Laudatio auf Jean-Paul-Preisträgerin Christine Wunnicke
Anlässlich des 200. Todestages von Jean Paul, der 1865 in Bayreuth, seinem letzten Wohn- und Wirkungsort, starb, fand am 11. Juli 2025 die feierliche Verleihung des Jean-Paul-Preises 2025 an Christine Wunnicke im Marktgräflichen Opernhaus Bayreuth statt. Das Literaturportal Bayern war vor Ort und berichtete. Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Prof.
Barbara Vinken (LMU München), die wir mit freundlicher Genehmigung hier abdrucken.
*
Sehr verehrte Frau Wunnicke,
geehrter Herr Minister,
Meine lieben Damen und Herren,
Ich muss gestehen, dass ich vor der Jean-Paul-Jury noch nie etwas von Christine Wunnicke gelesen hatte. Deshalb bin ich Kathrin Schumacher für Ihren Vorschlag so dankbar. Danach war es ein Selbstläufer wie ein amour fou: begeistert von Wunnicke, waren wir uns in der Jury alle sehr schnell einig.
Da wir hier in einem so wunderbaren Opernhaus sind, lassen Sie mich mit Wunnickes Sängergeschichten beginnen. Wunnicke entdeckte nämlich als Philologin und Historikerin den Kastraten Filippo Bartoli wieder, dessen schillerndem, durch Europas Königshäuser lichterndem Leben sie eine Biographie – Die Nachtigall des Zaren – widmete. Bartoli gab sein Operndebut unter dem Kurfürsten Maximilian II. Emanuel in der Münchener Oper. Er starb als Zisterziensermönch in Fürstenfeld. Um als Kastrat Mönch werden zu können, brauchte er eine Dispenz des Papstes.
Christine Wunnicke hat so auch die unglaubliche Margherita Costa, Opernstar und Kurtisane, Intima dreier Papstfamilien und Räuberbraut, Feministin und Pornografin, Mutter vieler Töchter unklarer Herkunft und die vielleicht erste Satirikerin der Welt wiederentdeckt. Costas Werke hat sie in einer tollen Übersetzung herausgegeben. Schon der Titel lässt einen dahinschmelzen, „Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht.“ In Wunnickes Portrait einer phantastischen Frau zeigt sich, tongue in cheek, ihre Vorliebe für das Extravagante, ihre Lakonik im Skandalösen, der Witz, den sie mit Jean Paul teilt.
Gelehrt, überraschend, ja verblüffend, extravagant – all das trifft auch auf Ihren Roman Der Fuchs und Dr. Shimaru zu, der zuzeiten des Lehrers von Freud, Charcot, spielt. Konfrontiert wird die von Charcot begründete Hysterie-Forschung mit der japanischen Fuchskrankheit, auch sie eine irgendwie mit Sex assoziierte Malaise, die fast ausschließlich Frauen befällt. Dem von Männern inszenierten Körpertheater der Hysterie in der Pariser Salpêtrière Charcots treten die großen japanischen Virtuosinnen zur Seite. Ihnen gelingt es, den Fuchs, der unter der Haut durch ihren Körper läuft, in selten gewährten, sehr erschöpfenden Audienzen sichtbar zu machen. Durch die ethnographische Maskerade gelingt Wunnicke eine ganz neue, andere Sicht auf die Hysterie. Literatur illustriert hier nicht Wissenschaft, sie begründet eine andere Wissenschaft.
In Wachs, ihrem eben erschienenen neuen Roman erzählt Wunnicke die Geschichte gegen den Strich, in ihrem „Eigensinn“, um Alexander Kluge, einen ihrer Vorgänger unter den Jean-Paul-Preisträgern zu zitieren. Es ist eine Geschichte, die wir alle zu kennen meinen, und meistens umstandslos als eine ein-sinnige Fortschrittsgeschichte lesen. Wachs spielt vor, zur und nach der Französischen Revolution in Paris.
Vor der Revolution: Die Heldin Marie Biheron verkauft Marie Antoinette im Petit Trianon ihre Wachsleichen, die dort aber, findet die Königin, zu rein gar nichts passen, weswegen sie ins Große Trianon gebracht werden und von der Königin zwar auseinandergenommen, aber nicht mehr zusammengesetzt werden können. Marie Biheron wird also ständig ins Trianon gerufen.
Während der Revolution: Das Hurenkind Edmé wird von seiner Großmutter, besagter Marie, die sich zum Sterben gelegt hat, durch das revolutionäre Paris geschickt, als „ihre Augen.“ Edmé soll ihr berichten, was er sieht. Edmé ist nicht eben einer der Hellsten; seine Erzählung „wie Eulengewölle“ (80), unverdaut hervorgekotzt, rügt seine kluge Großmutter. Hören wir Edmé: „Es gab Köpfe und Stangen und Streit, wem diese gehörten und an den Laternen, wie es im Lied hieß, hatten wohl wirklich welche gehangen; die hatte man aber schon abgemacht.“ (78) Oder: „Manchmal ging er zu einer Versammlung, da gab es Wein umsonst, und jemand erklärte Kompliziertes mit Kompliziertem und sagte eine rosige Zukunft voraus.“ (79)
Nach der Revolution zur Zeit des Terreurs und der 1. Republik:
Am 17. Germinal des Jahres 2 saß Marie Biheron in der Sonne und las die Zeitung. Seit sie einen Starstecher gefunden hatte, war sie auf einem Auge blind; doch mit dem zweiten sah sie besser als vorher.
Basire, Chabot, Danton, Deslaunay, Desmoulin, Fabre, Frey, Hérault, Lacroix, Phillipeaux, Sahuguet und Westermann, schrieb das Journal de Paris, hatten gestern ihre Köpfe verloren. (175) (Bitte beachten Sie die penibel beachtete alphabetische Reihenfolge bei so viel Kopfverlust.)
Hier tut Literatur etwas, das nur sie kann: Sie lässt uns das ganz Andere, Unvorstellbare durch entstellenden Witz erfahren. Die von Foucault und vielen anderen beschriebenen Epistemenwechsel und Epochenbrüche werden bei Christine Wunnicke Fleisch und Blut, lebend vor Augen gestellt. Den Inhalt von Wunnickes Werken in gewöhnlichen Worten auszudrücken oder nachzuerzählen, ist deshalb zwar möglich, aber fast nichts-sagend.
Laudatorin Prof. Barbara Vinken
Unterhalb der Geschichte der Revolution erzählt Wunnicke eine andere Geschichte. Danach wird nicht alles rosig, vieles bleibt auf der Strecke. Zum Beispiel: die von Wunnicke eindringlich geschilderte Geburt der Wissenschaft durch Frauen. Marie Biheron ist, ausgerechnet, der beste Anatom von Paris. Überall sucht sie, noch ein Kind, an Leichen zum Aufschneiden heranzukommen. Diese Bühne, das Theater der Anatomie, hatten die Frauen in der Moderne schnellstens zu verlassen. Im 19. Jahrhundert wurden die Frauen zu Objekten, die Männer zu Subjekten der Wissenschaft. Das Leichenaufschneiden verbot etwa der große französische Historiker Jules Michelet den Frauen; tödlich würde es für sie enden. Madeleine Portebasse ist eine phantastische botanische Zeichnerin, besser als Buffon.
Auf der Strecke bleibt in der Moderne nach der Revolution die Leichtigkeit und Schönheit der Liebe vor der Zeit, in der wir uns durch die Sexualität definieren. Fast unvorstellbar, dass es weder den Diskurstyp des Schwulen, noch den der lesbischen Frau gab. So erzählt Wunnicke eigentümlich sublime oder komische Liebesgeschichten. Die im Folgenden geschilderte Begebenheit trifft nichts weniger als ihre Charakterisierung als ‚schwule Strichergeschichte‘. Lauschen Sie Wunnickes Worten. Edmé, der ist uns hier heute schon mal über den Weg gelaufen, Enkel und Pfleger der über alles geliebten Marie, trifft am Chatêlet auf „den Gestreiften“. Dieser sagt zu ihm:
„Mach mir was Schönes, bitte und schließlich: wieviel?“ Edmé lächelte. Der Gestreifte war schmal und blond, jung, ein wenig betrunken; er hatte ein nettes Gesicht und sein „bitte“ hatte Edmé gefallen.
„Man bezahlt mich post festum, Bruder“, erklärte er elegant „je nachdem wie sehr man sich freute“. Er hockte sich auf die Fersen [...] und machte in der Tat etwas Schönes. Er machte solches zueben zum dritten Mal. „Jedem Menschen“, sagte Großmaman, „gibt der Herr ein einziges Talent, nicht zwei oder fünf, nur eines [...].“ Vielleicht hatte der Herr Edmé dieses Talent gegeben. Er tat die delikatesten Dinge. (84)
Meine Lieblingsszene, und damit komme ich zum Schluss, ist die Verführung der Madeleine Basseporte durch Marie Biheron. Sie findet in einer Kathedrale, Notre Dame de Paris, während der Messe statt – das hat ja durchaus Tradition. Es ist eine Stoffgeschichte, und das sind ja sowieso immer die erotischsten. Sie führt zur ersten Liebesnacht von Marie und Madeleine, die in eine lebenslange Ehe der beiden Frauen mündet.
Wir sind am Karmittwoch, traditionell wird in der Fastenzeit das Kreuz und in Notre Dame anscheinend damals der ganze Chor verhüllt. Um am Karmittwoch wieder enthüllt zu werden: das Fastentuch rauscht nieder. Marie will unbedingt, dass Madeleine das sieht. Ganz sicher ist sie, dass es ihr gefallen, ja sie umhauen wird. Marie ist bis in ihr hohes Alter stolz auf diese Szene.
Und starrte stattdessen das Fastentuch an. Es bedrohte sie eine purpurne Wand. [...] Es war ihr, als rückte der Purpur näher und näher [...]. Und es ward eine Finsternis. Bis zur neunten Stunde. Und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. (Die Passionsgeschichte nach Lukas, raffiniert ineinandergewoben mit der liturgischen Enthüllung.)
Da kam das Tuch herunter. Sie hatten an den Obergaden die Seile gelöst. In einer einzigen schweren purpurnen Welle rauschte der Stoff zu Boden und schlug dumpf auf dem Marmor auf.
Zu viel Stoff überall, schwarzer Krepp, weißer Kragen, Hemden, Mieder, ein Unterrock und noch einer, Strümpfe, alles verworren, [...]. Sie schloss die Augen und sah das Fastentuch fallen und es fiel und fiel. (71)
Mit diesem verheißungsvoll fallenden Fastentuch von Wunnickes betörenden Enthüllungen und Verhüllungen möchte ich schließen. Jean Paul hätte seine Freude gehabt.
Denn auf die Texte Christine Wunnickes zu treffen, ist ein großes Glück und ein großes Geschenk. Wir sehen die Welt in ihren Texten – eine Welt, die wir zu kennen glauben – in einem völlig anderen Licht, so wie wir sie uns in unseren kühnsten Träumen nicht hätten vorstellen können. Gott sei Dank werden wir nicht abgeholt und können uns auch mit niemandem identifizieren. Autofiktion ist völlig außer Frage.
Eine Geschichte also, die wir alle kennen und deren Figuren bekannt sind: Buffon, Linné, Diderot, Bernardin de Saint-Pierre, um nur einige der Figuren zu nennen, denen jeweils Portraits in einem Blickwinkel gewidmet sind, der sie in einem neuen Licht zeigt. Brüllend komisch ist das Portrait Bernardin de Saint-Pierres, den wir als Autor des zivilisationskritischen, melodramatischen Romans Paul et Virginie kennen. Nach ihm wird der Affe getauft, den Bihéron aus dem Jardin des Plantes in der Annahme geklaut hat, er, schon halb tot, stürbe demnächst und dann hätte sie wieder eine Leiche zum Sezieren, denn schließlich hat sie an Leichen einen Affen gefressen. Die Autorin mag Bernardin nicht; Diderot mag sie schon, sehr guter Geschmack. Aber besagter Bernardin ist nach seinem tränentreibenden Roman Welterfolg.
Laudatio auf Jean-Paul-Preisträgerin Christine Wunnicke>
Anlässlich des 200. Todestages von Jean Paul, der 1865 in Bayreuth, seinem letzten Wohn- und Wirkungsort, starb, fand am 11. Juli 2025 die feierliche Verleihung des Jean-Paul-Preises 2025 an Christine Wunnicke im Marktgräflichen Opernhaus Bayreuth statt. Das Literaturportal Bayern war vor Ort und berichtete. Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Prof.
Barbara Vinken (LMU München), die wir mit freundlicher Genehmigung hier abdrucken.
*
Sehr verehrte Frau Wunnicke,
geehrter Herr Minister,
Meine lieben Damen und Herren,
Ich muss gestehen, dass ich vor der Jean-Paul-Jury noch nie etwas von Christine Wunnicke gelesen hatte. Deshalb bin ich Kathrin Schumacher für Ihren Vorschlag so dankbar. Danach war es ein Selbstläufer wie ein amour fou: begeistert von Wunnicke, waren wir uns in der Jury alle sehr schnell einig.
Da wir hier in einem so wunderbaren Opernhaus sind, lassen Sie mich mit Wunnickes Sängergeschichten beginnen. Wunnicke entdeckte nämlich als Philologin und Historikerin den Kastraten Filippo Bartoli wieder, dessen schillerndem, durch Europas Königshäuser lichterndem Leben sie eine Biographie – Die Nachtigall des Zaren – widmete. Bartoli gab sein Operndebut unter dem Kurfürsten Maximilian II. Emanuel in der Münchener Oper. Er starb als Zisterziensermönch in Fürstenfeld. Um als Kastrat Mönch werden zu können, brauchte er eine Dispenz des Papstes.
Christine Wunnicke hat so auch die unglaubliche Margherita Costa, Opernstar und Kurtisane, Intima dreier Papstfamilien und Räuberbraut, Feministin und Pornografin, Mutter vieler Töchter unklarer Herkunft und die vielleicht erste Satirikerin der Welt wiederentdeckt. Costas Werke hat sie in einer tollen Übersetzung herausgegeben. Schon der Titel lässt einen dahinschmelzen, „Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht.“ In Wunnickes Portrait einer phantastischen Frau zeigt sich, tongue in cheek, ihre Vorliebe für das Extravagante, ihre Lakonik im Skandalösen, der Witz, den sie mit Jean Paul teilt.
Gelehrt, überraschend, ja verblüffend, extravagant – all das trifft auch auf Ihren Roman Der Fuchs und Dr. Shimaru zu, der zuzeiten des Lehrers von Freud, Charcot, spielt. Konfrontiert wird die von Charcot begründete Hysterie-Forschung mit der japanischen Fuchskrankheit, auch sie eine irgendwie mit Sex assoziierte Malaise, die fast ausschließlich Frauen befällt. Dem von Männern inszenierten Körpertheater der Hysterie in der Pariser Salpêtrière Charcots treten die großen japanischen Virtuosinnen zur Seite. Ihnen gelingt es, den Fuchs, der unter der Haut durch ihren Körper läuft, in selten gewährten, sehr erschöpfenden Audienzen sichtbar zu machen. Durch die ethnographische Maskerade gelingt Wunnicke eine ganz neue, andere Sicht auf die Hysterie. Literatur illustriert hier nicht Wissenschaft, sie begründet eine andere Wissenschaft.
In Wachs, ihrem eben erschienenen neuen Roman erzählt Wunnicke die Geschichte gegen den Strich, in ihrem „Eigensinn“, um Alexander Kluge, einen ihrer Vorgänger unter den Jean-Paul-Preisträgern zu zitieren. Es ist eine Geschichte, die wir alle zu kennen meinen, und meistens umstandslos als eine ein-sinnige Fortschrittsgeschichte lesen. Wachs spielt vor, zur und nach der Französischen Revolution in Paris.
Vor der Revolution: Die Heldin Marie Biheron verkauft Marie Antoinette im Petit Trianon ihre Wachsleichen, die dort aber, findet die Königin, zu rein gar nichts passen, weswegen sie ins Große Trianon gebracht werden und von der Königin zwar auseinandergenommen, aber nicht mehr zusammengesetzt werden können. Marie Biheron wird also ständig ins Trianon gerufen.
Während der Revolution: Das Hurenkind Edmé wird von seiner Großmutter, besagter Marie, die sich zum Sterben gelegt hat, durch das revolutionäre Paris geschickt, als „ihre Augen.“ Edmé soll ihr berichten, was er sieht. Edmé ist nicht eben einer der Hellsten; seine Erzählung „wie Eulengewölle“ (80), unverdaut hervorgekotzt, rügt seine kluge Großmutter. Hören wir Edmé: „Es gab Köpfe und Stangen und Streit, wem diese gehörten und an den Laternen, wie es im Lied hieß, hatten wohl wirklich welche gehangen; die hatte man aber schon abgemacht.“ (78) Oder: „Manchmal ging er zu einer Versammlung, da gab es Wein umsonst, und jemand erklärte Kompliziertes mit Kompliziertem und sagte eine rosige Zukunft voraus.“ (79)
Nach der Revolution zur Zeit des Terreurs und der 1. Republik:
Am 17. Germinal des Jahres 2 saß Marie Biheron in der Sonne und las die Zeitung. Seit sie einen Starstecher gefunden hatte, war sie auf einem Auge blind; doch mit dem zweiten sah sie besser als vorher.
Basire, Chabot, Danton, Deslaunay, Desmoulin, Fabre, Frey, Hérault, Lacroix, Phillipeaux, Sahuguet und Westermann, schrieb das Journal de Paris, hatten gestern ihre Köpfe verloren. (175) (Bitte beachten Sie die penibel beachtete alphabetische Reihenfolge bei so viel Kopfverlust.)
Hier tut Literatur etwas, das nur sie kann: Sie lässt uns das ganz Andere, Unvorstellbare durch entstellenden Witz erfahren. Die von Foucault und vielen anderen beschriebenen Epistemenwechsel und Epochenbrüche werden bei Christine Wunnicke Fleisch und Blut, lebend vor Augen gestellt. Den Inhalt von Wunnickes Werken in gewöhnlichen Worten auszudrücken oder nachzuerzählen, ist deshalb zwar möglich, aber fast nichts-sagend.
Laudatorin Prof. Barbara Vinken
Unterhalb der Geschichte der Revolution erzählt Wunnicke eine andere Geschichte. Danach wird nicht alles rosig, vieles bleibt auf der Strecke. Zum Beispiel: die von Wunnicke eindringlich geschilderte Geburt der Wissenschaft durch Frauen. Marie Biheron ist, ausgerechnet, der beste Anatom von Paris. Überall sucht sie, noch ein Kind, an Leichen zum Aufschneiden heranzukommen. Diese Bühne, das Theater der Anatomie, hatten die Frauen in der Moderne schnellstens zu verlassen. Im 19. Jahrhundert wurden die Frauen zu Objekten, die Männer zu Subjekten der Wissenschaft. Das Leichenaufschneiden verbot etwa der große französische Historiker Jules Michelet den Frauen; tödlich würde es für sie enden. Madeleine Portebasse ist eine phantastische botanische Zeichnerin, besser als Buffon.
Auf der Strecke bleibt in der Moderne nach der Revolution die Leichtigkeit und Schönheit der Liebe vor der Zeit, in der wir uns durch die Sexualität definieren. Fast unvorstellbar, dass es weder den Diskurstyp des Schwulen, noch den der lesbischen Frau gab. So erzählt Wunnicke eigentümlich sublime oder komische Liebesgeschichten. Die im Folgenden geschilderte Begebenheit trifft nichts weniger als ihre Charakterisierung als ‚schwule Strichergeschichte‘. Lauschen Sie Wunnickes Worten. Edmé, der ist uns hier heute schon mal über den Weg gelaufen, Enkel und Pfleger der über alles geliebten Marie, trifft am Chatêlet auf „den Gestreiften“. Dieser sagt zu ihm:
„Mach mir was Schönes, bitte und schließlich: wieviel?“ Edmé lächelte. Der Gestreifte war schmal und blond, jung, ein wenig betrunken; er hatte ein nettes Gesicht und sein „bitte“ hatte Edmé gefallen.
„Man bezahlt mich post festum, Bruder“, erklärte er elegant „je nachdem wie sehr man sich freute“. Er hockte sich auf die Fersen [...] und machte in der Tat etwas Schönes. Er machte solches zueben zum dritten Mal. „Jedem Menschen“, sagte Großmaman, „gibt der Herr ein einziges Talent, nicht zwei oder fünf, nur eines [...].“ Vielleicht hatte der Herr Edmé dieses Talent gegeben. Er tat die delikatesten Dinge. (84)
Meine Lieblingsszene, und damit komme ich zum Schluss, ist die Verführung der Madeleine Basseporte durch Marie Biheron. Sie findet in einer Kathedrale, Notre Dame de Paris, während der Messe statt – das hat ja durchaus Tradition. Es ist eine Stoffgeschichte, und das sind ja sowieso immer die erotischsten. Sie führt zur ersten Liebesnacht von Marie und Madeleine, die in eine lebenslange Ehe der beiden Frauen mündet.
Wir sind am Karmittwoch, traditionell wird in der Fastenzeit das Kreuz und in Notre Dame anscheinend damals der ganze Chor verhüllt. Um am Karmittwoch wieder enthüllt zu werden: das Fastentuch rauscht nieder. Marie will unbedingt, dass Madeleine das sieht. Ganz sicher ist sie, dass es ihr gefallen, ja sie umhauen wird. Marie ist bis in ihr hohes Alter stolz auf diese Szene.
Und starrte stattdessen das Fastentuch an. Es bedrohte sie eine purpurne Wand. [...] Es war ihr, als rückte der Purpur näher und näher [...]. Und es ward eine Finsternis. Bis zur neunten Stunde. Und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. (Die Passionsgeschichte nach Lukas, raffiniert ineinandergewoben mit der liturgischen Enthüllung.)
Da kam das Tuch herunter. Sie hatten an den Obergaden die Seile gelöst. In einer einzigen schweren purpurnen Welle rauschte der Stoff zu Boden und schlug dumpf auf dem Marmor auf.
Zu viel Stoff überall, schwarzer Krepp, weißer Kragen, Hemden, Mieder, ein Unterrock und noch einer, Strümpfe, alles verworren, [...]. Sie schloss die Augen und sah das Fastentuch fallen und es fiel und fiel. (71)
Mit diesem verheißungsvoll fallenden Fastentuch von Wunnickes betörenden Enthüllungen und Verhüllungen möchte ich schließen. Jean Paul hätte seine Freude gehabt.
Denn auf die Texte Christine Wunnickes zu treffen, ist ein großes Glück und ein großes Geschenk. Wir sehen die Welt in ihren Texten – eine Welt, die wir zu kennen glauben – in einem völlig anderen Licht, so wie wir sie uns in unseren kühnsten Träumen nicht hätten vorstellen können. Gott sei Dank werden wir nicht abgeholt und können uns auch mit niemandem identifizieren. Autofiktion ist völlig außer Frage.
Eine Geschichte also, die wir alle kennen und deren Figuren bekannt sind: Buffon, Linné, Diderot, Bernardin de Saint-Pierre, um nur einige der Figuren zu nennen, denen jeweils Portraits in einem Blickwinkel gewidmet sind, der sie in einem neuen Licht zeigt. Brüllend komisch ist das Portrait Bernardin de Saint-Pierres, den wir als Autor des zivilisationskritischen, melodramatischen Romans Paul et Virginie kennen. Nach ihm wird der Affe getauft, den Bihéron aus dem Jardin des Plantes in der Annahme geklaut hat, er, schon halb tot, stürbe demnächst und dann hätte sie wieder eine Leiche zum Sezieren, denn schließlich hat sie an Leichen einen Affen gefressen. Die Autorin mag Bernardin nicht; Diderot mag sie schon, sehr guter Geschmack. Aber besagter Bernardin ist nach seinem tränentreibenden Roman Welterfolg.