Info
Geburtsjahr: 1949
in Geldermalsen (Niederlande)
Foto: Ingvild Richardsen
Titel: Dr.

Reinjan Mulder

Dass der Niederländer Reinjan Mulder 1949 in Geldermalsen geboren wird, ist dem Beruf seines Vaters geschuldet. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird der Ingenieur von der niederländischen Eisenbahn, Nederlande Spoorwegen (NS), mit der Reparatur von Bahnstrecken und Brücken beauftragt, widmet sich aber parallel zu dieser Arbeit stets auch seiner künstlerischen Begabung, zeichnet und malt. Tatsächlich ist Piet Mulder den meisten heute als Künstler bekannt. Doch nicht nur väterlicherseits wächst Reinjan Mulder in einer von Kunst, Geschichte und Landschaft geprägten Atmosphäre auf. Seine Mutter, Hanna Mulder-Hulscher (1922-2013), die ab 1951 in Geldermalsen über 50 Jahre lang eine sehr bekannte Tanzschule führt, ist eine der berühmtesten Frauen in der Gegend. Sie hat zudem deutsche Vorfahren. Während Hanna Mulder aufgrund ihrer Herkunft und der positiven Amsterdamer Kontakte die deutsche Kultur jenseits des Nationalsozialismus kennt und schätzt, lehnt sein Vater nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs alles Deutsche rundum ab.

1966 legt Reinjan Mulder mit 17 Jahren das Abitur ab und reist nach Deutschland. Seine Schulkameradin Reinet van Haeften, die Urenkelin Adriaan Stoops, der als Pionier der Erdölindustrie schwerreich und durch das von ihm erbaute Jodschwefelbad in Bad Wiessee berühmt wurde, hat nach Bad Wiessee eingeladen, ins Ferienhaus ihrer Familie: Haus Jungbrunnen. Mulder selbst ist von der Sicht seines Vaters auf Deutschland als Ort des Schreckens und Heimat des Bösen nicht ganz unbeeinflusst – die meisten Niederländer teilen damals diese Einschätzung –, doch seine Mutter nimmt die Einladung durch die wohlhabende und bekannte Familie van Haeften mit Stolz auf. Die weder von der Vergangenheit noch durch anhaltende Ressentiments beschwerten Urlaubstage am Tegernsee, auch das Erleben der Bergwelt, verändern Mulders Bild von Deutschland nachhaltig und markieren den Beginn seiner Liebe zu diesem Land.

An der Universität Amsterdam nimmt er ein Studium der Philosophie auf, wechselt im Sommer 1967 ins Fach Jura, spezialisiert sich auf Strafrecht und Psychiatrie und tritt in den Studentenverein für Strafrecht ein, der 1972 eine Reise nach Deutschland unternimmt. Seine Eindrücke des in Ost und West geteilten Berlins hält Mulder in der Wochenzeitung De Groene Amsterdammer fest und stellt mit Blick auf die DDR die Frage, wer aus welchen Gründen in einer sozialistischen Gesellschaft als „Verbrecher“ gebrandmarkt werde.

Eine Tätigkeit als Anwalt erscheint Mulder nach seinem Abschluss wenig erstrebenswert, er entscheidet sich zunächst für den Verbleib in der Wissenschaft, seine vielfältigen Talente soll er aber sein ganzes Leben lang breitgefächert zum Einsatz bringen. 1980 legt er an der juristischen Fakultät Amsterdam eine Doktorarbeit u.d.T. „Verbrechen und Macht“ vor, in der er das Strafrechtssystem und die juristische Nachkriegsgeschichte der DDR untersucht. Parallel feilt er an seiner Karriere als Journalist, arbeitet von 1979 bis 1983 in der Kunstredaktion des NRC Handelsblad. Bereits 1970, mit 20 Jahren, hat er als Dichter an literarischen Wettbewerben der Tageszeitungen NRC Handelsblad und De Gids teilgenommen und nach zweieinhalb Jahren Tätigkeit bei einer literarischen Studentenzeitschrift von 1975 bis 1997 Artikel über Literatur geschrieben.

1983 nimmt Reinjan Mulder eine Stelle am Sociaal en Cultureel Planbureau (SCP), dem Nationalen Planungsstab für Rechtswissenschaft des niederländischen Staates, an. 1989 folgt die Rückkehr zu NRC als Redakteur: Mulder lebt in der Welt der Literatur und Schriftsteller, schreibt Kritiken, Nekrologe und führt Mengen an Interviews mit den Größen der in- wie ausländischen Literaturszene, darunter Martin Walser, Pat Barker, Claudio Magris, Anna Enquist, Elke Erb, Joachim Sartorius, Tessa de Loo und Czeslaw Milosz – viele von ihnen verdanken ihm den damals hohen Bekanntheitsgrad ihrer Bücher. Seit 1995 steht Mulder auch mit W.G. Sebald in Briefwechsel, interviewt ihn für NRC Handelsblad in Poringland, England.

1998 wechselt er vom Stuhl des Literaturkritikers auf den des Verlegers: Er steigt beim linksliberalen Verlag De Geus ein. Im Meulenhof Verlag ist er von 2003 bis 2008 als Redakteur tätig. Seitdem stellt Mulder seine Kunst Verlagen wie Lebowski oder Nieuw Amsterdam als Freelancer zur Verfügung – und steht als einer der Gründer dem Verlag Babel & Voss vor.

Nicht allzu lange vor seinem Einstieg in die Buchbranche ist Mulder 1996 ein Buch über Adriaan Stoop unter die Augen gekommen, das eine Nachfahrin des niederländischen Bergbauingenieurs und Kurbadbetreibers veröffentlicht hat, Henriette van Voorst Vader-Duyckinck Sander: Ein glücklicher Zufall, der die Erinnerung an die 1966 in Bad Wiessee verbrachte Sommerwoche wachruft und ein Projekt anstößt, das Mulder mehr als ein Jahrzehnt begleiten soll. Er begibt sich auf Spurensuche, recherchiert in Archiven, ab 2011 auch vor Ort in Bad Wiessee, taucht tief in die Geschichte des Kurorts und die seines niederländischen „Gründers“ ein. Auch der Kontakt zu Stoops Erben glückt: Henriette van Voorst Vader-Duyckinck Sander berichtet Mulder von zahlreichen Aufenthalten in Bad Wiessee.

 

Reinjan Mulder und Ingvild Richardsen im Tropischen Museum in Amsterdam. In der Mitte die Statue von Adrian Stoop. (c) Ingvild Richardsen

Ergebnis seiner langjährigen Recherchen wird schließlich sein Buch Zwavelwater. De geschiedenes van Adrian Stoops kuuroord in Zuid-Duitsland (2019; dt. Ausg. Schwefelwasser. Das Wunder von Bad Wiessee. Eine Zeitreise, Volk Verlag 2020). Der Amsterdamer Boom Verlag bewirbt das Buch folgendermaßen: „Mulder kombiniert das Persönliche mit dem Historischen in seiner faszinierenden Untersuchung der Geschichte eines Deutsch-Niederländischen Kurortes.“ Das Cover der niederländischen Ausgabe lehnt sich dabei an eine Postkarte aus dem Jahr 1912 an, die einen idyllischen Blick auf das alte Bad Wiessee eröffnet und das sich im Tegernsee spiegelnde erste Badehaus vor Bergpanorama präsentiert – ein Fund aus dem Bad Wiesseer Archiv.

In seinem Buch erwähnt Mulder auch, dass er in früheren Zeiten mit einem Freund in Schliersee beim Wandern gewesen ist: dem international bekannten niederländischen Schriftsteller Arnon Grünberg. In dessen Buch Sterker dan de waarheid (2002) schildert Grünberg die gemeinsamen Bergwanderungen und Arbeitssitzungen mit Reinjan Mulder. Tatsächlich macht Mulder mit Grünberg mehrere Bücher, die bei De Geus unter dem Pseudonym „Marek van der Jagt“ erscheinen, dessen (fiktive) Identität Grünberg gemeinsam mit Mulder von 1998 bis 2000 entwickelt.

Im Jahr 2011 erscheint Mulders Buch Coffee Company, ein Roman über Jacobus Henricus van’t Hoff, den ersten Nobelpreisträger der Chemie, dessen Person ihn prägt, seit er mit elf Jahren dessen Schreibtisch als Geschenk erhalten hat. Im selben Jahr erwirbt das Rijksmuseum zudem Mulders konzeptuelles Fotokunstwerk Objectief Nederland.

2019 wird er in die renommierte „Schriftstellergalerie“ des Niederländischen Literaturmuseums in Den Haag aufgenommen – nicht zuletzt aufgrund seines Grenzen sprengenden Werks zu Bad Wiessee.