Blindheit I: Erich Kästner – Zwei Gedichte: „Der Blinde“
Blindheit oder andere Formen der Sehbehinderung beziehen sich in erster Linie auf das Sehen mit den Augen, auf das Fehlen des Sehvermögens oder zumindest ein Defizit des optischen Sinnes.
Beschäftigt man sich näher mit dem semantischen Feld um das Wort „blind“, eröffnen sich aber zahlreiche weitere, meist negative, Bedeutungsebenen. Ein Blinder ist jemand, der nicht sieht – in vielerlei Hinsicht: Auch „Verblendung“, geistige Blindheit, Unerfahrenheit, Unwissenheit sogar Dummheit können Bedeutungskomponenten des Wortes sein.
Blindheit benennt damit nicht nur ein äußeres, sinnliches Unvermögen, sondern auch eines des Geistes oder Intellekts. Körperliche und geistige Einschränkung können hier sprachlich zusammenfließen, auch weil das Wahrnehmungsdefizit Ursache für unangemessenes Verhalten oder Wissens- und Erfahrungslücken sein kann.
Erich Kästner behandelt das Thema „Blindheit“ in zwei Gedichten: Der Blinde und Monolog des Blinden. Der neusachliche Lyriker nutzt die Texte als Ausdrucksform seiner Zeitkritik. Im Zentrum steht der Ausschluss des Blinden durch die anderen, die Sehenden. Auf mehreren Ebenen wird hier mit den Bedeutungen des Wortes „blind“ gespielt – nicht nur in Bezug auf die Figur, die von der Behinderung betroffen ist.
Kästners Gedicht Der Blinde erschien erstmals am 20. September 1931 in der Neuen Leipziger Zeitung.
Der Blinde
Ohne Hoffnung, ohne Trauer
hält er seinen Kopf gesenkt.
Müde hockt er auf der Mauer.
Müde sitzt er da und denkt:
Wunder werden nicht geschehen.
Alles bleibt so, wie es war.
Wer nichts sieht, bleib ungesehen.
Wer nichts sieht, ist unsichtbar.
Schritte kommen, Schritte gehen.
Was das wohl für Menschen sind?
Warum bleibt denn niemand stehen?
Ich bin blind, und ihr seid blind.
Euer Herz schickt keine Grüße
aus der Seele ins Gesicht.
Hörte ich nicht eure Füße,
dächte ich, es gibt euch nicht.
Tretet näher! Laßt euch nieder,
bis ihr ahnt, was Blindheit ist.
Senkt den Kopf, und senkt die Lider,
bis ihr, was euch fremd war, wißt.
Und nun geht! Ihr habt ja Eile!
Tut, als wäre nichts geschehn.
Aber merkt euch diese Zeile:
Wer nichts sieht, wird nicht gesehn. (S. 299)
Das Gedicht handelt von Sehen und Nicht-Sehen, von Wissen und Nicht-Wissen. Irritierend mag erscheinen, dass es gerade der Blinde ist, der nicht sieht, aber weiß, wohingegen die Sehenden weder sehen noch wissen.
Sekundärliteratur:
Erich Kästner: Gedichte. In: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1959.
Baumeister, Pilar (1991): Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert. Peter Lang, Frankfurt am Main u.a.
Weitere Kapitel:
Blindheit oder andere Formen der Sehbehinderung beziehen sich in erster Linie auf das Sehen mit den Augen, auf das Fehlen des Sehvermögens oder zumindest ein Defizit des optischen Sinnes.
Beschäftigt man sich näher mit dem semantischen Feld um das Wort „blind“, eröffnen sich aber zahlreiche weitere, meist negative, Bedeutungsebenen. Ein Blinder ist jemand, der nicht sieht – in vielerlei Hinsicht: Auch „Verblendung“, geistige Blindheit, Unerfahrenheit, Unwissenheit sogar Dummheit können Bedeutungskomponenten des Wortes sein.
Blindheit benennt damit nicht nur ein äußeres, sinnliches Unvermögen, sondern auch eines des Geistes oder Intellekts. Körperliche und geistige Einschränkung können hier sprachlich zusammenfließen, auch weil das Wahrnehmungsdefizit Ursache für unangemessenes Verhalten oder Wissens- und Erfahrungslücken sein kann.
Erich Kästner behandelt das Thema „Blindheit“ in zwei Gedichten: Der Blinde und Monolog des Blinden. Der neusachliche Lyriker nutzt die Texte als Ausdrucksform seiner Zeitkritik. Im Zentrum steht der Ausschluss des Blinden durch die anderen, die Sehenden. Auf mehreren Ebenen wird hier mit den Bedeutungen des Wortes „blind“ gespielt – nicht nur in Bezug auf die Figur, die von der Behinderung betroffen ist.
Kästners Gedicht Der Blinde erschien erstmals am 20. September 1931 in der Neuen Leipziger Zeitung.
Der Blinde
Ohne Hoffnung, ohne Trauer
hält er seinen Kopf gesenkt.
Müde hockt er auf der Mauer.
Müde sitzt er da und denkt:
Wunder werden nicht geschehen.
Alles bleibt so, wie es war.
Wer nichts sieht, bleib ungesehen.
Wer nichts sieht, ist unsichtbar.
Schritte kommen, Schritte gehen.
Was das wohl für Menschen sind?
Warum bleibt denn niemand stehen?
Ich bin blind, und ihr seid blind.
Euer Herz schickt keine Grüße
aus der Seele ins Gesicht.
Hörte ich nicht eure Füße,
dächte ich, es gibt euch nicht.
Tretet näher! Laßt euch nieder,
bis ihr ahnt, was Blindheit ist.
Senkt den Kopf, und senkt die Lider,
bis ihr, was euch fremd war, wißt.
Und nun geht! Ihr habt ja Eile!
Tut, als wäre nichts geschehn.
Aber merkt euch diese Zeile:
Wer nichts sieht, wird nicht gesehn. (S. 299)
Das Gedicht handelt von Sehen und Nicht-Sehen, von Wissen und Nicht-Wissen. Irritierend mag erscheinen, dass es gerade der Blinde ist, der nicht sieht, aber weiß, wohingegen die Sehenden weder sehen noch wissen.
Erich Kästner: Gedichte. In: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1959.
Baumeister, Pilar (1991): Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert. Peter Lang, Frankfurt am Main u.a.