Oskar Maria Graf: Einer gegen alle

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Deutsches Maschinengewehrnest und toter Soldat, Villers-devant-Dun (Sassey), 4. November 1918, National Archives and Records Administration, College Park.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Abdanken der Monarchien reagiert die zeitgenössische Literatur mit allerlei Büchern über den Krieg. Neben heroisierenden Offiziers-Memoiren der frühen Jahre setzen sich immer mehr fiktive Gestaltungen des Kriegsereignisses durch. Oskar Maria Graf ist einer derjenigen, die gegen die literarische Verschleierung der deutschen Niederlage anschreiben: In der 1922 erschienenen Frühzeit schildert er, wie er zum „Schandfleck der ganzen bayrischen Armee“ (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, S. 150) wird. In dem zehn Jahre später erschienenen Kriegsheimkehrer-Roman Einer gegen alle (1932) stellt er das Schicksal eines Überlebenden ins Zentrum. Es ist die Darstellung eines vom Krieg traumatisierten Frontsoldaten, eines durch deutsche Provinzen irrenden heimatlosen Vagabunden, der einen verzweifelt-erbitterten Kampf als Krimineller und Mörder gegen die neue Ordnung führt und im Selbstmord endet. „Statt des ‚dennoch zukunftsgläubigen’ Bekenntnisses zur Zeit, als das Graf später den Gefangenen-Roman sah, negiert er in der NS-Aufbruchsphase jeglichen Sinn des Krieges“ (Oskar Maria Graf: Einer gegen alle, S. 162).

Mit Einer gegen alle porträtiert Graf den Anti-Helden Georg Löffler, kurz Girgl, der als heruntergekommener Marodeur seine „Flucht als langsame Heimkehr und zögernde Ergebung“ antritt:

In Rückblenden und aufgescheuchten Albtraumerinnerungen wird die Vorgeschichte dieses Löffler nachgeholt: ein Bauernsohn aus dem Innviertel, vom Grauen des Krieges geprägt, amtlich als vermißt gemeldet, aber insgeheim desertiert, findet sich in den Friedenszeiten nicht zurecht und wiederholt, einer gegen alle, den Krieg für sich allein. Er streunt durch Oberbayern, wechselt die Kleider, die Pässe, die Namen, verspricht einer Hure in München in einer Nacht eine goldene Zukunft und fährt als ein Niemand in Richtung Vogtland und Sachsen, wo der legendäre Arbeiterführer Max Hölz proletarische Aufstände gegen die sich wieder formierende bürgerliche Gesellschaft anzettelt. Bedenkenlos wirft dieser Löffler [...] zwei kontrollierende Polizisten aus dem Zug, raubt, stiehlt und tötet, taucht unter, wo er nicht nach seinem Namen gefragt wird und nicht nach den Losungen einer Partei. Zurückgekehrt nach München probt er ein kurzfristiges Glück mit der Hure, die er verlassen hatte; doch er hält den Frieden nicht aus, erklärt ihn zu seinem eigentlichen Verfolger [...].

(Schoeller, Wilfried F. [1994]: Oskar Maria Graf, S. 238f.)

Die Schwierigkeit, Sympathie für den mehrfachen Mörder zu empfinden, wird u.a. dadurch gelöst, dass er selbst als Kriegsopfer gezeichnet wird, wobei der Erzähler darauf bedacht ist, Löfflers Schicksal als exemplarisch für eine ganze Generation von Kriegszerstörten sprechen zu lassen – aber eben auch für den radikalen Gegenentwurf eines „völlig ungebundenen, freien Menschen“, wie er noch in Wir sind Gefangene aufscheint:

Was immer du auch anfangen willst auf der Welt, ob du dich kraft eines bewußten oder unbewußten Rebellentums als verbissener Einzelgänger außerhalb der Gesellschaft zu stellen versuchst, ob du alle ihre gültigen Moralsätze mißachtest, ob du jede Ordnung und alle Gesetze der Staaten noch so sehr umgehst, ob du dich selbst mit Hilfe einer zurechtgedachten Philosophie von jeder Gemeinschaft lossagst und nun vermeinst, du seiest nur dir verantwortlich und ein völlig ungebundener, freier Mensch – unentrinnbar bist du dennoch dem Apparat der Zivilisation verhaftet. [...] Mit der Eintragung deines Namens in ein Geburtsregister beginnt deine Abhängigkeit vom Ganzen, und erst mit der Konstatierung deines Todes endet diese Gefangenschaft.

(Oskar Maria Graf: Einer gegen alle, S. 105)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik

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