Thomas Palzer über die Kathedrale des Buches: die Bibliothek

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2017/klein/bibkl.jpg
Bibliothek der University of Washington

Der Münchner Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet – oft unter philosophischen Fragestellungen – neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt erschien der Roman Nachtwärts. Im Literaturportal Bayern wird er in den nächsten Monaten regelmäßig über philosophische Themen reflektieren, die sich im weiteren Feld von Bibliothek – Schrift – Archiv bewegen. Im dritten Teil geht es nach dem Buch und dem Roman nun um die große Aufgabe der Institution Bibliothek.

 

III.

Bibliotheken, sagt der Schriftsteller Thomas Hettche, wirken wie aus der Zeit gefallen. Und das tun sie gar nicht wegen des Prunks vergangener Zeiten – etwa wegen jenes Rokokosaals, dessen prächtiges Oval die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar berühmt gemacht hat. Denn Hettches Feststellung gilt auch für Bibliotheken der Gegenwart, etwa die neue französische Nationalbibliothek oder die Biblioteca Vasconcelos in Mexico City.

Bibliotheken wirken wie aus der Zeit gefallen, weil sie weniger Wissensspeicher und Archiv sind, als vielmehr Ausdruck einer bestimmten Lesekultur – einer Lesekultur, in der sich, könnte man sagen, die Menschen noch Bücher zugemutet haben. Dafür ist heute keine Zeit mehr. Es geht also nicht um Fragen von Druck- oder Reproduktionstechniken, von Schrift oder Träger, analog oder digital. Es geht zunächst allein um die Frage nach Konzentration und Sammlung. Eine Bibliothek gibt dem Buch Raum und Zeit, denn ein solches besteht nicht aus Kommandozeilen, die abgearbeitet werden müssten. Ein Buch will gelesen werden. Bibliotheken sind Orte der Konzentration – weder Spaßarena noch Arbeitslager.

Neben der Auszehrung von innen sind Bibliotheken natürlich auch von außen bedroht, vom physikalischen Raum. Red-Bull-Arenen von den Gewalten der Natur oder der Fans, Betriebssysteme mit ihren zahllosen Unterprogrammen namens libs vom Stromausfall. Nehmen wir die bedeutendste Bibliothek der Antike, die Bibliothek von Alexandria, die im 3. Jahrhundert durch ein Feuer zerstört wurde, wie Historiker annehmen – sicher ist das nicht. Wenn eine Bibliothek durch einen Brand zerstört wird, vermag, falls wir uns in Alexandria befinden, der heftige Wind, wie er manchmal vom Mittelmeer kommt, ausreichend verkohlte Papyri durch die Stadt zu treiben – solche Mengen, dass die Bevölkerung sich geradezu aufgerufen fühlt, diese aufzuklauben und zu sammeln, womit wiederum die Voraussetzungen geschaffen wären, um die Schriftrollen zumindest in Fragmenten restaurieren zu können. Information kann im Universum nicht vollständig verloren gehen – das wäre gegen die Naturgesetze.

Der Friedhof

Als in der Nacht zum 2. September 2004 durch Brand und Löschwasser der Buchbestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek beschädigt wurde, fanden Weimarer Bürger am nächsten Morgen in den Gassen Fetzen verkohlten Papiers. Nur 28 Tausend Bände der insgesamt etwa 120 Tausend Werke umfassenden historischen Sammlung überstanden das Feuer unbeschädigt. Goethe hatte die Bibliothek 35 Jahre lang zu einer Schaltstelle nationaler Überlieferung ausgebaut. Die versehrten Bücher brachte man nach Leipzig, wo sie schockgefrostet und getrocknet wurden. „Das ist der Friedhof,“ sagte damals Dr. Manfred Anders, Geschäftsfüh­rer des Zentrums für Bucherhaltung in Leipzig, als er die schwere Stahltür zur Kühlkammer einen Spalt öffnete. Drinnen regierte, wie ich sah, das totale Chaos: Mullbinden, Wickel, verrußte Einbände, verkohlte Buchblöcke – zu Hunderten auf mehreren Etagen nebeneinandergestapelt. „So lange noch papierähnliche Substanz vorhanden ist, kann man das mit Sicherheit retten“, erläuterte Anders.

Wenn Bücher durch Löschwasser durchfeuchtet oder gar nass geworden sind, bildet sich oft schon nach 24 Stunden Schimmel: das endgültige Aus für die Artefakte. Darum gehört die Trocknung zur ersten Hilfe für bibliothekarische Notfälle. Bald nach dem Brand waren zweitausend Bücher wieder von Leipzig nach Weimar zurückgeschickt worden. Jetzt konnte sich nach und nach an die aufwendige Arbeit der Restauration gemacht werden. Diese dauert noch an. Bis zu 30 Jahre, so schätzten damals Experten, würde die Wieder­in­standsetzung der versehrten historischen Sammlung benötigen. 50 Tausend Bücher sind durch den Brand unwiederbringlich verloren gegangen.

Bayerische Staatsbibliothek; Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, alte Postkarte

Neben Feuer und Wasser sind es Chemikalien, die heute Millionen Bücher bedrohen – Bücher, die nach 1850 gedruckt wurden. Um die Herstellung von Papier zu verbilligen, vertraute man auf Zusatzstoffe – wie so häufig nur ein Vorteil auf kurze Zeit. Da der gefährdete Bestand seines Umfangs wegen nicht komplett zu retten sein wird, macht man sich über die Frage, welche Bücher überleben sollen und welche ihrem Schicksal überlassen werden, in der Bayerischen Staatsbibliothek ebenso Gedanken wie im Geheimarchiv des Vatikans, der beeindruckenden Biblioteca Alexandrina in Alexandria oder der „Harry-Potter“-Bibliothek, der Bodleian Library in Oxford.

Das Buch ist nicht so sehr von all seinen physischen Erscheinungsformen oder Metamorphosen bedroht, die vom Papyrus über die Buchrolle, das gedruckte Buch, das Ebook bis zum Digitalisat reichen. Vielmehr ist es der geräuschlose Verfall der Lesekultur, die das Buch, dessen Ausdruck es ist, auflöst wie in einem Säurebad. Bibliotheken sind weit mehr als bloße Wissensspeicher, als Wikipedia in Regalmetern. Sie sind ein Raum der Stille, ohne welchen Freiheit nicht denkbar ist.