Regina Ullmann – Behinderung als das Hilfreiche und Wesentliche

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Regina Ullmann im Gespräch mit Abt Hubert Lang OSB, Bayerische Akademie der Schönen Künste Jahressitzung, 7. Juni 1955 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)

Mein Leben, insoweit es die Kindheit betrifft, besteht aus lauter Zuschauen. Ja heute noch erlebe ich mehr mit den Augen als mit den Ohren. Die Zunge aber mußte tausend Nöte erleben, ehe es so weit war, daß ich von ihr den üblichen Gebrauch machen konnte: ich stotterte. Ich wurde rotblau, bis ich ein Wort herausbrachte. Und wenn es auch kein organisches Leiden war, die Nöte, die es mit sich brachte, waren die gleichen und blieben, bis eine Lehrerin, die Ähnliches durchgemacht, mir riet, nicht schneller sein zu wollen, als ich in Wirklichkeit sei. Diese Lebensregel, die sich als hilfreich erwies, machte mir tiefen Eindruck und bestimmte später manches in meinen dichterischen Anlagen. So lernte ich mich bescheiden und das, was die Menschen als behindernd und erschwerend bezeichnen, als das Hilfreiche und Wesentliche zu erkennen. (Regina Ullmann über sich selbst, S. 409)

Die Schriftstellerin Regina Ullmann entwickelte sich im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Helene recht langsam. Sie hatte Schreib- und Redehemmungen, schielte, war hochgradig sensibel und verschlossen, aber auch vergesslich. Von einer konstitutiven Langsamkeit spricht ihre langjährige Freundin und Biografin Ellen Delp. Elementaren Gesetzen ausgesetzt, war Regina Ullmann gleichwohl beseelt und kreativ: „Aber als ich des Redens endlich mächtig war [...], da bediente ich mich lieber des mündlichen Erzählens.“ Abwesend und beinahe autistisch versunken, konnte sie plötzlich auftauchen und ihre Zuhörer mit einem flüssigen Vortrag beeindrucken. In der Erzählung Der goldene Griffel, in der ein Kind erst durch das Versprechen einer Belohnung zu einer fehlerfreien Arbeit gelangt, hat Regina Ullmann ihre eigene Gehemmtheit literarisch festgehalten.  

Bezahlen musste sie ihr „nervöses Behindertsein des Sprechens“, ihren Zustand des „visionären Diktats“ mit einer „geradezu unheimlichen inneren Öde“, so Delp. Das hat sie, wie Christa Bürger meint, nicht nur mit den Erfahrungen der Beginen und Mystikerinnen des frühen Mittelalters gemeinsam, sondern auch mit ihrer geistigen Nachfahrin Ingeborg Bachmann, die die Worte ebenfalls auffordern möchte, zur Wahrheit zu kommen: „Was ich jetzt will, das weiß ich wohl: das Allereinfachste und Wahrste und darum auch ohne Weiteres Verständliche.“

Verständlich sind Regina Ullmanns Worte nicht immer, sie kommen spröde und undeutlich daher, entlassen aber den Leser stets mit einer erfüllten Leidenschaft für die Dinge. „Und dabei ist der Gegenstand oft so gering, dass man ihn für stumm und einfältig halten möchte: Sie schneiden ihm einen Mund ein, und er redet das Große“, so ihr Schriftstellerfreund und Förderer Rainer Maria Rilke. In der Suche nach dem Wirklichmachen der einfachen Dinge steht sie Rilke nicht von ungefähr sehr nahe.

Zeitlebens hat Regina Ullmann durch Schweres – Krankheit, Geburt, Armut, finanzielle Abhängigkeit etc. – gehen und kämpfen müssen. Obwohl sie nicht immer zu begreifen schien, woher der Mangel herrührte, verstand sie es dennoch diesen produktiv umzumünzen. In seinem Nachwort von 1961 schreibt der Autor und Lektor Curt Hohoff:

U[llmann]. war keine „Schriftstellerin“. Sie verstand sich nicht auf handwerkliche Kunststücke oder gar die Berechnung der Wirkung auf das Gemüt des Lesers. In ihren Geschichten herrscht vollkommene Stille. Die Ursituation ist der Weg; in allen Geschichten wird von Gehenden und Wandernden erzählt. Die staubige altmodische Landstraße des vortechnischen Zeitalters bezauberte eine Dichterin, die von sich sagen konnte, „ich bin den Umweg gegangen“.

Verfasst von: Dr. Peter Czoik / Bayerische Staatsbibliothek

Sekundärliteratur:

Regina Ullmann: Regina Ullmann über sich selbst. In: Dies.: Erzählungen, Prosastücke, Gedichte. Zusgest. von Regina Ullmann und Ellen Delp. Neu hg. v. Friedhelm Kemp. Bd. 2. Kösel-Verlag, München 1978, S. 407-411.

Bürger, Christa (2011): „Ich aber bin die Einsamkeit und lieb' mich selber“. Zum 50. Todestag der Dichterin Regina Ullmann. Deutschlandfunk, Reihe Essay und Diskurs, 6. November. URL: http://www.deutschlandfunk.de/ich-aber-bin-die-einsamkeit-und-lieb-mich-selber.1184.de.html?dram:article_id=185472, (05.01.2016).

Kargl, Kristina (2007): „Und nach und nach versiegte die Mondnacht in mir“. In: Literatur in Bayern 22 Jg., Nr. 87, S. 2-16.