Thomas Palzers philosophische Kolumne: Über das Lesen

Der Münchner Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet, oft unter philosophischen Fragestellungen, neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Nachtwärts. Im kommenden Frühjahr erscheint sein neues Essaybuch Vergleichende Anatomie. Im Literaturportal Bayern reflektiert Thomas Palzer regelmäßig über philosophische Themen, die sich im weiteren Feld von Bibliothek – Schrift – Archiv bewegen. Im vierten Teil seiner Kolumne, der in dieser Woche auch in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern erscheint, beschäftigt er sich mit dem Lesen – und dem Geist des Buchstabens.

IV.

Da wir die Welt lesen können, muss sie voller Spuren sein – reich ausgestattet mit Winken, Hinweisen, Zeichen. Man kann sogar sagen, dass die Welt aus nichts anderem als aus Zeichen besteht. Außer Zeichen kann es in der Welt nichts geben, denn wenn irgendetwas ein Zeichen ist, muss alles Zeichen sein. (Woher sollten wir andernfalls wissen, was Zeichen ist und was nicht?) Welt ist grundsätzlich zeichenhaft.

Wenn wir lesen, sammeln wir die Zeichen, die wir als solche erkannt zu haben meinen. Wir lesen sie, metaphorisch gesprochen, auf und machen uns einen Reim darauf. Die Lesbarkeit der Welt ist ein erstaunliches Faktum – aber noch erstaunlicher ist, dass die Sätze, die wir bilden, in der Welt offenbar ein Modell haben. Woher stammt diese Korrespondenz? Wo finden wir die Bedingungen der Möglichkeit für eine solche Bezüglichkeit? Sprachliche Dinge werden von der Welt mysteriöserweise eingelöst. Wie aber kann das sein?

 

 

In dem Gedicht Le Démon de l’Analogie von Mallarmé heißt es: „Erklangen von deinen Lippen schon einmal unbekannte Worte, unwillkommene Fetzen eines sinnlosen Satzes?“ Es ist, worauf Wolfram Hogrebe in Metaphysik und Mantik aufmerksam macht, eine verstörende Erfahrung, wenn sinnlosen Wortfolgen und Satzfetzen plötzlich Sinn zuwächst, wenn wir feststellen, dass selbst der Zungenrede irgendetwas in der Welt entspricht. Zaubersprüche machen sich das Rätsel der Kontingenz zunutze.

 

   Du mußt verstehn!
   Aus Eins mach’ Zehn,
   Und Zwei laß gehn,
   Und Drei mach’ gleich,
   So bist Du reich.
   Verlier’ die Vier!
   Aus Fünf und Sechs,
   So sagt die Hex’,
   Mach’ Sieben und Acht,
   So ist’s vollbracht:
   Und Neun ist Eins,
   Und Zehn ist keins.
   Das ist das Hexen-Einmal-Eins!

 

Woher die Ähnlichkeit zwischen Sprache und Welt kommt, zwischen Zeichen und Bezeichnetem – das bleibt das Rätsel. Jedenfalls muss zwischen Name und Ding eine Art Notwendigkeit walten, sonst wäre Referenz gar nicht denkbar. Diese Einsicht bildet den Hintergrund von Platons berühmtem Dialog Kratylos. Auf bloßer Vereinbarung kann Sprache nicht beruhen, auf Willkür, denn ganz offenbar bezieht sich Sprache ja auf die Welt – und trifft sie, egal welche Sprache paradoxerweise gesprochen wird. Das liegt weder in der Macht des Sprechenden noch in der Macht der Sprache noch in der Macht der Welt. Woran aber liegt es dann?

 

 

In Metamagicum bemerkt Douglas R. Hofstadter, dass „die bloße Nebeneinanderstellung einiger Wörter den Geist dermaßen beflügeln (kann), dass er in imaginäre Welten aufsteigt“. Unheimlich an diesem Phänomen bleibt, dass Referenz kontingent ist, was wiederum Baudelaire veranlasst hat, von der „mystischen Religion der Korrespondenz“ zu sprechen. Kontingenz ist Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt Einbildungen haben können. Wir sehen etwas und sehen plötzlich in dem, was wir sehen, etwas anderes. In den bizarren Gebilden der Wolken können wir jede Gestalt wiederfinden, jedes Gesicht, in jedem Geräusch jeden Namen. Im Sand des Strandes können wir das Mienenspiel eines Menschen erkennen, das von der nächsten Welle wieder ausgelöscht wird. Geist, so müssen wir festhalten, ist das, was Bezüglichkeit herstellt. In der Formel vom Geist des Buchstabens scheint dieser Zusammenhang in seiner ganzen Ungeklärtheit auf.

Lesen und Schrift stehen ihrerseits in einem Korrespondenzverhältnis, das zu dem zwischen Welt und Wort analog ist. Wenn wir lesen, stellt unser Geist die Bezüge wieder her, die in der Schrift festgehalten sind, aufbewahrt, archiviert. Beim Lesen, um es so zu sagen, fährt der Geist in den toten Buchstaben und belebt ihn. Leben heißt, innerhalb von Bezügen zu stehen. Lesen lässt Bezüge wiederaufleben. Eine Bibliothek ist also ein Archiv von Archiven.

 

 

Lesen muss nicht zwingend die Partitur für das Kopfkino abgeben, das in uns abläuft, während unsere Augen Zeile für Zeile abwandern. Lesen kann auch bedeuten, dass wir es rekursiv auf es selbst anwenden und kritisch lesen, d. h. die Bedeutungen untersuchen und wie diese durch die Grammatik, die Wortstellung und die Tönung zustande kommen. Lesen kann bedeuten, über den Sinn jedes Wortes nachzudenken, über seine Herkunft und die wechselvolle Geschichte seiner Verwendung. Zum Beispiel gehören Wörter wie liegen oder stehen zu den Positionswörtern, um die herum das Gebäude der deutschen Sprache errichtet ist. „Jeder Text“, sagt Georges-Arthur Goldschmidt, „ist eine Übersetzung dessen, von dem die Rede ist, und daher von diesem grundsätzlich verschieden“.

Lesen ist Vollzug des Textes. Er hat dann statt in dem physikalisch zwar engen, metaphysisch aber unabgrenzbaren Bezirk zwischen Leselampe und Konzentration.