paradoxie und Suggestionskraft erfasste tief und heftig mein Sein.

Man sagt es oft so daher, dass Kunst und damit auch die Literatur, nicht nur das Leben – in mögliche Wirklichkeiten – transformiert und anverwandelt, sondern dass sie auch den, der sie erfährt, verwandelt. Ein sehr hoher Anspruch, dieses Verwandeln, und oft genug nicht wahr; bzw. meiner pragmatischen Seite genügt es durchaus auch schon mal einige Stufen darunter. In diesem Falle aber stimmt es: das Lesen von Schau heimwärts, Engel war ein Ereignis für mich; es hat mich verwandelt. Und deswegen schreibe ich heute, am 125. Geburtstags diesen Autoren, dem selbst nur ein so kurzes Leben vergönnt war, darüber. Nicht als Literaturwissenschaftlerin, sondern ganz bewusst als Leserin. Und das Schönste daran ist, das ich mir ganz sicher bin, damit, mit dieser nachhaltigen, glückspendenden Ergriffenheit nicht allein zu sein.

Mein Romanexemplar ist so zerlesen und 'versehrt', dass ich mir inzwischen ein zweites zugelegt habe, das sich jetzt durchaus repräsentativ im Bücherregal macht. Das erste ist nämlich voller Unterstreichungen und Randbemerkungen und, schlimmer, Eselsohren! Zahlreiche, umgeknickte Seiten, die ich unbedingt sofort auf Anhieb wiederfinden wollte. Seiten, auf denen mir vor lauter Schönheit und ob der tieferen Wahrheit des Gesagten die Tränen kamen.

Wenn ich diese Spuren meiner damaligen Ergriffenheit heute nachverfolge, geht es mir an den meisten Stellen wieder so. Nicht an allen; ich habe mich verändert. Aber dieses Werk ist und bleibt die Essenz dessen, was mir Sprache zu geben vermag. Im Idealfall vermag Sprache die Seele zu nähren. Meist schafft dies die Poesie. Aber wenn ich bei der berüchtigten Partyfrage nach dem einen Buch (bloß nicht drei, dann wird es zu schwer!) für die einsame Insel gefragt werde, dann wäre die Antwort klar: Schau heimwärts, Engel von Thomas Wolfe.  

Mit diesem einen Werk (und etlichen Gedichten im Gedächtnis), glaube ich, könnte ich überleben. Vielleicht, weil es so ergreifend klar und prosaisch erfasst, dass kein Eiland der Welt es mit der „einsamen Insel“ aufnehmen kann, die wir selber sind. Und die doch, haben wir den Mut genauer hinzusehen, von den vitalsten Schatten unserer Ahnen bevölkert ist. 

Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich selbst Schriftstellerin bin, dass mir die Sprache selbst jenseits der Handlung so viel zu schenken vermag. Denn gute Literatur ist ja stets die, immer wieder auf andere Weise gelingende, Verschränkung von beidem: dem Was und dem Wie der Narration.  

Der Wechsel des Sprachduktus, das Shiften zwischen gehobener Sprache und Alltagsslang, vom hohen zum niedrigen Ton – man denke an den hier zitierten Satz aus dem Romanbeginn: der Wechsel von „der Schlampe aus Georgia“ zu den „minutengesättigten Tagen“ ist ein Stilmittel, das auch besonders gern in der zeitgenössischen Poesie angewendet wird.

Dazu kommt die Paradoxie als Stilmittel, das Zusammenbringen scheinbarer Gegensätze, die für Thomas Wolfe essentiell sind. Thematisch etwa der Gegensatz zwischen nackter, flüchtiger Vergänglichkeit und bis zur Unsterblichkeit geballter, menschlicher Zeit; zwischen Grobheit, Gewalt und plötzlich aufkeimender Zärtlichkeit und Nähe – stilistisch zwischen Poesie und Prosa, Pathos und Pragmatismus, präzisem Berichten und verdichteter Allegorik und Symbolik. Dieser Wechsel vollzieht sich, siehe oben, oftmals innerhalb desselben Satzes, aber dies mit einer geradezu organisch-natürlich anmutenden Selbstgewissheit. 

Die selbstbewussteste Literatur, die ich kenne 

Dabei ist dieses Werk alles anders als perfekt. Etliche Passagen sind recht langatmig; ich habe es keinesfalls an einem Stück ‚verschlungen‘; dazu ist es einfach auch zu sehr eine gehaltvolle Kost, die verdaut werden will, um im Bild zu bleiben. Ich habe es also zwischendurch beiseitegelegt, um mich ein wenig von meiner inneren Auseinandersetzung damit und auch von seiner Wirkung auf mich zu erholen. Aber: ich bin auch immer wieder in den Roman zurückgekehrt, bis heute. Ja, er ist lang. Nicht nur von der Seitenzahl; auch innerlich braucht man selbst einen langen Atem und so etwas wie Hingabe. Das ist nicht jedermanns Sache und schon gar nicht immer und zu jeder Zeit. Und dennoch wirkt sein Stil nicht artifiziell konstruiert, die Sprache wirkt, nein, sie ist vital. Es ist vielleicht die selbstbewussteste Literatur, die ich kenne. Hierin ist Schau heimwärts, Engel wohl zutiefst amerikanisch.  

Wenn das Kennzeichen der Moderne das Aushalten von Ambivalenzen ist, wie es der Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman einst so treffend behauptete, dann ist Thomas Wolfe der Autor der Moderne, der diese unauflösliche Ambivalenz des menschlichen Daseins essentialistisch zu erfassen und auszuhalten versteht. Darin, in diesem Aushalten, das nicht schönt, verdrängt oder glättet, wirkt er wiederum zutiefst europäisch. Ob das seinen deutschen und englischen Vorfahren geschuldet ist, auf deren Spuren er ja bewusst gereist ist? Jedenfalls ist es bezeichnend, dass Thomas Wolfe Schaut heimwärts, Engel auf seiner Europareise zu schreiben begann und den Roman auch dort vollendete.     

„Nackt und allein gingen wir ins Exil“ heißt es zu Beginn des Romans. Er selbst hat die Amerikaner als einsame, nackte Menschen beschrieben, deren Geschichtsvergessenheit er so sensibel nachspürte.  

Schau heimwärts, Engel – Ein Erstlingswerk, das Thomas Wolfe im Alter von 28 Jahren vollendete und dann gleich der ganz große Wurf. Ein Traum und die Cinderellaschuh-Geschichte eines jeden Autoren oder einer jeden Autorin.

Derjenige, der den Schuh sozusagen aufhob – nach etlichen Absagen von Verlagen, die vor dem über tausend-seitigen Manuskript kapitulierten, war schließlich kein anderer als Maxwell E. Perkins, ehemaliger Reporter bei der New York Times und nun Lektor im Verlagshaus Charles Scribner’s Sons. Die Aufgabe dieses brillianten, instinktsicheren Lektors, der immerhin bereits F. Scott Fitzgerald entdeckt hatte und Ernest Hemingway betreute, bestand, wie man sich inzwischen denken kann, hauptsächlich im Kürzen, im Herausdestillieren des Romans aus einem geradezu unbezähmbaren Textkonvolut – schließlich hatte sich der junge Wolfe in seiner Manie des Vollständigkeitsanspruchs vorgenommen, jedes Jahr eine Millionen Wörter zu schreiben.  Man sagt, Perkins habe aus dem Manuskript 90.000 Wörter gestrichen.   

Die Geschichte dieser intensiven, ja geradezu exzessiven Arbeitsbeziehung und Freundschaft zwischen Perkins und Wolfe, zwischen Lektor und Autor, wurde im Übrigen mit Jude Law (als Thomas Wolfe), Colin Firth (als Maxwell Perkins) und Nicole Kidman (als Aline Bernstein) unter dem Titel Genius – Die tausend Seiten einer Freundschaft verfilmt. Ein Muss für jeden Wolfe-Fan; auch wenn der Film ihn recht grell als ich-bezogenes, affektgesteuertes Genie zeichnet. Dabei charakterisierten ihn seine Zeitgenossen trotz seiner Exzentrik als „höflich, herzlich und bescheiden.“ Seine Schreibhilfen beschrieben den riesigen, kräftigen Mann (er war 1,98 m), als mitreißend lebendig: Er sei „kein Ein-Watt-Mann, sondern eine ganze Stromfabrik“ gewesen. Überall dort, wo er auf Partys auftauchte, erregte er durchaus Aufsehen. Von Affären und Skandalen, abgesehen von jener berüchtigten Schlägerei auf dem Oktoberfest, über die noch zu reden sein wird, weiß die Welt des Literaturbetriebs dennoch erstaunlich wenig zu berichten. 

Vielleicht liegt es, Wolfes Genussfreudigkeit und Feierlaunen, seinem Hang zu Exzessen zu trotz, daran, dass seine gesamte Energie beinahe vollständig vom Schreiben absorbiert wurde. Wenn er nicht auf Reisen war, arbeitete er offenbar rund um die Uhr. Sein zweites opus magnum, den Roman Von Zeit und Strom (1935) schrieb er vier Jahren lang quasi Tag und Nacht durch, da er seine fehlende Schreibdisziplin (des ökonomischen Schreibens) durch Fleiß und durch die ihm eigene Obsession wettzumachen versuchte und verließ nach eigenen Aussagen in dieser Zeit kaum sein Appartement in Brooklyn. Auf seiner anschließenden Europareise hatte er also einigen sozialen Nachholbedarf. Aber auch unterwegs schrieb er, zusätzlich zu seinen zahlreichen Briefen an seine Mutter, an Aline, seinen Lektor Max und seine Freunde, minutiös auf, was er wo unterwegs gesehen, gegessen, gelesen und mit wem er gesprochen hatte. Es muss ihm selbst oft eine Qual gewesen sein; dieser Drang alles zu umfassen, alles festzuhalten und dem Vergessen zu entreißen; auf der Suche nach jener großen vergessenen Sprache. Ob er geahnt haben mag, dass ihm nur so wenig Lebenszeit vergönnt sein würde – wer vermag das zu sagen. Dass er aber ausgerechnet an Gehirntuberkulose starb, klingt wie eine bittere Ironie des Schicksals. 

„Vielleicht der amerikanischste Roman, der je geschrieben wurde.“

Bleibt noch zu sagen, dass die zeitgenössischen Rezensionen auf Schaut heimwärts, Engel überwiegend positiv bis begeistert ausfielen. Der junge Autor wurde über Nacht zu einem begehrten Bestsellerautor; das scheint ihm bei aller Freude aber auch einem gehörigen inneren Erfolgsdruck ausgesetzt zu haben. Zu seinen größten Befürwortern gehörten William Faulkner und der Literaturpreisnobelträger Sinclair Lewis. In seiner Heimatstadt Ashville, der Thomas Wolfe im fiktiven Altamont ein unsterbliches Denkmal setzte, löste dieser Roman allerdings so viel Wut und Empörung aus, dass der Autor acht Jahre lang nicht heimfuhr; erst kurz vor seinem Tod näherte er sich seiner Heimatstadt wieder etwas an. 

Thomas Wolfes Haus in Ashville, North Carolina

Als Schau heimwärts, Engel drei Jahre später (1932) in Deutschland bei Rowohlt erschien – die Begegnung mit seinem deutschen Lektor Rowohlt ist eine eigene Ausführung wert, auf die ich noch im Zusammenhang mit Wolfes Deutschlandbild zu sprechen komme – dass dieser Roman in Deutschland dann noch weit enthusiastischer aufgenommen wurde als in Amerika selbst (Hermann Hesse etwa zählt zu Wolfes größten Bewunderern), hat sicherlich auch mit dem Glücksfall zu tun, dass der damals sehr bekannte expressionistische Dichter Hans Schiebelhuth diesen Roman und im Übrigen auch Von Zeit und Strom so kongenial übersetzt hat.

Im Jahr 2009 erschien bei Manesse (siehe oben) eine sehr beachtenswerte Neuübersetzung von Schau heimwärts, Engel. Dieser Ausgabe sind auch die hier zitierten Romanpassagen entnommen. Der Übersetzerin Irma Wehrli ist es gelungen, einerseits die Sprachkraft Wolfes in ihrer Vitalität zu erhalten und andererseits dem Roman eine gewisse Ruhe zurückzugeben.   

Inzwischen gilt Schau heimwärts, Engel längst unbestritten als einer der größten amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts; vielleicht sogar, wie viele versierte Kritiker behaupten, als der amerikanischste Roman, der je geschrieben wurde. Warum das wohl so ist, ist eine schöne anregende Frage, der jeder Wolfe-Lesende sich gern einmal widmen möge; zumal gerade in diesen Zeiten, in denen die Vision Amerika, die Vitalität der Zivilgesellschaft dort auf der Kippe steht. 

Und da bei einer solchen persönlichen Würdigung immer der Gewürdigte selbst das letzte Wort haben sollte, möchte ich hier, als Bogenschluss zum Romanbeginn, mit den letzten Worten des Romans schließen:

Doch als er nun zum letzten Mal neben den Engeln auf seines Vaters Veranda stand, schien es, als wäre der Platz schon weit entfernt und verloren; oder vielleicht sollte ich sagen, er glich einem Mann, der auf einem Hügel steht über der Stadt, die er verlassen hat, jedoch nicht sagt: „Die Stadt ist nah“, sondern seine Augen emporhebt zu den in weiter Ferne aufragenden Gebirgszügen. 

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„Der Bayer gilt in ganz Deutschland als origineller Typ.“ – Wie es um Thomas Wolfes zutiefst ambivalentes Bayern- und Deutschlandbild bestellt ist, das können Sie nächste Woche, am 10. Oktober, hier nachlesen.