„Von Drosselweg bis Großfriedrichsburg: Wie Straßennamen unsere Geschichten erzählen“ – Literarische Erkundungen (20)
Manche wohnen in der Drosselstraße, andere in der Hortensienstraße – und wieder andere müssen „Großfriedrichsburger Straße“ auf jeden Brief schreiben. Von der Wendl-Dietrich bis zur Ilimskaja: Straßennamen erzählen mehr, als man denkt. Sie spiegeln Macht, Erinnerung, politische Umbrüche und kulturelle Trends. Warum Straßen nach Kolonien benannt wurden, wieso die Gassen in München verschwanden, weshalb so wenige Straßen Frauennamen tragen und wieso manche Menschen anscheinend ihrem Nachnamen nachziehen – dieser persönliche Streifzug zeigt, wie tief die Geschichten unter unseren Adressen liegen.
Eine Reise durch Adressen, Erinnerungen und Bedeutungen – von Sibirien bis zur Sesame Street, die es von der Fiktion in die Realität geschafft hat.
*
Ein poetischer Streifzug durch Macht, Erinnerung und verborgene Bedeutungen im Stadtbild
Schlossberg, Wendl-Dietrich-Straße, Niebuhrstraße, Mälzerstraße: In den vergangenen fünf Jahren habe ich oft die Adresse gewechselt, aber noch nie habe ich in einer Straße gewohnt mit so einem langen Namen wie Großfriedrichsburger Straße. Wenn ich jetzt die Absenderadresse auf einen Briefumschlag schreibe, schimpfe ich innerlich ein bisschen. Besonders enttäuschend klingt dieser Name, der an die koloniale Vergangenheit Deutschlands erinnert, im Vergleich zu den melodiösen Namen der Nachbarstraßen – Rotkehlchenstraße, Phantasiestraße, Drosselweg.
Vor 2019 wohnte ich in Minsk in der Ilimskaja Straße, was überhaupt nichts mit Belarus, seinen Berühmtheiten oder Pflanzen zu tun hatte, denn Ilim ist der Name eines Flusses in Sibirien. Die Entwicklung des Bezirks begann in den späten 1970er-Jahren, und ursprünglich wollte man den Namen des Dorfes Sсiklieva beibehalten, auf dessen Gelände der Bezirk entstand. Doch dann zog man Namen aus Sibirien vor, das sich damals aktiv entwickelte. Diese Entscheidung entsprach ganz dem ideologischen Muster der Sowjetunion, die systematisch versuchte, bestehende lokale Ortsnamen – insbesondere solche mit ethnisch oder historisch nicht-russischen Wurzeln – zu tilgen. Damit wollte man die verschiedenen Kulturen und Sprachen in der Sowjetunion zurückdrängen und eine einheitliche, russisch geprägte Identität schaffen. Die Wahl sibirischer Namen war also Teil dieser Russifizierung.
Wäre ich Mathematikerin, würde ich mit Freuden in Philadelphia oder einer anderen amerikanischen Stadt wohnen, in der die Straßen statt Namen Nummern tragen. Genauer gesagt handelt es sich um Ordnungszahlen wie 20th Street oder 40th Avenue. Diese Form gehört zu den häufigsten Straßennamen in Nordamerika, ist aber auch in anderen Teilen der Welt verbreitet, insbesondere in Kolumbien und im Nahen Osten. In Japan haben Straßen gar keine Bezeichnungen: Es gibt nummerierte Blöcke und Häuser in Blöcken – und Durchgänge zwischen Blöcken (im europäischen Sinne Straßen) bleiben auf dem Stadtplan einfach weiße Streifen.
Das Wort Straße stammt sowohl im Deutschen als auch im Englischen vom lateinischen strāta ab, das bedeutete „gepflasterte, bedeckende“. Die slawische Entsprechung wulica (belarusisch), ulica (polnisch, slowenisch) ist mit dem Wort (w)ulej „Bienenstock“ verwandt, baltisch-slawischen Ursprungs und bedeutet „eingezäunter Durchgang, Hohlraum, leeres Deck“. In Österreich trifft man oft auf Gassen statt Straßen, in Deutschland kommen diese ebenfalls ab und zu vor. Früher gab es auch in München mehr Gassen, 1875 wurde der Ausdruck jedoch getilgt. Der Grund dafür war der Wunsch, das Gesicht der Stadt zu verändern. Im späten 19. Jahrhundert verschwanden daher nicht nur alte Häuser und enge Winkel – auch die Gasse geriet ins Abseits. Der Begriff erinnerte zu sehr an vergangene Zeiten, an enge, dunkle Durchgänge von zweifelhaftem Ruf. Man wollte eine moderne, weltoffene Stadt sein. Und so wurden die Gassen zu Straßen, Wegen, Plätzen – Wörter, die besser zum neuen Münchner Selbstbild passten.
Wer benennt, der erinnert – und verdrängt
Der erste schriftlich festgehaltene Straßenname in der Geschichte findet sich vermutlich im alten Rom: Die „Via Sacra“ (lateinisch für „Heiliger Weg“) war die Hauptstraße Roms, die durch das Forum Romanum führte. Zu den ältesten Straßen Münchens gehören:
• Sendlinger Straße (1318)
• Neuhauser Straße (1293)
• Rindermarkt (1242)[1]
Im Mittelalter wurden Straßen in der Regel nach der Wirtschaftstätigkeit benannt, die in ihnen stattfand, oder nach einem wichtigen Gebäude (Kirche, Rathaus etc.) oder Fluss. Die Tradition, Straßen nach Personen zu benennen, ist relativ neu. Bis zum 18. Jahrhundert war dies eher die Ausnahme. Anfangs waren es Namen von Herrscherdynastien und Höflingen, später von Künstlern und Wissenschaftlern. Meist hatten diese Menschen nichts mit der Straße zu tun, haben dort weder gewohnt noch gearbeitet. Der erste Künstler, dem in München die Ehre zukam, dass eine Straße nach ihm benannt wurde, lebte nicht einmal in der Stadt und hatte auch keinen Bezug zu ihr: Friedrich von Schiller.
Unter dem NS-Regime wurden Straßen mit jüdischen Namen umbenannt. Zudem wurde die koloniale Vergangenheit des deutschen Reiches populär. Nachdem der nationalsozialistisch dominierte Münchner Stadtrat entschieden hatte, die Kolonialgeschichte Deutschlands zu glorifizieren, entstand 1933 im Stadtteil Trudering sogar ein ganzes „Kolonialviertel“. Im Zuge dessen erhielt auch meine heutige Adresse ihren Namen: Die Straße wurde 1939 nach der einstigen kurbrandenburgischen Kolonie an der afrikanischen Goldküste Groß-Friedrichsburg (heute Ghana) benannt.
In der Nachkriegszeit wird der Umbenennungsprozess erneut eingeleitet. In einem Bericht des Stadtrates von 1946 steht: „Im Zuge der Säuberung der Straßennamen von allen Namen nach Personen oder Motiven des 3. Reiches wurden bisher in München 106 Straßen umbenannt.“[2] Diese erhielten die Namen von Blumen, Vögeln, Orten, Bergen und anderen Städten.
Straßennamen und das Schweigen über Frauen
Im Rahmen des Projekts „Mapping Diversity“, bei dem fast 146.000 Straßen in dreißig europäischen Städten untersucht wurden, wurde festgestellt, dass weniger als zehn Prozent der nach Personen benannten Straßen Frauen gewidmet sind.[3] Zum Beispiel in Berlin es ist 12.1 Prozent[4] und in München 11.6 Prozent[5]. In kleineren Städten und ländlichen Gebieten ist der Anteil der nach Frauen benannten Straßen tendenziell noch geringer.
Die Monacensia hat das Glück, an einer der wenigen Straßen Münchens zu liegen, die nach einer Frau benannt ist – Maria Theresia. Mit der Benennung wurde 1880 Prinzessin Maria Theresia geehrt, die letzte Königin Bayerns, Erzherzogin von Österreich-Este, Prinzessin von Modena, verheiratet mit König Ludwig III. von Bayern. Früher hieß die Straße Äußere Maximilianstraße.
Anno 1898 wurde mit der Reitmorstraße die erste Straße in München auch nach einer bürgerlichen Frau benannt: Anna Reitmor, die im 16 Jahrhunderte lebte und die sogenannte Katzmar-Chronik[6] über die Bürgerunruhen der damaligen Zeit rettete.
Afrastraße oder Theklastraße spiegeln die religiöse Geschichte Münchens wider und ehren Frauen, die in der christlichen Tradition eine bedeutende Rolle spielen: Die heilige Afra von Augsburg war eine Märtyrerin des 4. Jahrhunderts, und die heiligen Thekla von Kitzingen war eine Benediktinerin im 8. Jahrhundert.
Foto: Phantasiestraße in München © Volha Hapeyeva
Im Buch Spaziergänge durch das München berühmter Frauen[7] erfahre ich, wie viele talentierte und mutige Frauen einst das Leben in München geprägt haben. In einer einzigen Straße – benannt nach dem Maler Wilhelm von Kaulbach – wohnten:
• Ruth Schaumann, Lyrikerin, die 1932 den Dichterpreis der Stadt München erhielt.
• Carola Neher, Schauspielerin, die aus NS-Deutschland in die Sowjetunion flüchtete, wo sie den Stalinistischen Säuberungswellen zum Opfer fiel.
• Ricarda Huch, die Grand Dame der deutschen Literatur der ersten Jahrhunderthälfte.
• Toni Pfülf, Lehrerin und Politikerin, die sich für gleiche Chancen von Jungen und Mädchen in Schule und Ausbildung einsetzte.
Heute sind alle diese Frauen in Straßennamen von München und oder anderen deutschen Städten präsent. Das wäre ohne die Recherche und engagierte Arbeit anderer Frauen in Archiven nicht möglich. Was heute für uns selbstverständlich ist, war vor 70 Jahre undenkbar.
Wo Literatur die Straßenschilder berührt
Und dann gibt es noch die kuriosen Anekdoten von Straßen und Menschen, die diese bewohnen. Eine meiner Freundinnen heißt mit Nachnamen Blum und wohnt in der Blumenstraße. Ein anderer Bekannter wohnte erst in der Gartenstraße, zog dann in die Blumenstraße und noch später in die Hortensienstraße. Solche Geschichten sind wie aus einem Roman. Manchmal finden auch Figuren oder Orte aus der Literatur ein zweites Leben in der realen Welt:
• 1895 wurde die Londoner Rose Street in Manette Street umbenannt – zu Ehren von Dr. Manette, einer Figur, die in Dickens’ Eine Geschichte aus zwei Städten dort lebt.
• Die Sesamstraße, ein fiktiver Ort in Manhattan und zentraler Schauplatz der gleichnamigen Kindersendung, wurde zum 50-jährigen Bestehen der Serie am 1. Mai 2019 ebenfalls gewürdigt: Die Kreuzung von Broadway und West 63rd Street heißt jetzt offiziell Sesame Street.
• Anlässlich des 100. Geburtstags von Marcel Proust 1971 wurde die Stadt Illiers, die als Vorbild für den Ort Combray im Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit diente, in Illiers-Combray umbenannt – als würde sich die Literatur selbst in die Landkarte einschreiben. Die Erinnerung, die Proust in seinem Werk so zärtlich bewahrte, hatte das reale Illiers längst verwandelt.
Auch wenn ich den Namen der Großfriedrichsburger Straße nicht so spannend finde: Er ist allemal besser, als post restante (postlagernd) auf den Umschlag zu schreiben, weil man keine feste Adresse hat oder sie aus Sicherheitsgründen geheim halten muss.
Foto aus dem Monacensia Archiv: (1924) Telegramm von Käthe Mohr an ihren Mann Max Mohr, Schriftsteller und Arzt, der wegen seiner jüdischen Herkunft nicht mehr in Deutschland praktizieren durfte und 1934 nach Shanghai fliehen musste. © Archiv Monacensia
Die „Literarischen Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat neu (jeden ersten Dienstag) und setzen dabei auf poetische Vermittlung. Volha Hapeyeva, geboren in Minsk, ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Sie wurde 2022 mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 2019 schreibt Volha Hapeyeva auch auf Deutsch und wohnt als Nomadin in Österreich und Deutschland. Verliebt sich leicht in Sprachen. Statt Romane liest sie gerne Wörterbücher. Hält Poesie für Lebensart.
Lesetipp:
Dieser Beitrag fügt sich inhaltlich ideal in das Kulturerbeprojekt #FemaleHeritage der Monacensia ein, das sich mit der Sichtbarkeit von Frauen in Geschichte, Literatur und Stadtraum beschäftigt.
Im MON_Mag, dem Online-Magazin der Monacensia, finden sich vertiefende Artikel zum Thema fehlender weiblicher Straßennamen:
• Elisabeth Castonier – Schriftstellerin, Landarbeiterin, Kosmopolitin – (4.1.2021)
• Wenige Straßen und Plätze in München nach Frauen benannt – (15.12.2020)
[1] Helmuth Stahleder. Haus- und Straßennamen der Münchner Altstadt. Eine Veröffentlichung des Stadtarchivs München, 2009. S. 11.
[2] Ebd., S. 24.
[3] https://mappingdiversity.eu/
[4] https://mappingdiversity.eu/germany/berlin/
[5] https://mappingdiversity.eu/germany/muenchen/
[6] Jörg Kazmair (auch Katzmair), Ratschronist und Bürgermeister, „Geschichte Münchens unter der Vier-Herzog-Regierung 1397-1413“.
[7] Spaziergänge durch das München berühmter Frauen, Verfasst von: Festner, Katharina [weitere]. Zürich [u.a.]: Arche-Verl., 2002, 173 S.
„Von Drosselweg bis Großfriedrichsburg: Wie Straßennamen unsere Geschichten erzählen“ – Literarische Erkundungen (20)>
Manche wohnen in der Drosselstraße, andere in der Hortensienstraße – und wieder andere müssen „Großfriedrichsburger Straße“ auf jeden Brief schreiben. Von der Wendl-Dietrich bis zur Ilimskaja: Straßennamen erzählen mehr, als man denkt. Sie spiegeln Macht, Erinnerung, politische Umbrüche und kulturelle Trends. Warum Straßen nach Kolonien benannt wurden, wieso die Gassen in München verschwanden, weshalb so wenige Straßen Frauennamen tragen und wieso manche Menschen anscheinend ihrem Nachnamen nachziehen – dieser persönliche Streifzug zeigt, wie tief die Geschichten unter unseren Adressen liegen.
Eine Reise durch Adressen, Erinnerungen und Bedeutungen – von Sibirien bis zur Sesame Street, die es von der Fiktion in die Realität geschafft hat.
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Ein poetischer Streifzug durch Macht, Erinnerung und verborgene Bedeutungen im Stadtbild
Schlossberg, Wendl-Dietrich-Straße, Niebuhrstraße, Mälzerstraße: In den vergangenen fünf Jahren habe ich oft die Adresse gewechselt, aber noch nie habe ich in einer Straße gewohnt mit so einem langen Namen wie Großfriedrichsburger Straße. Wenn ich jetzt die Absenderadresse auf einen Briefumschlag schreibe, schimpfe ich innerlich ein bisschen. Besonders enttäuschend klingt dieser Name, der an die koloniale Vergangenheit Deutschlands erinnert, im Vergleich zu den melodiösen Namen der Nachbarstraßen – Rotkehlchenstraße, Phantasiestraße, Drosselweg.
Vor 2019 wohnte ich in Minsk in der Ilimskaja Straße, was überhaupt nichts mit Belarus, seinen Berühmtheiten oder Pflanzen zu tun hatte, denn Ilim ist der Name eines Flusses in Sibirien. Die Entwicklung des Bezirks begann in den späten 1970er-Jahren, und ursprünglich wollte man den Namen des Dorfes Sсiklieva beibehalten, auf dessen Gelände der Bezirk entstand. Doch dann zog man Namen aus Sibirien vor, das sich damals aktiv entwickelte. Diese Entscheidung entsprach ganz dem ideologischen Muster der Sowjetunion, die systematisch versuchte, bestehende lokale Ortsnamen – insbesondere solche mit ethnisch oder historisch nicht-russischen Wurzeln – zu tilgen. Damit wollte man die verschiedenen Kulturen und Sprachen in der Sowjetunion zurückdrängen und eine einheitliche, russisch geprägte Identität schaffen. Die Wahl sibirischer Namen war also Teil dieser Russifizierung.
Wäre ich Mathematikerin, würde ich mit Freuden in Philadelphia oder einer anderen amerikanischen Stadt wohnen, in der die Straßen statt Namen Nummern tragen. Genauer gesagt handelt es sich um Ordnungszahlen wie 20th Street oder 40th Avenue. Diese Form gehört zu den häufigsten Straßennamen in Nordamerika, ist aber auch in anderen Teilen der Welt verbreitet, insbesondere in Kolumbien und im Nahen Osten. In Japan haben Straßen gar keine Bezeichnungen: Es gibt nummerierte Blöcke und Häuser in Blöcken – und Durchgänge zwischen Blöcken (im europäischen Sinne Straßen) bleiben auf dem Stadtplan einfach weiße Streifen.
Das Wort Straße stammt sowohl im Deutschen als auch im Englischen vom lateinischen strāta ab, das bedeutete „gepflasterte, bedeckende“. Die slawische Entsprechung wulica (belarusisch), ulica (polnisch, slowenisch) ist mit dem Wort (w)ulej „Bienenstock“ verwandt, baltisch-slawischen Ursprungs und bedeutet „eingezäunter Durchgang, Hohlraum, leeres Deck“. In Österreich trifft man oft auf Gassen statt Straßen, in Deutschland kommen diese ebenfalls ab und zu vor. Früher gab es auch in München mehr Gassen, 1875 wurde der Ausdruck jedoch getilgt. Der Grund dafür war der Wunsch, das Gesicht der Stadt zu verändern. Im späten 19. Jahrhundert verschwanden daher nicht nur alte Häuser und enge Winkel – auch die Gasse geriet ins Abseits. Der Begriff erinnerte zu sehr an vergangene Zeiten, an enge, dunkle Durchgänge von zweifelhaftem Ruf. Man wollte eine moderne, weltoffene Stadt sein. Und so wurden die Gassen zu Straßen, Wegen, Plätzen – Wörter, die besser zum neuen Münchner Selbstbild passten.
Wer benennt, der erinnert – und verdrängt
Der erste schriftlich festgehaltene Straßenname in der Geschichte findet sich vermutlich im alten Rom: Die „Via Sacra“ (lateinisch für „Heiliger Weg“) war die Hauptstraße Roms, die durch das Forum Romanum führte. Zu den ältesten Straßen Münchens gehören:
• Sendlinger Straße (1318)
• Neuhauser Straße (1293)
• Rindermarkt (1242)[1]
Im Mittelalter wurden Straßen in der Regel nach der Wirtschaftstätigkeit benannt, die in ihnen stattfand, oder nach einem wichtigen Gebäude (Kirche, Rathaus etc.) oder Fluss. Die Tradition, Straßen nach Personen zu benennen, ist relativ neu. Bis zum 18. Jahrhundert war dies eher die Ausnahme. Anfangs waren es Namen von Herrscherdynastien und Höflingen, später von Künstlern und Wissenschaftlern. Meist hatten diese Menschen nichts mit der Straße zu tun, haben dort weder gewohnt noch gearbeitet. Der erste Künstler, dem in München die Ehre zukam, dass eine Straße nach ihm benannt wurde, lebte nicht einmal in der Stadt und hatte auch keinen Bezug zu ihr: Friedrich von Schiller.
Unter dem NS-Regime wurden Straßen mit jüdischen Namen umbenannt. Zudem wurde die koloniale Vergangenheit des deutschen Reiches populär. Nachdem der nationalsozialistisch dominierte Münchner Stadtrat entschieden hatte, die Kolonialgeschichte Deutschlands zu glorifizieren, entstand 1933 im Stadtteil Trudering sogar ein ganzes „Kolonialviertel“. Im Zuge dessen erhielt auch meine heutige Adresse ihren Namen: Die Straße wurde 1939 nach der einstigen kurbrandenburgischen Kolonie an der afrikanischen Goldküste Groß-Friedrichsburg (heute Ghana) benannt.
In der Nachkriegszeit wird der Umbenennungsprozess erneut eingeleitet. In einem Bericht des Stadtrates von 1946 steht: „Im Zuge der Säuberung der Straßennamen von allen Namen nach Personen oder Motiven des 3. Reiches wurden bisher in München 106 Straßen umbenannt.“[2] Diese erhielten die Namen von Blumen, Vögeln, Orten, Bergen und anderen Städten.
Straßennamen und das Schweigen über Frauen
Im Rahmen des Projekts „Mapping Diversity“, bei dem fast 146.000 Straßen in dreißig europäischen Städten untersucht wurden, wurde festgestellt, dass weniger als zehn Prozent der nach Personen benannten Straßen Frauen gewidmet sind.[3] Zum Beispiel in Berlin es ist 12.1 Prozent[4] und in München 11.6 Prozent[5]. In kleineren Städten und ländlichen Gebieten ist der Anteil der nach Frauen benannten Straßen tendenziell noch geringer.
Die Monacensia hat das Glück, an einer der wenigen Straßen Münchens zu liegen, die nach einer Frau benannt ist – Maria Theresia. Mit der Benennung wurde 1880 Prinzessin Maria Theresia geehrt, die letzte Königin Bayerns, Erzherzogin von Österreich-Este, Prinzessin von Modena, verheiratet mit König Ludwig III. von Bayern. Früher hieß die Straße Äußere Maximilianstraße.
Anno 1898 wurde mit der Reitmorstraße die erste Straße in München auch nach einer bürgerlichen Frau benannt: Anna Reitmor, die im 16 Jahrhunderte lebte und die sogenannte Katzmar-Chronik[6] über die Bürgerunruhen der damaligen Zeit rettete.
Afrastraße oder Theklastraße spiegeln die religiöse Geschichte Münchens wider und ehren Frauen, die in der christlichen Tradition eine bedeutende Rolle spielen: Die heilige Afra von Augsburg war eine Märtyrerin des 4. Jahrhunderts, und die heiligen Thekla von Kitzingen war eine Benediktinerin im 8. Jahrhundert.
Foto: Phantasiestraße in München © Volha Hapeyeva
Im Buch Spaziergänge durch das München berühmter Frauen[7] erfahre ich, wie viele talentierte und mutige Frauen einst das Leben in München geprägt haben. In einer einzigen Straße – benannt nach dem Maler Wilhelm von Kaulbach – wohnten:
• Ruth Schaumann, Lyrikerin, die 1932 den Dichterpreis der Stadt München erhielt.
• Carola Neher, Schauspielerin, die aus NS-Deutschland in die Sowjetunion flüchtete, wo sie den Stalinistischen Säuberungswellen zum Opfer fiel.
• Ricarda Huch, die Grand Dame der deutschen Literatur der ersten Jahrhunderthälfte.
• Toni Pfülf, Lehrerin und Politikerin, die sich für gleiche Chancen von Jungen und Mädchen in Schule und Ausbildung einsetzte.
Heute sind alle diese Frauen in Straßennamen von München und oder anderen deutschen Städten präsent. Das wäre ohne die Recherche und engagierte Arbeit anderer Frauen in Archiven nicht möglich. Was heute für uns selbstverständlich ist, war vor 70 Jahre undenkbar.
Wo Literatur die Straßenschilder berührt
Und dann gibt es noch die kuriosen Anekdoten von Straßen und Menschen, die diese bewohnen. Eine meiner Freundinnen heißt mit Nachnamen Blum und wohnt in der Blumenstraße. Ein anderer Bekannter wohnte erst in der Gartenstraße, zog dann in die Blumenstraße und noch später in die Hortensienstraße. Solche Geschichten sind wie aus einem Roman. Manchmal finden auch Figuren oder Orte aus der Literatur ein zweites Leben in der realen Welt:
• 1895 wurde die Londoner Rose Street in Manette Street umbenannt – zu Ehren von Dr. Manette, einer Figur, die in Dickens’ Eine Geschichte aus zwei Städten dort lebt.
• Die Sesamstraße, ein fiktiver Ort in Manhattan und zentraler Schauplatz der gleichnamigen Kindersendung, wurde zum 50-jährigen Bestehen der Serie am 1. Mai 2019 ebenfalls gewürdigt: Die Kreuzung von Broadway und West 63rd Street heißt jetzt offiziell Sesame Street.
• Anlässlich des 100. Geburtstags von Marcel Proust 1971 wurde die Stadt Illiers, die als Vorbild für den Ort Combray im Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit diente, in Illiers-Combray umbenannt – als würde sich die Literatur selbst in die Landkarte einschreiben. Die Erinnerung, die Proust in seinem Werk so zärtlich bewahrte, hatte das reale Illiers längst verwandelt.
Auch wenn ich den Namen der Großfriedrichsburger Straße nicht so spannend finde: Er ist allemal besser, als post restante (postlagernd) auf den Umschlag zu schreiben, weil man keine feste Adresse hat oder sie aus Sicherheitsgründen geheim halten muss.
Foto aus dem Monacensia Archiv: (1924) Telegramm von Käthe Mohr an ihren Mann Max Mohr, Schriftsteller und Arzt, der wegen seiner jüdischen Herkunft nicht mehr in Deutschland praktizieren durfte und 1934 nach Shanghai fliehen musste. © Archiv Monacensia
Die „Literarischen Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat neu (jeden ersten Dienstag) und setzen dabei auf poetische Vermittlung. Volha Hapeyeva, geboren in Minsk, ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Sie wurde 2022 mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 2019 schreibt Volha Hapeyeva auch auf Deutsch und wohnt als Nomadin in Österreich und Deutschland. Verliebt sich leicht in Sprachen. Statt Romane liest sie gerne Wörterbücher. Hält Poesie für Lebensart.
Lesetipp:
Dieser Beitrag fügt sich inhaltlich ideal in das Kulturerbeprojekt #FemaleHeritage der Monacensia ein, das sich mit der Sichtbarkeit von Frauen in Geschichte, Literatur und Stadtraum beschäftigt.
Im MON_Mag, dem Online-Magazin der Monacensia, finden sich vertiefende Artikel zum Thema fehlender weiblicher Straßennamen:
• Elisabeth Castonier – Schriftstellerin, Landarbeiterin, Kosmopolitin – (4.1.2021)
• Wenige Straßen und Plätze in München nach Frauen benannt – (15.12.2020)
[1] Helmuth Stahleder. Haus- und Straßennamen der Münchner Altstadt. Eine Veröffentlichung des Stadtarchivs München, 2009. S. 11.
[2] Ebd., S. 24.
[3] https://mappingdiversity.eu/
[4] https://mappingdiversity.eu/germany/berlin/
[5] https://mappingdiversity.eu/germany/muenchen/
[6] Jörg Kazmair (auch Katzmair), Ratschronist und Bürgermeister, „Geschichte Münchens unter der Vier-Herzog-Regierung 1397-1413“.
[7] Spaziergänge durch das München berühmter Frauen, Verfasst von: Festner, Katharina [weitere]. Zürich [u.a.]: Arche-Verl., 2002, 173 S.