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15.02.2015, 10:12 Uhr
Marek Šindelka
Text & Debatte
Im Juli 2014 trafen sich drei tschechische und drei deutsche AutorInnen in Sulzbach-Rosenberg, um für beide Seiten wichtige Gedächtnis-Orte in der Oberpfalz kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Ihre Texte erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Sulzbach-Rosenberg/OPf.-Austausch]: Aufzeichnungen aus dem Grenzland

Vaterland

Ich sehe all die Grenzen, die der Mensch auf die Erdoberfläche gezeichnet hat. Eine merkwürdige Sache. Als hätte die menschliche Denkart sich der Landschaft aufgeprägt. Grenzen sind ein Grundelement menschlichen Denkens. Genau wie die Vorstellung von einem Feind. Von jenen anderen – die nicht sind wie wir, den Fremden. Die Grenze ist ein Gedanke. Nichts als eine immaterielle politische Abstraktion, wegen der sich im Laufe der Geschichte Milliarden von Menschen ermordet haben. Eines der besten Beispiele dafür, wie der Mensch die Welt mit seinen Idealen „bearbeitet“ und welche Macht das Wort haben kann, sobald es sich mit der entsprechenden Energie auflädt. Wie viele Menschen haben sich allein in den letzten Jahrzehnten wegen des Wortes „Vaterland“ gegenseitig erschlagen?

Jemand hat mir eine Geschichte erzählt, von einem Soldaten aus einem fernen, wohl asiatischen Land; die Feinde hatten ihn im Grenzgebiet gefangen genommen und zum Tod verurteilt. Am Tag vor der Hinrichtung bat der Gefangene seine Wächter, noch einmal sein Vaterland sehen zu dürfen. Die Wächter willigten ein und führten ihn in Fesseln zu dem einige Stunden entfernt gelegenen Grenzstrich. Dort irgendwo blieben sie stehen und wiesen mit der Hand: Hier ist dein Vaterland. Der Soldat fiel auf die Knie, berührte den Boden, küsste die Erde und beim Anblick der Hügel und Bäume rundum brach er in Tränen aus. Er nahm Abschied von dem Land, für das er gekämpft hatte und für das er nun sterben sollte. Da lachten die Wächter laut auf, und einer sagte, sie hätten sich geirrt, das hier sei nicht die Grenze, sie liege erst hinter der nächsten Hügelkette und er müsse daher noch ein Stück weiterlaufen. Hinter der nächsten Höhe aber wiederholte sich alles. Beim dritten Mal küsste der Soldat die Erde nicht, er sah auf die Landschaft, die mit einem Mal so überraschend alltäglich erschien, er sah kein Vaterland, keine Heimat, kein Feindgebiet, keine Grenze, die es wert gewesen wäre, dass man jemanden dafür tötet. Die Wächter lachten ihn immer noch aus, spornten ihn an, Abschied zu nehmen von seinem Vaterland, doch der Soldat nahm sie gar nicht mehr wahr. Am nächsten Morgen exekutierten sie ihn im Namen ihres Vaterlandes.

 

Gedanke

Angeblich dauert es sieben Jahre, bis sich die Zellen des menschlichen Körpers erneuern. Bis alle Materie, aus der wir geschaffen sind, sich von ihrer Vergangenheit gereinigt hat. Wie lange reinigt ein Landstrich sich von seiner Vergangenheit? Ich reise durch das böhmische Grenzgebiet. Das Wasser in den Bächen schmeckt nach Eisen, ist rötlich, rostig. Von den Dörfern ist nur noch der Grundriss zu sehen. Steinerne Linien im Boden. Jemand hat alle Häuser dicht über dem Boden abgeschnitten, die Mauerreste mit Moos überzogen. Ich gehe zwischen den grasüberwachsenen Gräbern umher, am Umriss der Kirche entlang, scheu dort vorüber, wo sich einst der Altar befand. Über der Ruine die eingefrorene Detonation von Baumkronengeäst.

Hier entlang führt die Grenze, man muss sie bewachen, mit Türmen bestücken, an ihr entlang das Land umpflügen, glätten, damit darauf die geringste Spur eines jeden sichtbar wäre, der versucht, auf die andere Seite zu kommen. Die Grenze ist ein Gedanke, den man nicht überschreiten darf, an dem entlang Hunde bellen und die scharfe Munition der Maschinengewehre.

 

Kalter Krieg

Schon lange wird hier nicht mehr geschossen, Stacheldraht und Wachtürme sind verschwunden. Ganze Dörfer sind verschwunden. Die Menschen sind fort. Fast scheint es, dass sie nie hier gelebt haben. Als hätte jemand in erloschene Asche geblasen. Die Landschaft denkt dennoch in ihren gewohnten Bahnen. Kann nicht aufhören, sich zu erinnern.

Jemand hat mir erzählt, dass das Wild auch heute noch hinter dem Eisernen Vorhang lebt. Zu Zeiten des Kalten Krieges haben die Rudel der Hirsche und Rehe ihre Trassen gewechselt. Sie mieden den Grenzstreifen wegen der Drahtverhaue und des elektrischen Stroms. Dieses Wissen wanderte von Generation zu Generation und die Tiere auf beiden Seiten richten sich noch immer nach der Barriere zwischen Ost und West. Sie leben noch immer im Krieg.

 

Ausflug

Auf dem Hof des Konzentrationslagers Flossenbürg stehen Grüppchen von Gymnasisten. Schminke, flimmernde Displays, schwarzgefärbte Haare, Kniekehlen. Lange Mädchenbeine in viel zu kurzen Shorts, hie und da Sommersprossen. Ein Junge kickt einen Stein, ein anderer schiebt seine Sonnebrille ins Haar wie ein Stirnband. Die Führerin versucht das schwere Gerät zu überschreien, eine Baggerschaufel schürft über Kies, die Maschinen errichten einen weiteren Teil des Denkmals für die Ermordeten. Weiter hinten, dort, wo die Baracken der Aufseher waren, stehen heute Einfamilienhäuser. Einige Schüler setzen sich in den Schatten, die Mittagssonne ist lohweiß, sie hat den ganzen Himmel und die Fläche des Hofes gebleicht. Winzige Schweißtröpfchen auf der Oberlippe, das Klickern zweier Metallreifen, als ein Arm sich hebt, um Augen zu beschatten. Halbzeit der Exkursion, die Schülern haben ein weiteres Areal vor sich, hinter sich haben sie die Besichtigung der Duschen

 

Vergangenheitsdiagramm

Ich lag auf dem Dach eines Betonbunkers irgendwo auf dem Kamm des Riesengebirges zwischen dem Hochwiesenberg (Luční hora) und dem Brunnberg (Studniční hora). Wolkenfetzen jagten über den Himmel, unter den Schulterblättern der Beton wärmte, Latschenkiefernduft rundum. All diese Bunker haben etwas Sonderbares. Eine nie genutzte Verteidigungslinie, eine in Beton gegossene Erinnerung an Beneš.

Die Bunker ragen aus der böhmischen Landshaft wie kariöse Zähne. Die meisten von ihnen hat der Wald schon verdaut. Sie sind ganz unter Moos verschwunden, unter schiefen Bäumchen, die versuchen, in der Nadelschicht, die sich auf den Dächern angesammelt hat, festzukrallen. Innen der feuchte Hauch der Höhlen, in den sich das blutige Aroma von korrodiertem Eisen mischt. Hier zwischen den Bunkern haben wir als Kinder Krieg gespielt. 

Damals waren wir kleine Buben, die aus Holzknüppeln aufeinander schossen, mit theatralischen Gesten zu Boden stürzten, um sich tot zu stellen. Unbewusst vollzogen wir damit ein Ritual. Dieses Kinderspiel, der von unsichtbaren Schüssen durchnähteWald, das unsichtbare Blut aus unsichtbaren Wunden, der unsichtbare Tod eines unsichtbaren Kampfes – das alles hat diesen Ort Jahre später mit einem Krieg erfüllt, der sich 1939 hier hätte abspielen können, sich aber nicht abgespielt hat. Geblieben ist lediglich eine verwilderte Grenzbefestigung, eine überflüssige Verteidigungslinie, die sich nach Benešs Rücktritt mit Moos und Rost bedeckt hat.

Auf der Grundlage der Dekrete, die nach ebenjenem Mann benannt sind, haben sich die Sudeten nach dem Krieg geleert. Sie sind ein merkwürdiges geographisches Abbild kollektiver Erinnerung. All die Schluchten, Wälder und Ruinen haben sich in ein gewaltiges Diagramm der Vergangenheit verwandelt, inbegriffen das allmähliche Schwinden, die Fehler, der Zerfall und das Erlöschen, wie sie allen Spuren des Gedächtnisses eigen sind.  

Jede Landschaft braucht wohl eine solche Schadstelle – einen Ort, wo sich unterdrückte, abgeschobene Erinnerung sammelt. Jede Landschaft braucht das Unbewusste.

 

Seelenzeit

Einmal habe ich nicht weit von der polnischen Grenze an einer Ruine eine Tafel entdeckt, die in knapper Form berichtete, was mit dem Haus, das hier gestanden hatte, geschehen war. Ein Blitz hatte eingeschlagen, war ins Haus gefahren und hatte eine junge Mutter erschlagen. Sie war auf der Stelle tot; der kleine Knabe, den sie in Armen hielt, blieb jedoch unversehrt. Ohne eine Schramme hatte man ihn aus dem brennenden Haus getragen. Was aus ihm wurde, sagte die Tafel nicht.

Am selben Tag abends erzählte mir jemand, wie man hier in den Grenzwäldern das Holz mit Pferden zur Straße hinabbrachte. Auch ein älterer Mann habe hier gearbeitet, von dem keiner wusste, woher er kam, doch jeder hielt ihn für jenes wunderbar errettete Kind, dessen Mutter der Blitz erschlagen hatte und dessen Vaterhaus in Flammen aufging. Dieser Mann hatte ein alte Stute, mager und knochig wie er selbst. Er kümmerte sich um sie und hatte sie offensichtlich auch gern. Sonst hatte er niemanden. Vielleicht auch deshalb brach manchmal aus ihm, als würde sich sein Inneres nach außen kehren, ein maßloser Zorn hervor, ein furchterregender unlogischer Neid, und dann war er zu dem Tier unglaublich grausam. Und die Leute sagten sich, irgendwie gäbe es da einen Zusammenhang mit seiner toten Mutter.

 

Einsamkeit zweimal

Vor dem Einschlafen muss ich an diesen Mann und sein Pferd denken. Ich stellte es mir ungefähr so vor: einmal im Herbst stürzt die Stute in den Morast und haucht langsam ihr Leben aus – Pferde, habe ich gehört, machen das manchmal so. Auf einmal kämpfen sie einfach nicht weiter. Sie geben auf, als wäre ihnen das alles zu viel. Und obwohl sie noch nicht völlig am Rand aller Kräfte sind, überlassen sie sich dem Tod, der erst in ihr Hirn flutet und dann in den Rest ihres gelähmten Körpers. 

Ein Abend, geflutet von schwerem, schlierigen Nebel, der sich aus den Wäldern wälzt. Der ganze Landstrich schwimmt in diesem klebrigem Dunst, der sich nicht atmen lässt, der irgendwo tief im Wald entsteht, an Orten, die weit hinter den Linien der Lichtungen und der Äcker liegen. Allgegenwärtig der Geruch nassen Erdreichs, nasser Rückenfelle der Tiere im Wald. Der Weg eine Schlammspur. In dem tiefen sumpfigen Graben, den Hunderte Fichtenstämme in den Lehm geschabt haben, steht trübes Wasser. Im trübem Wasser das Pferd, die knochige Stute, über der Stute der Mann.

Zunächst versucht er sie im Guten zu bitten. Er wärmt sie mit dem eigenen Körper, massiert die unter der Haut sich spannenden Muskeln, er streichelt sie, er flüstert ihr etwas zu. Und dann aufeinmal zerbricht in ihm alles, er greift eine Gerte, schlägt auf die Stute ein, prügelt sie wie verrückt, peitscht ihr über den Kopf, über die Ohren, die geschlossenen Augen. Das Pferd brüllt vor Entsetzen, weicht mit dem Kopf zur Seite. Der Mann kann sich nicht mehr beherrschen, als sänke er mit jedem weiteren Schlag in ein Delirium, als könnte er mit dieser Gerte an den Tod selbst rühren, der sich im Körper des Pferdes niedergelassen hat.

Der Mann schreit das Tier an, reißt am Zügel, tritt in den bebenden Pferdemuskel. Rings klatscht der Regen nieder. Die Stute röchelt, gespannt wie ein Saite, durch ihre schlechten Zähne zischt Schaum, Pferdeschweiß verdichtet sich in der Luft. In diesem kalten Regen spürt der Mann, wie aus dem Tier die Wärme arbeitender Muskeln strahlt.

„Jetzt mach schon!“ stößt er hervor und auf diesen Ruf hin spannen sich in den beiden durch die Lederriemen des Zügels verbundenen Leibern die Muskeln. Mann und Pferd verwachsen zu einer einzigen verkrampften Sehne, zu einem einzigen gewaltigen Muskel, der sich aus der Umklammerung des Sumpfes befreien will. Der Mann brüllt, sein Atem fliegt, die Stute rollt mit den Augen, sammelt die letzten Kräfte. Und das Ganze bewegt sich. Der Sumpf platzt gurgelnd auf, die Mulden, in der die Beine des bis zum Bauch eingesunkenen Pferdes stehen, öffnen sich, weiten sich mit hohlem röhrendem Ton, der Sumpf saugt Luft, schmatzt als wäre er etwas Lebendiges. Das Pferd rührt sich, mit einem Schrei treibt der Mann es an, treibt sich selbst, hackt seine Beine in den lehmigen Brei unter sich, die Adern auf seiner geröteten Stirn pochen, laufen violett an, das Blut dröhnt im Kopf: „Noch ein Stück, durchhalten, noch ein kleines Stück, nur nicht nachlassen, nicht aufgeben“, hämmert es im Hirn, in den Schläfen. Und mit jedem Atemstoß prasseln Schimpfwörter. Er zieht das Pferd. Zieht seine elende Kindheit hinter sich, die ganze erlittene Verachtung, die ganze Falschheit, die ganze Trauer und Einsamkeit, seinen alten müden Körper, eine ebensolche Seele, sein ganzes Leben, das hinter ihm liegt. Er zieht es an den Rand des Abgrunds. Wirft es hinab, ins Nichts.

Sie haben die Grenze zum Sumpf überwunden. Ein Pferdebein hat sich aus dem Lehm geschält, auf festerem Grund aufgesetzt, und die Stute kommt frei. Der Mann taumelt. Er lässt die Zügel sinken. Bleibt einen Augenblick stehen, vornübergebeugt, die Hände auf die Schenkel gestützt, er atmet und spürt nichts, nur den kalten Regen, die schweren Tropfen, die ihm ins Scheitelhaar fahren und ihm ein Frösteln über den Rücken jagen

Zur Stute hinüber, die ein Stück abseits steht, geht er mit unwirklicher Leichtigkeit. Als wäre seinem Körper alles Gewicht genommen. Sorgsam tastet er ihre Beine ab, tätschelt das verschnaufende Tier und lehnt sein Stirn kurz in die mächtige Flanke. Er steht mit geschlossenen Augen und betrachtet den farbigen Fleck, der unter seinen geschlossenen Lidern wächst, atmet den vertrauten Geruch des Pferdefells, hört auf das unveränderte Rauschen des Regens. Dann greift er die Zügel, schnalzt zweimal, und die Stute setzt sich hinter ihm in gehorsamen Trott. Durch die aufgeweichte Landschaft ziehen sie los, irgendwohin in die Dämmerung. Irgendwohin über die Grenze der Dunkelheit.

 

Sudeten

wie schon so oft
läuft der Abend über in Dunkel
der Südhang kühlt aus die schwarze
Landschaft rings um dich altert
wie ein aufgeschnittener Apfel
wissbegierige Ameisen
verlängern den Pfad über dein Hosenbein
tragen Blätter, Stöckchen, tote Käfer
ihre eigene Brut,
Reiskörnern gleichend
tragen auch von dir ein Stück fort
die saure Nadel der Ameisenstraße
trennt den Stoff auf
du sitzt und wartest
einige Tage Regen
die Wolken reißen
teilen sich verbinden sich neu
der Himmel erlischt und entfacht sich mit neuem Taglicht
wie schon so oft
wissbegierige Wespen
bauen in deiner Achsel ein Nest
bedacht kleben sie Wabe an Wabe
in sechseckige Kammern
legen sie gläsern pulsierenden Laich
das Nest wächst und juckt
wärmt dich in langen kalten Nächten
und wie ein Lampe
beleuchtet es den verwilderten Garten
und das verfallende Haus
du wartest
das Gras um dich ist gewachsen
du siehst nicht mehr ins Land
denkst also nach über die Form und den Bau der Halme
die Bewegungen des Windes
die kleine Witterung im Innern der Wiese
auf deiner Kehle, den Armen
sprießen glitschige Büschel unbekannter Pilze
und eines Tages sichtest du
Zunder auf deinem Bauch, groß wie ein Teller,
das Haus ist irgendwann eingestürzt
der tragende Balken geborsten
das Dach durchgebrochen
die Ziegelmauern zerbröselt zu Staub
der Zaun um den Garten längt verfault
und spurlos verschwunden
etwas an der Zeit ist kaputtgegangen
als wäre sie gar nicht mehr
dein Herz schlägt einmal am Tag
du atmest seit langem nicht
in deinen Nüstern blüht unnützes Kraut
im Mund hast du ein großes Schwalbennest
aus Lehm und Speichel geleimt
gegen deinen Willen singst du jetzt
mit drei dünnen hungrigen Stimmen
Anflug von den Hügeln geweht
ist rasch zu Viermeterhöhe gewachsen
jetzt wogt um dich neuer Wald
nicht zu erkennen ist
wo das Haus stand
wo die Grenzen des Gartens liefen
auf zerbrechlichen Beinen nähert sich wissbegierieges Wild
äst nächtens auf deinem Leib
trinkt aus dem tiefen Pfuhl deiner Augen
Zeit gibt es nicht
der Wald ist mächtiger geworden und älter
wie schon so soft
beginnen die Tage und enden
und auf einmal gibt es auch dich nicht
und so ist es besser

 

Übersetzt von Kristina Kallert