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07.05.2014, 13:05 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [406]: Der Blogger besucht die Heyse-Ausstellung

Paul Heyse? Der Literaturfreund weiß vielleicht noch, dass er der erste deutsche Dichter war, der den Literaturnobelpreis erhielt. 1910 war das, es ist lange her – offensichtlich allzu lange, dass der sog. Literaturfreund noch ein Werk des einstmals berühmten Dichters in Erinnerung hat. Ein Vergessener also – ein Vergessener, um den es wohl nicht schade ist, er ist ja wohl nicht zu Unrecht vergessen. Verstaubtes 19. Jahrhundert eben oder Was unsere Urgroßeltern noch lasen. Was gibt’s denn noch auf dem „aktuellen“ Buchmarkt? Ein dickleibiger Manesse-Band mit ausgewählten Novellen ist längst vergriffen (und antiquarisch nur schwer zu kriegen), ein Reclamheft bündelt immerhin zwei Novellen und seine Novellentheorie. Nun ja, bei Reclam machen sie das vermutlich aus rein literarhistorischen Gründen. Professorenkram, weiß man ja. Paul Heyse? Ach nee, muss man nicht kennen. Schon dieser grässliche Bart – furchtbar.

Werch ein Illtum! Dass Paul Heyse, dem die Staatsbibliothek in der Schatzkammer zum 100. Todestag eine kleine, gute Ausstellung eingeräumt hat, vor über 100 Jahren populär war, und dass er mit 180 Novellen, acht Romanen, 60 Dramen, vielen Gedichten und Übersetzungen unendlich fleißig war, muss noch nichts besagen – aber dass Einiges aus seinem riesigen Werk es lohnt, wieder in die Hand genommen zu werden, ja: dass man große Freude haben kann, eine seiner einst viel gelesenen, gut gebauten, handwerklich exzellenten Erzählungen zu lesen: darauf muss der Literaturfreund kommen, nachdem er die Ausstellung besichtigt hat.

Und was entdeckt er hier? Eine schwarzlockige Schönheit der Jean-Paul-Zeit, die direkt mit dem Jean-Paul-Aficionado Felix Mendelssohn Bartholdy verwandt war. Die Mutter Paul Heyses nämlich war Julie, eine geborene Saaling, die Tochter des preußischen Hofjuweliers Jacob Salomon (der 1788 starb), damit auch die Kusine von Lea, also von Felix Mendelssohn Bartholdys Mutter. Julie wurde in Jacobs Todesjahr geboren, sie starb, als Ludwig I. König wurde und Richard Wagner nach München gerufen wurde.

Während der Blogger nach München fährt, liest er ein sehr schönes Buch, das 1979 in der erstklassigen, ja: wunderbaren Bavarica-Reihe erschien. Geschrieben wurde es von Siegfried Obermeier, dem „großen Oberschleißheimer Romancier“, wie ich in einem Nachruf lese[1]. Das waren noch Zeiten... als Paul Heyse den Münchner Dichterkreis (zu dem auch Victor von Scheffel gehörte) anführte. Beim guten, nein: beim sehr guten Obermaier kann man's nachlesen:

Der literarische Tausendsassa war in Leben und Werk ein Mann und nicht nur ein zartes lyrisches Pflänzchen, das zur höheren Ergötzung von Damenkränzchen blühte. Weniger bedeutend waren seine Romane und Bühnenwerke, denen es an innerer Logik und formalem Zusammenhalt fehlt, doch von seinen über hundert Novellen verdient etwa ein Dutzend, dass man sie heute noch zur Hand nimmt. Er bevorzugte dabei dramatische Themen, die er meisterhaft aufbaute und durchkomponierte. Als Lyriker gelangen ihm einige Verse voll Kraft und Anmut.

Und Helmut Nürnberger schrieb: „'Heyse in München' war für die silberne deutsche Klassik eine Adresse, nicht ganz unähnlich jener anderen, die 'Goethe in Weimar' hieß.“

Voilà, ein Dichter! Ein Dutzend Novellen, immerhin, und ein paar Verse – das ist wesentlich mehr, als von den meisten Dichterlingen des 19. Jahrhunderts als „haltbar“ überliefert wurde.

Man mache die Prüfung aus Exempel und schlage den Band auf, den der Goldmann-Verlag vor über vier Jahrzehnten in seiner guten, unvergesslichen Reihe (mit der noch manch Kind zur Literatur gebracht wurde) herausgegeben hat. Hinter dem stylischen Cover der späten 1960er (Foto: Hannes von Gundlach) verbergen sich vier ausgewählte Meisternovellen und Heyses Novellentheorie, die er nach der berühmten Novelle des Boccaccio als Falkentheorie bezeichnet hat. Das Ganze wurde versehen mit einem guten Nachwort der Herausgeberin Anne Feichtner-von Ian (die noch in München zu leben scheint, daher der Blogger sie von hier aus herzlich und dankbar grüßen kann).

Vier Novellen: das ist nicht viel, aber es genügt, um zu begreifen, wieso dieser Paul Heyse im 19. Jahrhundert so unendlich beliebt war – und wieso er Ende des 19. Jahrhunderts schon zum alten Eisen einer einst lebenden Literatur gehörte. L'Arrabbiata – wenn man Fontane[2], Obermaier und der Auswahl vertraut – war wohl seine berühmteste Novelle. Verständlich – denn bei Heyse fand man, wie Frau Feichtner-von Ian schrieb, „spannende Unterhaltung“. „L'Arrabbiata“, so nennen wir Laurella, eine junge Frau aus Sorrent, die als „Rabiate“ bekannt ist und einen jungen Fischer abweist, der sie nach Capri hinüberbringt. Als er zudringlich wird, beißt sie in seine Hand, er zieht sich zurück, weicht ihr aus – doch eben dessen Rückzug sorgt nun dafür, dass ihr raues, vom Leben gestähltes Herz erweicht wird und ihre Liebe ausbricht.

Sie küsste ihn dreimal und dann machte sie sich los und sagte: Gute Nacht, mein Liebster! Geh nun schlafen und heile deine Hand, und geh nicht mit mir, denn ich fürchte mich nicht, vor keinem, als nur vor dir.

Damit huschte sie durch die Tür und verschwand in den Schatten der Mauer. Er aber sah noch lange durchs Fenster, aufs Meer hinaus, über dem alle Sterne zu schwanken schienen.

Ist das Kitsch? Ist das nur gutgemeint? Oder ist das nicht wirklich gut – wenn man es mit den liebenden Augen eines heutigen Lesers betrachtet, der mit Zuneigung auf dieses seltsame 19. Jahrhundert schaut, an dessen Beginn ein Bayreuther Autor höchst eigentümliche Romanungetüme schrieb, und an dessen Ende der Naturalismus die Nettigkeiten eines Paul Heyse ins Aus jagte?

Nein, diese Erzählung ist so meisterhaft in ihrer konzisen Struktur, die Heyse in seiner Novellentheorie zum Richtmaß des Novellenschreibers gemacht hatte. Besonders einfühlsam entwarf er seine literarischen Frauengestalten, lese ich im Werbeblatt zur Ausstellung. Auch die fatale Titelgeschichte des sorgfältig zusammengestellten Bandes – in der die schönste Frau Roms, ach was: Italiens, einen jungen Mann verwirrt – hält, was der Titel verspricht. Überraschend dann Der letzte Zentaur: eine Geschichte nach Jean Pauls Geschmack, in der ein Zentaur in der Münchner Gegenwart der Spießbürger landet. Vom Turme der Frauenkirche schlug es Mitternacht... Ein Kabinettstück – auch Der verlorene Sohn, in der das skandalöse Motiv des Inzests auf durchaus erstaunliche Weise behandelt wird.

Ja, man versteht's, dass Fontane, der zum wesentlich interessanteren, problembewussteren Dichter werden sollte (und Heyse 1859 in München besuchte), von den Werken des jungen Heyse, den er in Berlin kennen gelernt hatte, fast so begeistert war wie seine Zeitgenossen – und man begreift sofort, wieso der ältere Heyse Fontane so wenig abgewinnen konnte wie der Dichter der Effi Briest und von Irrungen, Wirrungen[3] den Erzählungen eines Mannes, der ästhetisch dort stehen geblieben war, wo sich die späte Romantik mit einem bloß äußerlichen Realismus verbandelt hatte. Über den 22jährigen Jungdichter hatte Fontane noch 1853 (in Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848) geschrieben:

Wenn unter allen jungen Poeten Einer ist, den die Götter zu etwas Höchstem und Größtem bestimmten, so ist er's. Er könnte leicht berufen sein, Alles das, was in diesem Augenblick in Deutschland dichterischen Klang und Namen hat, in den Schatten zu stellen. Alle seine Arbeiten, auch die verfehltesten, tragen den Stempel außergewöhnlicher Begabung, viele unter ihnen den des Genies.

20 Jahre später klangen Fontanes Lobreden anders: der Roman Kinder der Welt enthalte nur unglaubwürdige Charaktere – und mit der unübertrefflichen Beherrschung der Sprache sei es eben nicht getan. Heyse bedankte sich für die Lobsprüche bei seinem einstigen Freund: er käme bei dessen Erzählungen einfach nicht mehr mit, Kunst sei das wohl nicht mehr (aber er hat noch, das darf nicht vergessen werden, 1884 Grete Minde in seinem Deutschen Novellenschatz veröffentlicht).

Es stimmt wohl, was Helmut Nürnberger in seinem phänomenalen Buch über Fontanes Welt bemerkt hat: „Das Dichtertum Paul Heyses verkörpert das Drama eines Menschen, den das Glück verwöhnt und betrogen hat.“ Fontane hatte wohl Recht: „Er hat seinen Platz in der Literatur, was schon sehr viel ist; aber ein Eroberer ist er nicht.“ Am 29. Oktober 1882 schrieb er an Otto Brahm, dass er ihn „für das größte, noch mehr für das reichste Talent halte, das wir zur Zeit in Deutschland besitzen, dessen Bedeutung aber durch einen falschen Tropfen in seinem Blut immer wieder in Frage gestellt, in vielen seiner Produktionen einfach vernichtet wird“.

Das ist typisch Fontane: das kritische Urteil verdeckt weder Skepsis noch Zuneigung. Mit Jean Paul hatte er es genau so gehalten: mit einem Dichter, der seinen Prinzipien der erzählerischen Ordnung ebenso entgegenstand wie Jean Pauls Erzähllabyrinthe der Heyseschen Falkentheorie mit ihrem geordneten Interieur und ihren genau platzierten Effekten – und doch gehörten beide, man verzeihe die Trivialität dieses Satzes, Jean Paul und Heyse, in die Eine Welt: die Welt der Literatur, in der unendlich viele Räume aneinander grenzen, und in der sich die verschiedensten Tiere in ihren selbstgeschaffenen Gärten tummeln – und an den Pforten gelegentlich freundschaftlich begegnen.

Dass Paul Heyse, der auf den ersten Blick mit Jean Paul nicht mehr gemein hat als einen Namen, als „Liebling der Musen“ ein ernstzunehmender Kollege des Mannes war, der auch von einem Musiker verehrt wurde, dessen Mutter mit der Mutter jenes Dichters verwandt war, um den es hier ging: die Münchner Ausstellung und die Lektüre einiger seiner Novellen verdeutlichst es auf schönste Weise.

Ein Münchner Dichterfürst des 19. Jahrhunderts: Paul Heyse.

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[1] „Obermeiers Muse ist die Geschichte. Seinen Kater nannte er Titus Gaius Petronius. Geheimnis seines Erfolgs ist die Detailverliebtheit. Schlechte Recherche, schlampige Darstellung war ihm ein Graus. ‚Ich wollte es besser machen‘, heißt es auf seiner Homepage“ – heißt es in diesem Nachruf. Im Blick auf Münchens goldene Jahre kann ich sagen: Er hat es besser gemacht.

[2] Fontane bemerkte gegenüber Otto Brahm, dass diese Novelle überschätzt würde, worin „eine Ungerechtigkeit gegen offenbar höher stehende Arbeiten“ steckte.

[3] Ah! Die beste aller Fontane-Erzählungen! Nicht gelesen, Herr Student? Setzen, nachholen.

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