Blindheit I: Erich Kästner – Zwei Gedichte: „Monolog des Blinden“

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Anita Rée (1885-1933): Blinder, zweite Version (zw. 1922 und 1925)

Das Gedicht Monolog des Blinden, Kästners zweiter lyrischer Text, der sich mit einer Figur mit Sehbehinderung befasst, erschien 1929 in der Sammlung Lärm im Spiegel. Anders als in Der Blinde, in dem es auch eine Außenperspektive gibt, wird die Erfahrung hier als innerer Monolog, in der begrenzten Perspektive eines Betroffenen wiedergegeben.

Monolog des Blinden

Alle, die vorübergehn,
gehn vorbei.
Sieht mich, weil ich blind bin, keiner stehn?
Und ich steh seit Drei …

Jetzt beginnt es noch zu regnen!
Wenn es regnet, ist der Mensch nicht gut.
Wer mir dann begegnet, tut
so, als würde er mir nicht begegnen.

Ohne Augen steh ich in der Stadt.
Und sie dröhnt, als stünde ich am Meer.
Abends lauf ich hinter einem Hunde her,
der mich an der Leine hat.

Meine Augen hatten im August
ihren zwölften Sterbetag.
Warum traf der Splitter nicht die Brust
und das Herz, das nicht mehr mag?

Ach, kein Mensch malt handgemalte
Ansichtskarten, denn ich hab kein Glück.
Einen Groschen, Stück für Stück!
Wo ich selber sieben Pfenning zahlte.

Früher sah ich alles so wie Sie:
Sonne, Blumen, Frau und Stadt.
Und wie meine Mutter ausgesehen hat,
Das vergeß ich nie.

Krieg macht blind. Das sehe ich an mir.
Und es regnet. Und es geht der Wind.
Ist denn keine fremde Mutter hier,
die an ihre eignen Söhne denkt?
Und kein Kind,
dem die Mutter etwas für mich schenkt? (S. 141)

Die Situation, die in den Gedichten geschildert wird, ist in beiden Fällen beinahe dieselbe: Leute passieren den jeweiligen Blinden, ohne ihn zu sehen. Als Leitmotiv der Texte fungiert nicht die Behinderung des Blinden, sondern die Gleichgültigkeit der Passanten.

Durch seine Behinderung ist der Blinde in beiden Fällen von der Umwelt abgegrenzt. Ihm fehlt die Möglichkeit, zu sehen, was ihn umgibt. Die Menschen, die ihn umgeben, verfügen über die Fähigkeit zu sehen, aber sie nehmen ihn nicht war. Der Ausschluss des Behinderten wird durch die kalte Blindheit seiner Umwelt also noch potenziert. Erich Kästner schildert damit so etwas wie „Wahrnehmungsfilter“ für Behinderungen.

Bemerkenswert ist, dass Kästner hierdurch zeigen kann, dass die Figur mit Behinderung im Text „wissender“ ist als die Menschen ohne Behinderung. Obwohl ihnen keine Fähigkeit fehlt, sind sie eingeschränkt in der Wahrnehmung ihrer Umwelt. Sie sehen nicht, weil sie nicht wissen wollen. Um diesen Umstand weiß aber der Blinde.

Die tragische Konsequenz dessen ist, dass dem Blinden das Wissen um seine Behinderung und um das Nicht-Sehen und Nicht-Wissen-Wollen der anderen nichts hilft. Erich Kästners „Blindengedichte“ sind damit eine Warnung an ihre Leser, nicht die Augen zu verschließen.

Verfasst von: Laura Velte / Bayerische Staatsbibliothek

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