Münchner Literaturstipendien und Leonhard-und-Ida-Wolf-Gedächtnispreis 2025 vergeben!
Die Landeshauptstadt München zeichnet (Nachwuchs-)Autorinnen und Autoren für vielversprechende literarische Projekte aus. Alle zwei Jahre werden insgesamt zehn Stipendien für Literatur vergeben, die mit jeweils 8.000 € dotiert sind. Zusätzlich wird auch in diesem Jahr der Leonhard und Ida-Wolf Gedächtnispreis für Autor*innen unter 30 Jahren in Höhe von 3.000 € vergeben. Der am 18. September 2025 tagende Kulturausschuss entschied auf Empfehlung einer Jury über die Vergabe der Preise. Die Preisverleihung / öffentliche Lesung der diesjährigen Stipendiat*innen findet am Mittwoch, 10. Dezember 2025 um 19 Uhr im Literaturhaus München statt.
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Die diesjährigen Literaturstipendien erhalten: Volha Hapeyeva für ihr Lyrikprojekt Elilenti, Louise Kenn für ihr Prosaprojekt Die Dateien, Kerstin Pistorius für ihr Romanprojekt Geister, Lilian Robl für ihr Schreibprojekt The Flamekeepers und Theresa Seraphin für ihr Lyrikprojekt SHMRZ SHW. Die zwei Stipendien für Übersetzungsprojekte erhalten Christiane Burkhardt für ihre Übersetzung von Tiemen Hiemstras Roman: W. (aus dem Niederländischen) und Katharina Martl für ihre Erstübersetzung von Ingeborg Arvolas Roman Vestersand (aus dem Norwegischen). Die beiden Stipendien im Bereich Kinder- und Jugendbuch gehen an Alexandra Gutzke für ihr Kinderbuchprojekt Rosalinde Rocket und an Gregor Locher für seinen Coming-of-Age-Roman Hier unten leuchte ich. Ulrike Steinke erhält das Stipendium für Illustration für ihre Graphic Novel Die Schwesternschaft. Der Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis geht an Jonas Hirner für sein Theaterstück Nachts an der Landstraße.
Die Jurybegründungen
Volha Hapeyeva: Elilenti
„Elilenti“, erläutert die Autorin, ist ein altes deutsches Wort aus dem 8. Jahrhundert für Verbannung, Exil, fremdes Land. Man könnte ihr Projekt auch mit einem Vers aus einem der Gedichte übertiteln: „Wohin reisen die Wörter / die man nicht mehr braucht“. Elilenti ist eine poetische Recherche in zwei Teilen, der erste widmet sich sozialen und persönlichen Aspekten des Exils („umgekehrte Heimat“), der zweite („Nachliebe“) der Sprache, den Sprachen – Belarussisch, Japanisch, Spanisch, Französisch, Englisch. Es sind nachdenklich-spielerische Klangexkursionen und -explorationen und Grammatiker-kundungen. Aber da ist auch ein hart ausgeleuchtetes Nachdenken über Bedingungen und Ursachen von Exil, über den verwahrlosten Zustand der Welt: „in welcher sprache / es macht keinen sinn / die hoffnung reduziert sich auf die größe des wunschzettels / in der hand des räuchermanns“. Die Tonlagen sind vielfältig: lakonisch – „im winter ist alles architektur“ –, komisch (ein Herbstgedicht) – „in hiesigen breitengraden / fangen plötzlich alle wörter mit kürbis an / wenn man die speisekarte betrachtet“.
Hapeyevas lyrische Sprache leuchtet, ihr gelingt es eindrucksvoll, das hoch Reflektierte, Analytische mit dem Sinnlichen, dem Kreatürlichen – Pflanzen und Tiere spielen eine große Rolle – zu versöhnen. Darin liegt ihre zutiefst humane Botschaft: Verbindet euch, sprecht mit allen Zungen, aber bleibt wachsam: Es gibt auch falschen Zungenschlag, der Zustand der Welt zeugt davon.
Die belarussische Autorin, Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin und promovierte Linguistin Volha Hapeyeva wurde 1982 in Minsk geboren, seit 2019 schreibt sie auf Deutsch. Ihre Gedichte wurden in mehr als fünfzehn Sprachen übertragen.
Louise Kenn: Die Dateien
Louise Kenn erzählt in ihrem Romanprojekt von Liv, einer Malerin in ihren Dreißigern, die sich während eines Dürresommers in einer psychosomatischen Klinik wegen Panikattacken behandeln lassen muss. Sie hat „Klimaangst“. Bereits die Frage, wie irrational es ist, mit der Angst vor einer immer heißer werdenden Welt nicht umgehen zu können, ist eine interessante Setzung für einen Roman. Louise Kenns Projekt erweitert diese Frage um eine individuelle Dimension, indem es einen genauen Blick in die Psyche seiner Protagonistin wirft. Die Partnerin eines Softwareentwicklers, wohnhaft in einem Penthouse in München, kann nämlich durchaus als Profiteurin klimafeindlicher Lebensweisen bezeichnet werden. Liv muss ihr eigenes Leben in Einklang mit ihrer Umwelt bringen. Damit reiht sich Louise Kenns Roman in den zeitlosen Topos der Identitätsfindung ein und fügt ihm eine aktuelle Komponente hinzu.
Umgesetzt wird dies mit großem Gestaltungswillen auf formaler und sprachlicher Ebene. Das Arrangement des Romans ist beeindruckend, die Erzählstimme pointiert und prägnant.
Louise Kenn, geboren 1992, studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie stand auf der Shortlist des Wortmeldungen-Förderpreises 2023 und war 2021 Preisträgerin des Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreises der Stadt München.
Kerstin Pistorius: Geister
Das Romanprojekt Geister von Kerstin Pistorius erzählt in bestechender Klarheit, wie fragil alles ist, wenn die vermeintlichen Fundamente ins Wanken geraten. Wir lesen die Geschichte der Molekularbiologin Rosa Ginter, die nach einem schweren Sturz ihres Vaters in ihre Heimat zurückkehrt – sie gerät in einen Sog aus Zweifeln, Erinnerungslücken und verdrängter Vergangenheit. Der Text ist atmosphärisch dicht und entwickelt einen kriminalistischen Sog. Denn Rosa Ginter ist eine klug gezeichnete Figur: eigentlich voller Rationalität, wirkt sie innerlich zerrissen. Sie dringt Schicht für Schicht in die Geschichte ihrer Familie vor – und mit jeder gewonnenen Erkenntnis entgleitet ihr das eigene Selbstverständnis immer mehr.
Kerstin Pistorius gelingt es, von dieser inneren Verunsicherung zu schreiben, ihre Sprache ist präzise, mit schönen Zwischentönen. Diese Autorin weiß, wie man dramaturgisch baut, aber sie verlässt sich nicht allein auf die Mechanik. Geister ist ein literarisch reifer Debütroman – und übt eine Sogwirkung aus.
Kerstin Pistorius, 1978 in Heidelberg geboren, studierte Literaturwissenschaften und kreati-ves Schreiben in München, Berlin und in den USA. Sie war Teilnehmerin der 23. Münchner Drehbuchwerkstatt und des ersten Writers‘ Room Lab am Bayerischen Filmzentrum. Nach jahrelanger Arbeit als Wissenschaftsredakteurin machte sie sich 2019 als Drehbuchautorin selbständig.
Lilian Robl: The Flamekeepers
Mit The Flamekeepers präsentiert Lilian Robl ein literarisch wie konzeptuell beeindruckendes Schreibprojekt, das sich auf vielschichtige Weise mit der Frage auseinandersetzt, wie weibliche und queere Autorschaft erinnert, dokumentiert und gedeutet wird – insbesondere dann, wenn sie von Brüchen, Krankheit oder gesellschaftlicher Marginalisierung geprägt ist. Im Zentrum des Textes stehen die Biografien dreier realer Frauen: Ingeborg Bachmann, Emma Hauck und Rabe Perplexum. Robl nähert sich ihnen mit dem erklärten Ziel, den gängigen Zugriffen – der Mythisierung, der Pathologisierung, der kuratorischen Einordnung – etwas Poetisches und Widerständiges entgegenzusetzen. Ihr Text fragt, was es bedeutet, mit und durch statt über eine Figur zu schreiben, und was eine Sprache leisten kann, die sich einer erklärenden oder vermittelnden Funktion bewusst entzieht. Die drei sehr unterschiedlichen Frauenstimmen werden durch eine collagierte Gegenüberstellung geschärft.
Formal überzeugt der Text durch seine eigenständige, fragmentarische Struktur: essayistische Passagen, literarische Miniaturen, lyrisch verdichtete und szenische Abschnitte greifen ineinander. Robls Zugang zur Literatur ist forschend, suchend, intermedial – geprägt von einem präzisen Blick auf Sprache als politisch-poetisches Material. Ein überzeugendes ästhetisches Statement gegen narrative Glättung und geschlossene Lesarten.
Lilian Robl, 1990 in München geboren, ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin und Autorin, die ihre Wurzeln in der Bildenden Kunst hat, sich in ihrer künstlerischen Praxis aber seit Jahren im Spannungsfeld von Sprache, Video, Performance und Literatur bewegt.
Theresa Seraphin: SCHMRZ SHW
Theresa Seraphins Gedichtzyklus SCHMRZ SHW erzählt „von allem und für jede“, vom Erleben und Verarbeiten sexualisierter Gewalt im Kindes- und Jugendalter. Am Anfang steht eine Biografie weiblichen Aufwachsens in fast schon naiv-kindlichen Dreizeilern, in denen Gefahr lauert. Gefahr für den weiblichen Körper, aber auch die Gefahr, den Text zu unterschätzen und von der Gewalt überrollt zu werden, die hier noch im Dazwischen bleibt. Der „Mund stummt“, doch stellenweise bricht die Sprache schon in die Tiefe, ein Abgrund öffnet sich. Schon ab der ersten Zeile zeigt sich der beeindruckende Formwille des Bandes, der nicht im Vagen verharrt, sondern sich ins Explizite vorarbeitet, die Gewalt beim Namen nennt und schließlich in einem stakkatoartigen Rap voller Wut endet – eine Anklage ohne Versöhnung, doch mit einer klaren Vision: von einer Lyrik als „CuntPoetry“, die sich zu wehren weiß. Die antworten kann: „Die härteste Penetration / ist unser Herzschlag.“
SCHMRZ SHW ist ein absolut gegenwärtiger Lyrikband, der zeigt, wie heute über Sexualität, aber auch wie von „Gewalt geschrieben werden kann, ohne dass die Sprache reißt“. Nämlich persönlich und – das ist die besondere Stärke des Zyklus – überindividuell zugleich: Theresa Seraphin dichtet mit einem lyrischen Unser-Ich, das sich literarische Weggefährtinnen sucht und selbst zu einer Gefährtin wird.
Theresa Seraphin lebt als freie Autorin und Dramaturgin in München. Ihre Gedichte erschienen in Anthologien und Zeitschriften. 2016 gründete sie mit Raphaela Bardutzky das Netzwerk Münchner Theatertexter*innen (NMT). 2023 feierte ihr Text ERIK*A an der Münchner Schauburg Premiere. Die Produktion wurde mit dem Jugendstückpreis des Heidelberger Stückemarkts 2024 ausgezeichnet.
Ulrike Steinke: Schwesternschaft (Illustrationsprojekt)
Ulrike Steinkes Graphic Novel Schwesternschaft ist eine Bestandsaufnahme. Sie zeigt am Beispiel von sechs Freundinnen die Schwierigkeiten und Widernisse, denen Frauen, unabhängig von Alter und sexueller Orientierung, privat und beruflich ausgesetzt sind. Immer noch und immer wieder. Wie aber schafft man es, das Thema der offenen oder versteckten Frauenfeindlichkeit so darzustellen, dass es generations- und geschlechterübergreifend gelesen, geschätzt und ernstgenommen wird? Ulrike Steinke beobachtet und zeigt, was sie sieht: Frauen, die sich mühen, straucheln, Verbündete finden, weitermachen. Unermüdlich und zuversichtlich. Wir sehen die Frauen in perspektivisch perfekt gezeichneten Bühnenbildern, fahlen Stadtlandschaften, Häusergebirgen, Wohnungen. In Räumen, die Basis und zugleich Begrenzung des Geschehens sind. Wir sehen kleine Menschen in der großen Welt. Weltverbundenheit. Frauen in ihrer Umgebung, nie nur für sich, nie das Zentrum der Welt. Die Gestaltung ist freundlich, kleinteilig, helle Farben und Naturtöne. Liebevolle Details, mit feinem Stift genau getroffene Typen, dazu eine gute Portion Humor.
Ulrike Steinke braucht weder Pathos noch dramatische Bilder. Von den Zumutungen erfährt man nur aus knappen Texten. Männer und Frauen sind gleichwertig gezeichnet. Sie begegnen sich, jedenfalls auf den Buchseiten, auf Augenhöhe. Nur – noch sind wir nicht so weit. Dafür braucht es so kluge und gut gemachte Buchprojekte wie Schwesternschaft.
Ulrike Steinke, 1975 in Neu Kaliß / Mecklenburg geboren, ist Illustratorin und Comic-Künstlerin. Daneben hat sie Lehraufträge an der Kunsthochschule Halle sowie an den Akademien der bildenden Künste in München und Stuttgart.
Katharina Martl: Ingeborg Arvola: Vestersand (Übersetzungsprojekt)
Katharina Martl wird ausgezeichnet für die Übersetzung des 2024 veröffentlichten Romans Vestersand der norwegischen Autorin Ingeborg Arvola, der 2026 auf Deutsch erscheinen soll. Als zweiter Band der Eismeer-Trilogie (nach Der Aufbruch) porträtiert Vestersand den vielgestaltigen soziokulturellen Raum an der norwegischen Eismeerküste im 19. Jahrhundert. Thematisch verschränken sich kontrastierende Glaubenswelten, Auswanderung, die raue Lebenswirklichkeit von Walfängern und Fischern sowie die staatliche Repression der samischen und kvenischen Minderheiten zu einem dichten, atmosphärischen Gesellschaftsporträt. Diese Vielschichtigkeit zeigt sich auch in der Komposition des Romans, der von der Übersetzerin nicht nur tiefgreifende historische, kulturelle und milieuspezifische Kenntnisse, sondern auch ein feines Gespür für stilistische Nuancen verlangt.
Katharina Martl bewältigt all diese Herausforderungen mit beeindruckender Souveränität. Sie verleiht dem Werk in ihrer Übersetzung einen sehr schönen Ton und findet wunderbar poetische Lösungen.
Katharina Martl, geboren 1987, studierte Nordische Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie an der LMU München und schloss dort 2022 den Masterstudiengang „Literarisches Übersetzen“ ab. Sie übersetzt aus dem Dänischen, Englischen, Norwegischen und Schwedischen.
Christiane Burkhardt: Tiemen Hiemstra: W. (Übersetzungsprojekt)
Christiane Burckhardt wird ausgezeichnet für die Übersetzung des Romans W. von Tiemen Hiemstra aus dem Niederländischen, der im Kein & Aber Verlag erscheinen soll. Der Roman behandelt eine Dreierfreundschaft zwischen zwei Männern und einer Frau. Als einer der Männer plötzlich verschwindet, ist die Sorge groß, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Doch es stellt sich heraus, dass er die anderen beiden ghostet. Der Roman setzt ein, als er Jahre später völlig unerwartet wieder auftaucht. Es geht also um Themen wie persönliche Wahrnehmung im Verhältnis zur Realität, Widersprüchlichkeit und Wahrheit. Der Autor begibt sich damit auf ein ambivalentes Feld voller Irritations- und Störmomente.
Die überzeugende Übersetzung von Christiane Burkhardt löst das gekonnt durch einen Ton, der dem Inhalt genau entspricht und die richtige Atmosphäre schafft. Auch die Arbeit mit verschiedenen vom Autor eingestreuten Textsorten und sprachlichen Doppeldeutigkeiten ist sehr gelungen und kenntnisreich umgesetzt für einen treffenden und gleichzeitig flüssigen Text im Deutschen.
Christiane Burkhardt, geboren 1966 in Stuttgart, hat Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte studiert und arbeitet seit 2000 als Übersetzerin aus dem Niederländischen, Italienischen und Englischen, moderiert Übersetzungen und unterrichtet literarisches Übersetzen.
Alexandra Gutzke: Rosalinde Rocket – Wo geht’s denn hier ins Weltall? (Kinderbuchprojekt)
Rosalinde will schon ihr Leben lang Astronautin werden. Also schon sehr lange, denn sie ist neun. Als sie erfährt, dass von einem Weltraumbahnhof an der Nordsee die erste deutsche Rakete ins Weltall starten wird, bricht sie dorthin auf, zusammen mit dem Nachbarsjungen Timor und ihrem Leihdackel Herrn Biber. Die drei kommen zwar nur bis zur Sternwarte ihrer Stadt, können aber von dort aus eine Kollision der Nordseerakete heldenhaft verhindern. In ihrem Kinderroman-Debüt erzählt Alexandra Gutzke, was Kinder sich wünschen: eine turbulente, ein bisschen verrückte Geschichte über ein selbstbewusstes Mädchen, das seine Sehnsucht in Realität verwandelt. Die Textprobe ist stilsicher und mit großer Leichtigkeit geschrieben, voller Wortwitz und Situationskomik. Zusätzlich gibt es eine zweite, hintergründige Ebene, die von der Schwere des Lebens handelt. So ist der Hund Herr Biber sehr krank, und Rosi hofft, dass im Weltall ein Medikament für ihn erfunden werden kann. Und Rosis Papa ist vor zwei Monaten ausgezogen. Die Eltern haben die Trennung gut organisiert, zum Beispiel gibt es Mamawochen und Papawochen. Doch Rosis Trennungsschmerz ist viel größer, als sie selbst und ihre Eltern es wahrhaben wollen.
Davon erzählt die Autorin mit großer Sensibilität und sprachlicher Subtilität. Der Text bietet also zugleich Lesevergnügen und eine unaufdringliche Trennungsgeschichte, in der sich betroffene Kinder wiederfinden können. Mit sicherem Gespür für die Proportionen von Leichtem und Schwerem verspricht uns die Autorin ein glückliches Ende ohne Zauberei und im Rahmen des realistisch Möglichen.
Alexandra Gutzke, 1984 im Ruhrgebiet geboren, hat in Bielefeld Germanistik studiert und arbeitet als Jugendschutzbeauftragte, Journalistin und freie Autorin.
Gregor Locher: Hier unten leuchte ich (Jugendbuchprojekt)
Anton, 16 Jahre, ist auf der Suche. In der schwäbischen Provinz sucht er um die Jahrtausendwende seinen Platz in der Welt und stellt sich den großen Sinnfragen. Ein Kuss mit dem schönen Cosimo von Leuchtenfels hat sein Leben verändert. Ist das Liebe, was er für ihn empfindet? Und wenn ja, hat diese Liebe eine Zukunft? Im kleinen Ort Leuchtingen wird Tradition und Brauchtum noch groß geschrieben. Während der adelige Cosimo fest in die Dorfgemeinschaft integriert ist, verbringt Anton sein Leben in einer Außenseiterposition zwischen Dorfdisco und Filmabenden mit seiner alleinerziehenden Mutter Sabine. Schwierig wird es, als Wille, die beste Freundin von Anton, und Cosimo ein Paar werden. Jetzt muss Anton sich entscheiden, ob er um seine Liebe kämpft oder aus Loyalität zu Wille seine Verliebtheit verdrängt. Der Coming-of-Age-Roman nimmt das Gefühlschaos junger Menschen ernst. Anton möchte raus: aus der Zuschreibung von sexueller Normierung, aus der Enge der Dorfgemeinschaft und weg von den Erwartungen der anderen. Ein Austauschjahr in den USA soll für Abstand sorgen. In Colorado lernt er dabei vor allem eins: Vor seinen eigenen Gefühlen kann man nicht davonlaufen.
Für all das findet Gregor Locher eine eigene Sprache, die eben nicht Jugendsprache ist, sondern die Gefühle auslotet und festhält. Sensibel und mit Humor nähert er sich seinen Charakteren an. Sein Debüt gibt uns Einblick in die Zeit des Lebens, in der alles möglich scheint und höchstes Glück und tiefste Verzweiflung so nah beieinander liegen wie die zwei Seiten einer Medaille.
Gregor Locher, geboren 1984, studierte Komparatistik, Amerikanistik und Geschichte an der LMU München. Nach einigen Jahren in London, Paris und Dublin lebt und schreibt er seit 2022 wieder in München.
Jonas Hirner: Nachts auf der Landstraße (Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis)
Jonas Hirner hat für sein Drama einen ungewöhnlichen Ort gewählt: einen Autobahnrastplatz, einen Durchgangsort ohne Aufenthaltsqualität. An diesen spült es skurrile Figuren, die zu dem haltlosen Irgendwo passen. Es sind Charaktere, denen im realen Leben in der Regel nur eine kurze Aufmerksamkeit geschenkt wird, denen selten eine Bühne bereitet wird – aber eben doch bei dem Autor Jonas Hirner. Mit Nachts auf der Landstraße richtet er einen Scheinwerfer auf das im Theater nicht gerade überrepräsentierte einkommensschwache Milieu. Dort findet er neben der Kassiererin und dem Lkw-Fahrer einen Rezeptionisten, eine Eis-Frau und eine Vertreterin und macht aus ihnen auf Hochglanz polierte Kunstfiguren, die letztlich für gesamtgesellschaftliche Phänomene wie Vereinsamung, Kommunikationsschwierigkeiten und die Sehnsucht nach einem besseren Leben stehen. Jonas Hirner hat die Jury wie kein anderer in seiner Altersgruppe überzeugt.
Der 25-Jährige verdichtet und verknappt seine Dialoge und schafft dabei das Kunststück, den Figuren sehr präzise Tiefe zu verleihen. Diese sind dabei in ihren Ticks gefangen, Sprache ist Austausch von Wörtern, keine Kommunikation. Diese Ich-Gefangenheit vollzieht Hirner auch in den Kreisbewegungen der Repliken nach. Der Text behält dabei Humor und Tempo bei. Setting, Szenenaufbau, Dosierung und Platzierung der Worte – das alles zeugt von großer Sicherheit und Qualität.
Jonas Hirner, 2000 in Mutlangen geboren, hat in Stuttgart ein Bachelor-Studium der Germanistik- und Philosophie absolviert und ist derzeit im Masterstudium „Theaterforschung und kulturelle Praxis“ an der LMU. Neben Hospitanzen und Regieassistenzen schreibt er selbst Theaterstücke: Käfertage wurde im November 2022 im Dreigroschentheater Stuttgart uraufgeführt.
Der Jury
Unter dem Vorsitz des Kulturreferenten Marek Wiechers gehörten der Jury an: Oliver Brauer (Agentur Brauer & Kern), Eva-Maria Kaufmann (Lektorin, dtv), Dr. Dagmar Leupold (Autorin, Übersetzerin), Annegret Liepold (Autorin, Stipendiatin 2023), Dr. Angelika Otto (Journalistin, Münchner Feuilleton), Yvonne Poppek (Journalistin, Süddeutsche Zeitung) für die Kinder- und Jugendbuchprojekte: Frank Griesheimer (Lektor Kinder- und Jugendbuch), Gerlinde Moorkamp (Agentur Silke Weniger), Mirjam Raymond (Autorin, Stipendiatin 2023), Cornelia von Seidlein (Illustratorin) für die Übersetzungsprojekte: Marion Hertle (Verlagsbuchhandlung Liebeskind, Lektorin, Übersetzerin), Wanda Jakob (Lektorin, Übersetzerin), Dr. Maximilian Murmann (Übersetzer, Stipendiat 2021) Kommissionsmitglieder des Stadtrats: Mona Fuchs (Die Grünen – Rosa Liste – Volt), Thomas Niederbühl (Die Grünen – Rosa Liste – Volt), Andreas Babor (CSU mit FREIE WÄHLER), Winfried Kaum (CSU mit FREIE WÄHLER), Kathrin Abele (SPD)
Münchner Literaturstipendien und Leonhard-und-Ida-Wolf-Gedächtnispreis 2025 vergeben! >
Die Landeshauptstadt München zeichnet (Nachwuchs-)Autorinnen und Autoren für vielversprechende literarische Projekte aus. Alle zwei Jahre werden insgesamt zehn Stipendien für Literatur vergeben, die mit jeweils 8.000 € dotiert sind. Zusätzlich wird auch in diesem Jahr der Leonhard und Ida-Wolf Gedächtnispreis für Autor*innen unter 30 Jahren in Höhe von 3.000 € vergeben. Der am 18. September 2025 tagende Kulturausschuss entschied auf Empfehlung einer Jury über die Vergabe der Preise. Die Preisverleihung / öffentliche Lesung der diesjährigen Stipendiat*innen findet am Mittwoch, 10. Dezember 2025 um 19 Uhr im Literaturhaus München statt.
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Die diesjährigen Literaturstipendien erhalten: Volha Hapeyeva für ihr Lyrikprojekt Elilenti, Louise Kenn für ihr Prosaprojekt Die Dateien, Kerstin Pistorius für ihr Romanprojekt Geister, Lilian Robl für ihr Schreibprojekt The Flamekeepers und Theresa Seraphin für ihr Lyrikprojekt SHMRZ SHW. Die zwei Stipendien für Übersetzungsprojekte erhalten Christiane Burkhardt für ihre Übersetzung von Tiemen Hiemstras Roman: W. (aus dem Niederländischen) und Katharina Martl für ihre Erstübersetzung von Ingeborg Arvolas Roman Vestersand (aus dem Norwegischen). Die beiden Stipendien im Bereich Kinder- und Jugendbuch gehen an Alexandra Gutzke für ihr Kinderbuchprojekt Rosalinde Rocket und an Gregor Locher für seinen Coming-of-Age-Roman Hier unten leuchte ich. Ulrike Steinke erhält das Stipendium für Illustration für ihre Graphic Novel Die Schwesternschaft. Der Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis geht an Jonas Hirner für sein Theaterstück Nachts an der Landstraße.
Die Jurybegründungen
Volha Hapeyeva: Elilenti
„Elilenti“, erläutert die Autorin, ist ein altes deutsches Wort aus dem 8. Jahrhundert für Verbannung, Exil, fremdes Land. Man könnte ihr Projekt auch mit einem Vers aus einem der Gedichte übertiteln: „Wohin reisen die Wörter / die man nicht mehr braucht“. Elilenti ist eine poetische Recherche in zwei Teilen, der erste widmet sich sozialen und persönlichen Aspekten des Exils („umgekehrte Heimat“), der zweite („Nachliebe“) der Sprache, den Sprachen – Belarussisch, Japanisch, Spanisch, Französisch, Englisch. Es sind nachdenklich-spielerische Klangexkursionen und -explorationen und Grammatiker-kundungen. Aber da ist auch ein hart ausgeleuchtetes Nachdenken über Bedingungen und Ursachen von Exil, über den verwahrlosten Zustand der Welt: „in welcher sprache / es macht keinen sinn / die hoffnung reduziert sich auf die größe des wunschzettels / in der hand des räuchermanns“. Die Tonlagen sind vielfältig: lakonisch – „im winter ist alles architektur“ –, komisch (ein Herbstgedicht) – „in hiesigen breitengraden / fangen plötzlich alle wörter mit kürbis an / wenn man die speisekarte betrachtet“.
Hapeyevas lyrische Sprache leuchtet, ihr gelingt es eindrucksvoll, das hoch Reflektierte, Analytische mit dem Sinnlichen, dem Kreatürlichen – Pflanzen und Tiere spielen eine große Rolle – zu versöhnen. Darin liegt ihre zutiefst humane Botschaft: Verbindet euch, sprecht mit allen Zungen, aber bleibt wachsam: Es gibt auch falschen Zungenschlag, der Zustand der Welt zeugt davon.
Die belarussische Autorin, Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin und promovierte Linguistin Volha Hapeyeva wurde 1982 in Minsk geboren, seit 2019 schreibt sie auf Deutsch. Ihre Gedichte wurden in mehr als fünfzehn Sprachen übertragen.
Louise Kenn: Die Dateien
Louise Kenn erzählt in ihrem Romanprojekt von Liv, einer Malerin in ihren Dreißigern, die sich während eines Dürresommers in einer psychosomatischen Klinik wegen Panikattacken behandeln lassen muss. Sie hat „Klimaangst“. Bereits die Frage, wie irrational es ist, mit der Angst vor einer immer heißer werdenden Welt nicht umgehen zu können, ist eine interessante Setzung für einen Roman. Louise Kenns Projekt erweitert diese Frage um eine individuelle Dimension, indem es einen genauen Blick in die Psyche seiner Protagonistin wirft. Die Partnerin eines Softwareentwicklers, wohnhaft in einem Penthouse in München, kann nämlich durchaus als Profiteurin klimafeindlicher Lebensweisen bezeichnet werden. Liv muss ihr eigenes Leben in Einklang mit ihrer Umwelt bringen. Damit reiht sich Louise Kenns Roman in den zeitlosen Topos der Identitätsfindung ein und fügt ihm eine aktuelle Komponente hinzu.
Umgesetzt wird dies mit großem Gestaltungswillen auf formaler und sprachlicher Ebene. Das Arrangement des Romans ist beeindruckend, die Erzählstimme pointiert und prägnant.
Louise Kenn, geboren 1992, studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie stand auf der Shortlist des Wortmeldungen-Förderpreises 2023 und war 2021 Preisträgerin des Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreises der Stadt München.
Kerstin Pistorius: Geister
Das Romanprojekt Geister von Kerstin Pistorius erzählt in bestechender Klarheit, wie fragil alles ist, wenn die vermeintlichen Fundamente ins Wanken geraten. Wir lesen die Geschichte der Molekularbiologin Rosa Ginter, die nach einem schweren Sturz ihres Vaters in ihre Heimat zurückkehrt – sie gerät in einen Sog aus Zweifeln, Erinnerungslücken und verdrängter Vergangenheit. Der Text ist atmosphärisch dicht und entwickelt einen kriminalistischen Sog. Denn Rosa Ginter ist eine klug gezeichnete Figur: eigentlich voller Rationalität, wirkt sie innerlich zerrissen. Sie dringt Schicht für Schicht in die Geschichte ihrer Familie vor – und mit jeder gewonnenen Erkenntnis entgleitet ihr das eigene Selbstverständnis immer mehr.
Kerstin Pistorius gelingt es, von dieser inneren Verunsicherung zu schreiben, ihre Sprache ist präzise, mit schönen Zwischentönen. Diese Autorin weiß, wie man dramaturgisch baut, aber sie verlässt sich nicht allein auf die Mechanik. Geister ist ein literarisch reifer Debütroman – und übt eine Sogwirkung aus.
Kerstin Pistorius, 1978 in Heidelberg geboren, studierte Literaturwissenschaften und kreati-ves Schreiben in München, Berlin und in den USA. Sie war Teilnehmerin der 23. Münchner Drehbuchwerkstatt und des ersten Writers‘ Room Lab am Bayerischen Filmzentrum. Nach jahrelanger Arbeit als Wissenschaftsredakteurin machte sie sich 2019 als Drehbuchautorin selbständig.
Lilian Robl: The Flamekeepers
Mit The Flamekeepers präsentiert Lilian Robl ein literarisch wie konzeptuell beeindruckendes Schreibprojekt, das sich auf vielschichtige Weise mit der Frage auseinandersetzt, wie weibliche und queere Autorschaft erinnert, dokumentiert und gedeutet wird – insbesondere dann, wenn sie von Brüchen, Krankheit oder gesellschaftlicher Marginalisierung geprägt ist. Im Zentrum des Textes stehen die Biografien dreier realer Frauen: Ingeborg Bachmann, Emma Hauck und Rabe Perplexum. Robl nähert sich ihnen mit dem erklärten Ziel, den gängigen Zugriffen – der Mythisierung, der Pathologisierung, der kuratorischen Einordnung – etwas Poetisches und Widerständiges entgegenzusetzen. Ihr Text fragt, was es bedeutet, mit und durch statt über eine Figur zu schreiben, und was eine Sprache leisten kann, die sich einer erklärenden oder vermittelnden Funktion bewusst entzieht. Die drei sehr unterschiedlichen Frauenstimmen werden durch eine collagierte Gegenüberstellung geschärft.
Formal überzeugt der Text durch seine eigenständige, fragmentarische Struktur: essayistische Passagen, literarische Miniaturen, lyrisch verdichtete und szenische Abschnitte greifen ineinander. Robls Zugang zur Literatur ist forschend, suchend, intermedial – geprägt von einem präzisen Blick auf Sprache als politisch-poetisches Material. Ein überzeugendes ästhetisches Statement gegen narrative Glättung und geschlossene Lesarten.
Lilian Robl, 1990 in München geboren, ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin und Autorin, die ihre Wurzeln in der Bildenden Kunst hat, sich in ihrer künstlerischen Praxis aber seit Jahren im Spannungsfeld von Sprache, Video, Performance und Literatur bewegt.
Theresa Seraphin: SCHMRZ SHW
Theresa Seraphins Gedichtzyklus SCHMRZ SHW erzählt „von allem und für jede“, vom Erleben und Verarbeiten sexualisierter Gewalt im Kindes- und Jugendalter. Am Anfang steht eine Biografie weiblichen Aufwachsens in fast schon naiv-kindlichen Dreizeilern, in denen Gefahr lauert. Gefahr für den weiblichen Körper, aber auch die Gefahr, den Text zu unterschätzen und von der Gewalt überrollt zu werden, die hier noch im Dazwischen bleibt. Der „Mund stummt“, doch stellenweise bricht die Sprache schon in die Tiefe, ein Abgrund öffnet sich. Schon ab der ersten Zeile zeigt sich der beeindruckende Formwille des Bandes, der nicht im Vagen verharrt, sondern sich ins Explizite vorarbeitet, die Gewalt beim Namen nennt und schließlich in einem stakkatoartigen Rap voller Wut endet – eine Anklage ohne Versöhnung, doch mit einer klaren Vision: von einer Lyrik als „CuntPoetry“, die sich zu wehren weiß. Die antworten kann: „Die härteste Penetration / ist unser Herzschlag.“
SCHMRZ SHW ist ein absolut gegenwärtiger Lyrikband, der zeigt, wie heute über Sexualität, aber auch wie von „Gewalt geschrieben werden kann, ohne dass die Sprache reißt“. Nämlich persönlich und – das ist die besondere Stärke des Zyklus – überindividuell zugleich: Theresa Seraphin dichtet mit einem lyrischen Unser-Ich, das sich literarische Weggefährtinnen sucht und selbst zu einer Gefährtin wird.
Theresa Seraphin lebt als freie Autorin und Dramaturgin in München. Ihre Gedichte erschienen in Anthologien und Zeitschriften. 2016 gründete sie mit Raphaela Bardutzky das Netzwerk Münchner Theatertexter*innen (NMT). 2023 feierte ihr Text ERIK*A an der Münchner Schauburg Premiere. Die Produktion wurde mit dem Jugendstückpreis des Heidelberger Stückemarkts 2024 ausgezeichnet.
Ulrike Steinke: Schwesternschaft (Illustrationsprojekt)
Ulrike Steinkes Graphic Novel Schwesternschaft ist eine Bestandsaufnahme. Sie zeigt am Beispiel von sechs Freundinnen die Schwierigkeiten und Widernisse, denen Frauen, unabhängig von Alter und sexueller Orientierung, privat und beruflich ausgesetzt sind. Immer noch und immer wieder. Wie aber schafft man es, das Thema der offenen oder versteckten Frauenfeindlichkeit so darzustellen, dass es generations- und geschlechterübergreifend gelesen, geschätzt und ernstgenommen wird? Ulrike Steinke beobachtet und zeigt, was sie sieht: Frauen, die sich mühen, straucheln, Verbündete finden, weitermachen. Unermüdlich und zuversichtlich. Wir sehen die Frauen in perspektivisch perfekt gezeichneten Bühnenbildern, fahlen Stadtlandschaften, Häusergebirgen, Wohnungen. In Räumen, die Basis und zugleich Begrenzung des Geschehens sind. Wir sehen kleine Menschen in der großen Welt. Weltverbundenheit. Frauen in ihrer Umgebung, nie nur für sich, nie das Zentrum der Welt. Die Gestaltung ist freundlich, kleinteilig, helle Farben und Naturtöne. Liebevolle Details, mit feinem Stift genau getroffene Typen, dazu eine gute Portion Humor.
Ulrike Steinke braucht weder Pathos noch dramatische Bilder. Von den Zumutungen erfährt man nur aus knappen Texten. Männer und Frauen sind gleichwertig gezeichnet. Sie begegnen sich, jedenfalls auf den Buchseiten, auf Augenhöhe. Nur – noch sind wir nicht so weit. Dafür braucht es so kluge und gut gemachte Buchprojekte wie Schwesternschaft.
Ulrike Steinke, 1975 in Neu Kaliß / Mecklenburg geboren, ist Illustratorin und Comic-Künstlerin. Daneben hat sie Lehraufträge an der Kunsthochschule Halle sowie an den Akademien der bildenden Künste in München und Stuttgart.
Katharina Martl: Ingeborg Arvola: Vestersand (Übersetzungsprojekt)
Katharina Martl wird ausgezeichnet für die Übersetzung des 2024 veröffentlichten Romans Vestersand der norwegischen Autorin Ingeborg Arvola, der 2026 auf Deutsch erscheinen soll. Als zweiter Band der Eismeer-Trilogie (nach Der Aufbruch) porträtiert Vestersand den vielgestaltigen soziokulturellen Raum an der norwegischen Eismeerküste im 19. Jahrhundert. Thematisch verschränken sich kontrastierende Glaubenswelten, Auswanderung, die raue Lebenswirklichkeit von Walfängern und Fischern sowie die staatliche Repression der samischen und kvenischen Minderheiten zu einem dichten, atmosphärischen Gesellschaftsporträt. Diese Vielschichtigkeit zeigt sich auch in der Komposition des Romans, der von der Übersetzerin nicht nur tiefgreifende historische, kulturelle und milieuspezifische Kenntnisse, sondern auch ein feines Gespür für stilistische Nuancen verlangt.
Katharina Martl bewältigt all diese Herausforderungen mit beeindruckender Souveränität. Sie verleiht dem Werk in ihrer Übersetzung einen sehr schönen Ton und findet wunderbar poetische Lösungen.
Katharina Martl, geboren 1987, studierte Nordische Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie an der LMU München und schloss dort 2022 den Masterstudiengang „Literarisches Übersetzen“ ab. Sie übersetzt aus dem Dänischen, Englischen, Norwegischen und Schwedischen.
Christiane Burkhardt: Tiemen Hiemstra: W. (Übersetzungsprojekt)
Christiane Burckhardt wird ausgezeichnet für die Übersetzung des Romans W. von Tiemen Hiemstra aus dem Niederländischen, der im Kein & Aber Verlag erscheinen soll. Der Roman behandelt eine Dreierfreundschaft zwischen zwei Männern und einer Frau. Als einer der Männer plötzlich verschwindet, ist die Sorge groß, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Doch es stellt sich heraus, dass er die anderen beiden ghostet. Der Roman setzt ein, als er Jahre später völlig unerwartet wieder auftaucht. Es geht also um Themen wie persönliche Wahrnehmung im Verhältnis zur Realität, Widersprüchlichkeit und Wahrheit. Der Autor begibt sich damit auf ein ambivalentes Feld voller Irritations- und Störmomente.
Die überzeugende Übersetzung von Christiane Burkhardt löst das gekonnt durch einen Ton, der dem Inhalt genau entspricht und die richtige Atmosphäre schafft. Auch die Arbeit mit verschiedenen vom Autor eingestreuten Textsorten und sprachlichen Doppeldeutigkeiten ist sehr gelungen und kenntnisreich umgesetzt für einen treffenden und gleichzeitig flüssigen Text im Deutschen.
Christiane Burkhardt, geboren 1966 in Stuttgart, hat Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte studiert und arbeitet seit 2000 als Übersetzerin aus dem Niederländischen, Italienischen und Englischen, moderiert Übersetzungen und unterrichtet literarisches Übersetzen.
Alexandra Gutzke: Rosalinde Rocket – Wo geht’s denn hier ins Weltall? (Kinderbuchprojekt)
Rosalinde will schon ihr Leben lang Astronautin werden. Also schon sehr lange, denn sie ist neun. Als sie erfährt, dass von einem Weltraumbahnhof an der Nordsee die erste deutsche Rakete ins Weltall starten wird, bricht sie dorthin auf, zusammen mit dem Nachbarsjungen Timor und ihrem Leihdackel Herrn Biber. Die drei kommen zwar nur bis zur Sternwarte ihrer Stadt, können aber von dort aus eine Kollision der Nordseerakete heldenhaft verhindern. In ihrem Kinderroman-Debüt erzählt Alexandra Gutzke, was Kinder sich wünschen: eine turbulente, ein bisschen verrückte Geschichte über ein selbstbewusstes Mädchen, das seine Sehnsucht in Realität verwandelt. Die Textprobe ist stilsicher und mit großer Leichtigkeit geschrieben, voller Wortwitz und Situationskomik. Zusätzlich gibt es eine zweite, hintergründige Ebene, die von der Schwere des Lebens handelt. So ist der Hund Herr Biber sehr krank, und Rosi hofft, dass im Weltall ein Medikament für ihn erfunden werden kann. Und Rosis Papa ist vor zwei Monaten ausgezogen. Die Eltern haben die Trennung gut organisiert, zum Beispiel gibt es Mamawochen und Papawochen. Doch Rosis Trennungsschmerz ist viel größer, als sie selbst und ihre Eltern es wahrhaben wollen.
Davon erzählt die Autorin mit großer Sensibilität und sprachlicher Subtilität. Der Text bietet also zugleich Lesevergnügen und eine unaufdringliche Trennungsgeschichte, in der sich betroffene Kinder wiederfinden können. Mit sicherem Gespür für die Proportionen von Leichtem und Schwerem verspricht uns die Autorin ein glückliches Ende ohne Zauberei und im Rahmen des realistisch Möglichen.
Alexandra Gutzke, 1984 im Ruhrgebiet geboren, hat in Bielefeld Germanistik studiert und arbeitet als Jugendschutzbeauftragte, Journalistin und freie Autorin.
Gregor Locher: Hier unten leuchte ich (Jugendbuchprojekt)
Anton, 16 Jahre, ist auf der Suche. In der schwäbischen Provinz sucht er um die Jahrtausendwende seinen Platz in der Welt und stellt sich den großen Sinnfragen. Ein Kuss mit dem schönen Cosimo von Leuchtenfels hat sein Leben verändert. Ist das Liebe, was er für ihn empfindet? Und wenn ja, hat diese Liebe eine Zukunft? Im kleinen Ort Leuchtingen wird Tradition und Brauchtum noch groß geschrieben. Während der adelige Cosimo fest in die Dorfgemeinschaft integriert ist, verbringt Anton sein Leben in einer Außenseiterposition zwischen Dorfdisco und Filmabenden mit seiner alleinerziehenden Mutter Sabine. Schwierig wird es, als Wille, die beste Freundin von Anton, und Cosimo ein Paar werden. Jetzt muss Anton sich entscheiden, ob er um seine Liebe kämpft oder aus Loyalität zu Wille seine Verliebtheit verdrängt. Der Coming-of-Age-Roman nimmt das Gefühlschaos junger Menschen ernst. Anton möchte raus: aus der Zuschreibung von sexueller Normierung, aus der Enge der Dorfgemeinschaft und weg von den Erwartungen der anderen. Ein Austauschjahr in den USA soll für Abstand sorgen. In Colorado lernt er dabei vor allem eins: Vor seinen eigenen Gefühlen kann man nicht davonlaufen.
Für all das findet Gregor Locher eine eigene Sprache, die eben nicht Jugendsprache ist, sondern die Gefühle auslotet und festhält. Sensibel und mit Humor nähert er sich seinen Charakteren an. Sein Debüt gibt uns Einblick in die Zeit des Lebens, in der alles möglich scheint und höchstes Glück und tiefste Verzweiflung so nah beieinander liegen wie die zwei Seiten einer Medaille.
Gregor Locher, geboren 1984, studierte Komparatistik, Amerikanistik und Geschichte an der LMU München. Nach einigen Jahren in London, Paris und Dublin lebt und schreibt er seit 2022 wieder in München.
Jonas Hirner: Nachts auf der Landstraße (Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis)
Jonas Hirner hat für sein Drama einen ungewöhnlichen Ort gewählt: einen Autobahnrastplatz, einen Durchgangsort ohne Aufenthaltsqualität. An diesen spült es skurrile Figuren, die zu dem haltlosen Irgendwo passen. Es sind Charaktere, denen im realen Leben in der Regel nur eine kurze Aufmerksamkeit geschenkt wird, denen selten eine Bühne bereitet wird – aber eben doch bei dem Autor Jonas Hirner. Mit Nachts auf der Landstraße richtet er einen Scheinwerfer auf das im Theater nicht gerade überrepräsentierte einkommensschwache Milieu. Dort findet er neben der Kassiererin und dem Lkw-Fahrer einen Rezeptionisten, eine Eis-Frau und eine Vertreterin und macht aus ihnen auf Hochglanz polierte Kunstfiguren, die letztlich für gesamtgesellschaftliche Phänomene wie Vereinsamung, Kommunikationsschwierigkeiten und die Sehnsucht nach einem besseren Leben stehen. Jonas Hirner hat die Jury wie kein anderer in seiner Altersgruppe überzeugt.
Der 25-Jährige verdichtet und verknappt seine Dialoge und schafft dabei das Kunststück, den Figuren sehr präzise Tiefe zu verleihen. Diese sind dabei in ihren Ticks gefangen, Sprache ist Austausch von Wörtern, keine Kommunikation. Diese Ich-Gefangenheit vollzieht Hirner auch in den Kreisbewegungen der Repliken nach. Der Text behält dabei Humor und Tempo bei. Setting, Szenenaufbau, Dosierung und Platzierung der Worte – das alles zeugt von großer Sicherheit und Qualität.
Jonas Hirner, 2000 in Mutlangen geboren, hat in Stuttgart ein Bachelor-Studium der Germanistik- und Philosophie absolviert und ist derzeit im Masterstudium „Theaterforschung und kulturelle Praxis“ an der LMU. Neben Hospitanzen und Regieassistenzen schreibt er selbst Theaterstücke: Käfertage wurde im November 2022 im Dreigroschentheater Stuttgart uraufgeführt.
Der Jury
Unter dem Vorsitz des Kulturreferenten Marek Wiechers gehörten der Jury an: Oliver Brauer (Agentur Brauer & Kern), Eva-Maria Kaufmann (Lektorin, dtv), Dr. Dagmar Leupold (Autorin, Übersetzerin), Annegret Liepold (Autorin, Stipendiatin 2023), Dr. Angelika Otto (Journalistin, Münchner Feuilleton), Yvonne Poppek (Journalistin, Süddeutsche Zeitung) für die Kinder- und Jugendbuchprojekte: Frank Griesheimer (Lektor Kinder- und Jugendbuch), Gerlinde Moorkamp (Agentur Silke Weniger), Mirjam Raymond (Autorin, Stipendiatin 2023), Cornelia von Seidlein (Illustratorin) für die Übersetzungsprojekte: Marion Hertle (Verlagsbuchhandlung Liebeskind, Lektorin, Übersetzerin), Wanda Jakob (Lektorin, Übersetzerin), Dr. Maximilian Murmann (Übersetzer, Stipendiat 2021) Kommissionsmitglieder des Stadtrats: Mona Fuchs (Die Grünen – Rosa Liste – Volt), Thomas Niederbühl (Die Grünen – Rosa Liste – Volt), Andreas Babor (CSU mit FREIE WÄHLER), Winfried Kaum (CSU mit FREIE WÄHLER), Kathrin Abele (SPD)