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Alle Bilder (c) Alexander Milstein

Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Bücher mit Prosa veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pjatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein. Der folgende Text ist ein weiteres Kapitel der Geschichte „Konturreisen von Dan Kapitonov aus ebendiesem Buch. Ein erstes Kapitel („Verlängerte Malstunde“) ist bereits im Literaturportal Bayern erschienen.

*

Als Kapitonov auf den Travelator stieg und an Dan Flavins Neonlichterkette vorbeifuhr, empfand er eine gewisse Ruhe. Es war, als befände er sich nicht auf einem Flughafen, sondern in einer sich ausdehnenden Pinakothek, in der die Lampen seines Namensvetters bis vor kurzem in ihrer Dauerhaftigkeit nur mit den schwarzen fliegenden Schablonen von Luigi Colani und den Gemälden der Mitglieder der Brücke vergleichbar gewesen waren.

Es war so lange her, dass Kapitonov letzte Mal geflogen war, dass gerade jetzt die Angst zu überwiegen schien und er das Ticket in den Müll werfen und nach Hause zurückkehren wollte. Die Angst wurde von seinen Eltern an Dan weitergegeben, die sie in jenem Sommer drei Katastrophen, die sich nacheinander ereigneten, nicht mehr aus dem Kopf bekamen. Alle drei Unglücksmaschinen waren Antonovs An-10, mit dem Typ waren sie mehrere Jahre lang zum Schwarzen Meer geflogen. Und da war auch noch ein Baby in einer gruseligen Anime-Erinnerung, das als einziges überlebte, weil es seinen Eltern gelungen war, es vor dem Absturz in eine Reisetasche zu stecken. Dans Mutter erinnerte sich Jahre später in Gesprächen an das glückliche Kind. Dan hatte es so oft gehört, dass er sich manchmal selbst wie dieses Kind fühlte.

Es gibt also Überlebende von Flugzeugabstürzen, hatte Dan kürzlich gelesen, allerdings nicht in einer Zeitung, sondern in einem Buch, aber es war ein Sachbuch, geschrieben von einer FAZ-Kolumnistin, deren Nachnamen er vergessen hatte, sie schrieb die wahre Geschichte einer Frau auf, die einen Sturz aus elf Kilometern Höhe überlebt hatte. Bis zum Zusammenbruch der gesamten UdSSR schwieg die Frau, der KGB verbot ihr unter Androhung der Todesstrafe, darüber zu sprechen.

D. h. nicht alle Katastrophen kamen in die Presse, aber Dans Eltern hatten genug von denjenigen, die es taten, und nachdem sogar drei Ans hintereinander ... Die Kapitonovs erlebten jedenfalls eine echte Angst und fuhren mit dem Zug nach Sotschi, wobei sie sich wiederholten: „Wenn du leiser gehst, kommst du weiter ...“

Als Dan das nächste Mal, wie er schon älter war, auf seine Geschäftsreise flog, hatte er genauso viel Angst wie gerade eben. Dann musste er immer wieder auf Dienstreisen fliegen, und allmählich verschwand die Angst fast. Aber das war alles in einem anderen Jahrhundert, und jetzt, als Dan nach einer langen Pause plötzlich einem für ihn unverständlichen Drang nachgab, ins Nirgendwo zu fliegen ... Vielleicht, um die Flugangst zu überwinden? Wozu? Und warum? Er war am dritten Tag von der letzten Insel geflohen, und obwohl auch das vor der Flut war ... was hat sich seither verändert? Alles zum Schlechteren: Das giftige blaue Wasser von den Reklametafeln schwappte über alle Bildschirme, der Sand bröckelte, die Luft war überhitzt, hier und da wuchsen Sandkästen und Palmen in der Stadt, die wie Plastik aussahen, sich aber anfühlten, als wären sie echt, daneben Liegestühle, Hängematten, in denen man wie in der Mitte einer Sanduhr mit einem Mojito in der Hand aufwachen konnte, warum sollte man woandershin fliegen?

Dabei verbrachte Kapitonov gar nicht so wenig Zeit am Flughafen, und das ist kein Widerspruch, nur wurde der Flughafen für Kapitonov irgendwann zu einem Ort des Rendezvous nicht mit einer Zukunft, die so strahlend war wie die Lagunen auf den Plakatwänden, sondern mit seiner zunehmend lückenhaften Vergangenheit. Etwa alle drei Jahre flog ein Geist aus seinem früheren Leben „durch München“. Na ja, nur ein Transit, eine Zwischenlandung auf dem Strauß-Flughafen. Für Dan ein ziemlich passender Ort – mit dem Namen eines Vogels, der nicht fliegt, sondern den Kopf in den Sand steckt, nicht wahr? Wenn Dan jemanden wiedersehen wollte, an den er sich erinnern konnte, fuhr er zum Flughafen und verbrachte dort einige Zeit mit einem ehemaligen Klassenkameraden, mit einem entfernten Verwandten, mit einer „ehemaligen Bekannten“. Als Dan diese Worte über jemandem sagte, lachte eine andere Bekannte: „Danetschka, Liebling, denk daran: Es gibt keine ‚ehemaligen‘ Bekannten!“ Damals lag ein Tag zwischen den Flügen, und als sie Dan anrief, versuchte er sie zu überreden, in die Innenstadt zu fahren, in der sie noch nie gewesen war, schließlich war er jetzt ein professioneller Reiseleiter und würde mit ihr eine persönliche Live-Tour machen. Aber sie sagte, sie wolle nirgendwo hingehen, nur sitzen und plaudern, es sei so lange her, dass sie sich gesehen hätten. Dan hatte sich im Laufe des Tages so an den Flughafen gewöhnt, dass er sich dort, wenn schon nicht wie zu Hause fühlte, dann wie in Spielbergs Terminal. Er hatte aufgehört, den Ort als unheimlich zu empfinden, aber jetzt, da er am Flughafen ankam, um ihn für den vorgesehenen Zweck zu nutzen, war er, wie wir schon bemerkt haben, sehr besorgt.

Bis das Gefühl der Totalität der Installation ihn zu einer Art musealer Ruhe führte. Dan Flavins Röhren beleuchteten immer noch seinen Weg, jetzt glühten sie in lilafarbenem Licht. Dan dachte darüber nach, womit sie gefüllt waren, inerte Gase ... wie das Methan in seinen Eingeweiden ... aber vielleicht mit einem niedrigeren Druck, dachte er ... und die grünen Röhren trugen sogar Quecksilber in sich, Quecksilberdampf ... Er hatte es gegoogelt und erinnerte sich daran, wie die Jungs in seinem Hof die alten Neonleuchten an die Wand geworfen hatten, jemand hatte welche auf den Müll geworfen. Die Neonleuchten furzten, wenn sie zerbrachen. „Du bist selbst ein alter Furz“, dachte Dan, „alter Knacker ... sie haben aufgeschrien!“ ... „Wen sehe ich da!“, sagte Dan, holte einen Flachmann hervor, der so silbern war wie der Doppeldecker in der Hand seines Gegenübers, und salutierte damit. – „Hoheit, wollen wir mit Eurem Doppeldecker und Dan Flavins Neonröhren eine Partie Wikingerschach spielen?“

Er hatte manchmal Gäste hier empfangen … aber dafür hätte er den Flughafen eigentlich als sein Zuhause betrachten müssen, und das war nicht ganz der Fall, er war hier noch nicht zum Hausgeist geworden wie der bronzene Ludwig. Sein Klassenkamerad, der aus Charkiw, noch früher als Kapitonov und weiter weg,– nach Adelaide – gezogen war ... verwechselte Ludwig mit dem zweiten Mimen des Tages ... der Art von lebender Statue, die man in Fußgängerzonen sieht, vergoldet, versilbert, von Kopf bis Fuß weiß bemalt. Irgendein Witzbold hatte Ludwig an diesem Tag eine Schwimmbrille aufgesetzt. Ein Klassenkamerad erzählte, dass er am Morgen, als er sich von Paris verabschiedete, in der Nähe des Hotels einen völlig versilberten Charlie Chaplin sah, der einen silbernen Sockel hinter sich herzog und brummte. Als er nach München flog und Ludwig II. sah, den er jedoch mit Nietzsche verwechselte ... und als Kapitonov „nein!" sagte, stellte der Klassenkamerad eine zweite Hypothese auf: „Orville Wright?“, und wollte ihm eine Münze hinwerfen, obwohl vor dem Kini weder eine Mütze lag, noch eine Schale stand wie vor der silbernen Bulldogge mit genau der gleichen Brille, die am Odeonsplatz vor der Tür des Friseursalons postiert war.

Dan schien als Letzter durch den Check-in zu gehen, im halbleeren Flugzeug saß er am Fenster, schaute auf die Sitze neben sich, dachte, wenn niemand kommt, würde er sich auf die Seite legen und zu schlafen versuchen, nachts hatte es nicht geklappt. Er versuchte, das Hindernis zu beseitigen, die Armlehne anzuheben, er schien sich an etwas zu erinnern, er suchte in den Tiefen nach irgendeinem Knopf ... bis die Fahrgäste mit Tickets für diese Plätze kamen.

Und sie setzen sich dahin, obwohl es viele freie Plätze gab. Sobald sie saßen, fingen sie an zu streiten. Ich glaube, es befinden sich Ohrstöpsel in meiner Tasche, dachte er. Es sei denn, er hatte sie vergessen, das wäre schade, denn der Streit war so nah und laut, als fände er in seinem Kopf statt. Andererseits dämpfte das weiße Rauschen des Motors das Geschrei, und das würde sich mit den Effekt der Ohrstöpsel summieren … im Gepäckfach, ja ... Dan bat darum, in den Gang gelassen zu werden, hob die Klappe, öffnete den Reißverschluss seiner Tasche, kramte darin, fand eine kleine rosa Schachtel. Längst nicht mehr verschlossen. Schon benutzt, ja ... „Na und? Es geht sie nichts an, es sind Designer-Ohrstöpsel ... Ein Geschenk von einem früheren Bekannten, man kann sie nicht wegwerfen, nachdem man sie benutzt hat, ich habe diesen Dackel mit Wasser und Seife gewaschen, es ist überhaupt kein Ohrenschmalz dran, also warum sehen sie mich so an“, dachte Dan, „ah, sie sehen es als eine Demarche, einen Affront ... nun, ich verstopfe meine Ohren, da ich ihre Münder nicht verstopfen kann … sie möchten, dass jemand sie hört, sie brauchen das ... zumindest fühlt es sich jetzt nicht so an, als würden sie sich durch mein Mittelohr anschreien.“

Dan blickte aus dem Bullauge auf die Wolken, ließ die Augenlider sinken und bedeckte dann sein ganzes Gesicht mit den Handflächen, während sein Körper zitterte. „Gesundheit!“, hörte er durch das Silikon und nickte: „Danke!“ Und nieste wieder. Ziemlich laut, aber nicht donnernd wie zu Hause. Wenn er in diesem Moment nicht saß, sondern stand, stampfte er am Ende automatisch mit dem linken Fuß auf. Seine Freundin lachte zuerst, wurde dann aber wütend und sagte, er tue das „für das Publikum“, verlangte von Kapitonov, dass er „wie alle Menschen“ niese.

„Und wo ist das Publikum?”, erwiderte Dan, „und wenn ich den Auspuff verstopfe, explodiere ich.” Schließlich explodierte er tatsächlich, und Nina wurde weggeblasen. Nicht, dass das Niesen die Hauptursache gewesen wäre, aber es hat dazu beigetragen. Als sie nicht mehr da war, während einer anderen saisonalen Erkältung oder Heuschnupfen, schwerlich Covid, denn es war kurz nach der Pandemie, und er machte noch Tests, und die waren negativ ... Also irgendwann nahm Kapitonovs Sternutatio zusätzliche Töne an. „A-a-a...“, wurde kräftiger und ähnelte nun dem Beginn einer Opernarie, „I-i...“, dauerte nicht weniger lange und bekam Obertöne. Dann begann Dan, es von draußen zu hören. Nicht das Echo, nicht gleich danach. In dem Fall hätte Kapitonov erkannt, dass eine Spottdrossel im Haus erschienen war. Aber sein eigenartiges Niesen war zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Wohnungen zu hören, bald auch im Nachbarhaus, auf den Balkonen, dann auf der Straße unter den Fenstern ... „Ach, ich habe sie alle angesteckt“, dachte Kapitonov und blickte durch das Bullauge auf den weißen Wachsboden. „Vielleicht sollte ich versuchen, Musik zu schreiben? Was, wenn ich Ohrwurm-Lieder schreibe? Durch Sternutatio – zu den Sternen! Wenn ich musikalisch wäre, hätte ich es versucht, aber so ... was für ein Ohrwurm könnte da rauskommen ... Aber vielleicht komme ich ja in ein anderes Oberton-Fenster ... Influenza-Hinweis: Marsch ab sofort zu den Influencern!“

Kapitonov erinnerte sich lebhaft daran, wie er auf seiner letzten Insel ein Gericht bestellte, das ihm als Antwort auf die Frage, was die Einheimischen essen, nun ja, was sie eigentlich mögen, als Geheimtipp-Spezialität genannt wurde. Er nahm die schwarze Masse auf den Löffel und näherte ihn seinem Mund ... plötzlich bemerkte er, dass sich die Körnchen im Löffel bewegten und winzige Köpfe sich aufrichteten und ihn ansahen. Kapitonov wurde übel und er rannte weg, aber er schaffte es, etwas am Rande seines Ohres zu hören ... Und jetzt war die Realität um ihn herum so, dass er zwar nicht mehr den sprechenden Köpfen zuhören konnte, die alle anderen Medien der Welt aufgefressen hatten ... aber er konnte ihnen auch nicht mehr aus dem Weg gehen. Sie waren stets bei ihm, sie waren in seinen Kopfhörern, der Tick war bei ihm derselbe wie bei allen anderen, ohne anzuhalten, klickte er wieder, und die Köpfe fingen erneut an zu sprechen, einer oder zwei auf einmal, im Duo oder im Duell die Köpfe wiederholten zum tausendsten Mal die gleichen Synekdochen und Anekdoten …

Kapitonov rümpfte die Nase, aber hörte gehorsam zu und trat in die Pedale, während Bäume, Straßenlaternen, Wolken vorbei flackerten ... Kapitonov wurde plötzlich klar, dass die einzige Möglichkeit, den sprechenden Köpfen zu entkommen, darin bestand, auf die andere Seite des Bildschirms zu gehen. Er blieb stehen, setzte sich auf eine Bank, öffnete seinen eigenen Kanal und begann zu reden, ab und zu unterbrochen von Niesen, bis er durch eine Berührung an seiner Schulter aufwachte. Er öffnete die Augen und sah, dass sein Nachbar nicht neben ihm saß. Er war auf die Toilette gegangen. Die Frau streckte ihm leise ihre Hand entgegen. Und mit der anderen deutete sie auf ihr eigenes Ohr, nahm mit zwei Fingern gleichmäßig das Ohrläppchen. Sie versuchte, ihm etwas zu sagen. „Könnte ich dich irgendwo gesehen haben?“, hörte Dan und nahm seine Ohrstöpsel heraus. „Vielleicht hast du einen Dackel wie diesen gesehen. Siehst du ihn?“ – „Ja“, lächelte sie, „aber so einen habe ich noch nicht gesehen. Und er sieht hübsch aus. Aber ich meinte dich.“ – „Und ich bin also nicht hübsch“, sagte Dan.

„Du bist auch in Ordnung. Hätte ich dich auch im, sagen wir mal, Lucid Fitness Center sehen können?“– „Könntest du“, sagte Dan. „Aber das ist unmöglich.“ – „Wieso das denn? Du widersprichst dir doch selbst.“ – „Nein. Ich war zwar in deinem Fitnesscenter, aber ich glaube nicht, dass du dich an mich erinnern kannst, weil ich dort nur einmal war, und das ist schon lange her. Ich habe dich gefragt, welche Übungen mir helfen würden, meinen Bauch zu verkleinern, und du hast gesagt: ‚Glaub mir, egal, was du tust, wenn du deine Ernährung nicht umstellst, wird sich nichts ändern, egal wie viel du hier schwitzt.‘“ – „Habe ich das gesagt? Vielleicht war ich zu der Zeit sehr aufgeregt ... hatte einen Streit mit meinem Chef, dachte daran, zu gehen, und dann all das ...“ – „Wahrscheinlich sehe ich nur aus wie jemand anderes, das sagen sie oft zu mir, so eine Art Gesicht ...“

„Ihr beide kennt euch also?“ fragte ihr zurückkehrender Kumpel sie. Er sah nicht allzu überrascht aus. Die Frau antwortete jein, und Kapitonov steckte sich derweil die Ohrstöpsel wieder in die Ohren.

Das hüpfende Flugzeug verwandelte sich in einen Roller, jemand klatschte in die Hände, doch niemand unterstützte ihn, es gab keinen Applaus, anscheinend war das seit Dans letztem Flug aus der Mode gekommen. Mit nur einem Stück Handgepäck war er ziemlich schnell vor der Schwelle des Gebäudes, wo er von Taxifahrern empfangen wurde. Einen von ihnen schien er zu erkennen, aber es war definitiv ein Déjà-vu, er war noch nie hier gewesen.

Im Auto sagte Kapitonov, dass er NICHT zu einem Hotel gebracht werden musste, aber zu welcher Adresse – diktierte er, während er auf den Bildschirm des Telefons schaute. Der Taxifahrer konnte das nicht verstehen, so eine scheinbar einfache Sache. „Aber wie wirst du ...“; sagte er, und Dan antwortete wieder: „Ich brauche kein Hotel, weil ich morgen zurückfliege, ich werde die Nacht am Strand verbringen. Du kannst mich, wenn du willst, mittags oder um elf abholen.“