Ingolstadt

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Alte Anatomie in Ingolstadt vom Münster aus gesehen, 2007.

Ob Mary Shelley Ingolstadt jemals besucht hat, ist nicht bekannt. Der Grund dafür, die bayerische Stadt als Schauplatz ihrer Gespenstergeschichte zu wählen, liegt zweifellos in der Wertschätzung, die die Ingolstädter Universität damals genoss. Bereits 1472 war sie als erste Bayerische Landesuniversität gegründet worden und erlangte schnell Berühmtheit in ganz Europa. Im 18. Jahrhundert wurde ein eigenes Experimentiergebäude für die Naturwissenschaftler und Mediziner gegründet. Bis heute ist die „Alte Anatomie“ erhalten und dient als Sitz des Deutschen Medizinhistorischen Museums, einer ebenso umfangreichen wie anspruchsvollen Sammlung, die Objekte zur Geschichte der abendländischen Medizin von der Antike bis heute umfasst.

Ein weiterer Grund für Mary Shelley, Ingolstadt als Ort des spektakulären Geschehens auszusuchen, dürfte darin bestehen, dass an dieser Hochschule 1776 von Professor Johannes Weishaupt der Orden der Illuminaten gegründet wurde, eine „Geheime Weisheitsschule“, in der begabte junge Akademiker uneingeschränkt forschen und all das, was die Kirche aus dem Lehrangebot verbannte hatte, lernen sollten. Percy Bysshe Shelley zählte zu den Mitgliedern des Geheimbunds. 

Mary Shelley lässt den Protagonisten ihres Romans, den aus Genf stammenden jungen Studenten Victor Frankenstein, mit den Worten beginnen:

Als ich siebzehn Jahre alt geworden war entschlossen sich meine Eltern, mich auf die Universität Ingolstadt zu schicken. Ich wäre ganz gern auf der Genfer Hochschule geblieben, aber mein Vater hielt es für nützlicher, wenn ich, um meine Erziehung zu vollenden, auch mit den Sitten und Gebräuchen anderer Länder vertraut würde.

Victor Frankenstein erlebte die Fahrt als Reise ins Ungewisse – in mehrfacher Hinsicht. Anfangs fühlte er sich allein gelassen, trauerte er den geliebten Menschen seiner Heimatstadt nach und befürchtete, ungeeignet zu sein, in der Fremde neue Bekanntschaften zu schließen. Doch allmählich gewannen Lerneifer und Neugier die Überhand und die Hoffnung wuchs, sich in der neugewonnenen Freiheit zu einem bedeutenden Gelehrten zu entwickeln.

Endlich erblickte ich die Kirchturmspitzen der Stadt. Ich stieg an meinem Quartier ab und wurde nach meinem einsamen Zimmer geführt, um dort den Abend nach meinem Gutdünken zu verbringen. Am nächsten Morgen machte ich den hervorragendsten Professoren Besuch und gab meine Empfehlungsbriefe ab.

Angeregt durch die „genialen, klaren Werke moderner Forscher“ konzentrierte er sich von Anfang an auf die Fächer Naturphilosophie und Chemie. Doch er ließ es nicht bei theoretischen Studien bewenden, sondern begann zu experimentieren, schlich nachts auf den Ingolstädter Friedhof, der damals die Moritzkirche umgab, grub Leichen aus, schleppte sie sein Laboratorium, das sich auf dem Dachborden seiner Wohnung in einer der Gassen des einstigen Univiertels befand.

Es ist unmöglich die Gefühle zu schildern, die mich wie ein Sturmwind durchbrausten. Leben und Tod erschienen mir zwei Schranken, die ich durchbrechen und einen Strom von Licht über die finstere Welt gießen durfte. Eine neue Art von Menschenwesen würden mich als ihren Schöpfer preisen und manches Gute und Edle sollte seinen Ursprung mir zu verdanken haben. Kein Vater sollte der Dankbarkeit seiner Kinder so wert sein wie ich. Damals kam ich auf die Idee, die ich allerdings dann später als durchaus undurchführbar erkannte, dass es mir, der ich imstande war, leblose Materie lebend zu machen, möglich sein müsste, auch da wieder Leben zu erzeugen, wo der Tod bereits zerstörend eingegriffen hatte.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt