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„Irpin wartete, und sie kehrten zurück“. Von Margaryta Surzhenko

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Zerstörtes Gebäude in Irpin, Ukraine, im Juni 2022.

1989 in Luhansk geboren, lebte Margaryta Surzhenko seit 2014 in Kyjiw, zurzeit in Leipzig. Nach einem Studium der Politikwissenschaft musste sie 2014 mit Beginn des Krieges im Donbas ihre Heimatstadt verlassen. Sie verfasste zwei Bücher mit Geschichten über Flüchtlinge, die im Krieg alle Besitztümer verlieren, aber trotzdem Freundschaft und Liebe finden (2014: Ato. Geschichten von Ost nach West; 2015: Hobe. Geschichten von West nach Ost). 2015 schuf Surzhenko eine Website mit 300 modernen Märchen für Kinder. Außerdem verfasste sie drei weitere Romane. Im Sommer 2022 war sie writer-in-residence des Literaturhauses Niederösterreich in Krems, im Herbst nahm sie an den Tagungen des Netzwerks Eine Brücke aus Papier in Weimar teil. Zusammen mit 11 weiteren ukrainischen Künstler*innen erhielt sie 2022 ein Sonderstipendium des Freistaats Bayern in Kooperation mit dem Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg.

*

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Stadt lag noch im Dunkeln. An der Ampel wechselte Grün auf Rot und der Fahrer drückte aufs Gas, um zur Bäckerei zu gelangen und Brot zu backen. Der Busfahrer öffnete die Tür an der Haltestelle nur deshalb, um frische Luft herein zu lassen, niemand war an der Haltestelle. Irgendwo sang eine Gruppe verfrorener Studenten ihr letztes Lied, packte die Gitarren ein und machte sich auf den Nachhauseweg. Im Gegensatz zu Menschen schlafen die Städte nie. Weder die Kleinstädte noch die großen Metropolen. Sie müssen, wie ein Herz, ständig den Rhythmus vorgeben und jene schützen, die wach sind. Das Nachtleben macht Städte lebendig und verleiht ihnen besondere Bedeutung. Selbst wenn dieses Nachtleben kaum bemerkt wird. Städte schlafen nie.

Je näher die Sonne dem Horizont kommt, desto geschäftiger wird die Stadt, die nicht eine Sekunde die Augen schloss, um den Bäcker auf der Straße, den Busfahrer bei der Arbeit und die Studenten beim Singen zu schützen. Die Stadt schlief nicht, um alle unter ihre Obhut zu nehmen. Doch einmal hatte es die Stadt versäumt, ihre Einwohner zu beschützen.

Am 24. Februar bebte die Stadt Irpin. Ein gewisser jemand prügelte auf seinen Nachbarn ein, aber Irpin selbst war erschüttert und verängstigt. So jung, so gut aussehend, war Irpin zum ersten Mal verwirrt und wusste weder wie noch was. Plötzlich begannen die, die normalerweise schlafen, aufzuwachen. Fast gleichzeitig öffneten sie ihre Augen und begannen, die Nachrichten und die sozialen Netzwerke zu checken. Jemand machte das Licht an, und jemand lag ohne Licht da und wurde sich bewusst, was passierte. Einige sprangen auf und begannen, ihre Taschen zu packen, während andere sich auf die andere Seite drehten und wieder einschliefen. Irpin hatte verstanden, dass sich sein Leben für immer verändert hat. Irpin spürte es, denn sie fühlte sich machtlos, sie konnte nichts tun, konnte die Nachtruhe ihrer Bewohner nicht mehr schützen, obwohl sie sie so sehr liebte.

Und dann donnerten die Schläge von neuem. Die Stadt sah, die Stadt hörte, die Stadt spürte, wie die Schläge Gebäude zerstörte und tiefe Löcher im Boden hinterließ, die Stadt hatte große Schmerzen, aber sie kümmerte sich nicht um ihren eigenen Schmerz, sondern sorgte sich nur um die Menschen, die in ihr lebten.

„Ich habe ihren Frieden nicht gerettet,“ sagte Irpin zu Leipzig.

Es mag scheinen, dass Städte nur mit Städten in ihrer Nähe sprechen können. Tatsächlich können Städte mit jeder anderen Stadt sprechen, sogar mit denen, die auf einem anderen Kontinent liegen. Sie brauchen keine Stimme, um miteinander zu kommunizieren. Sie sind durch unsichtbare elektromagnetische Fäden verbunden, und auch die Entfernung spielt keine Rolle.

„Es ist nicht deine Schuld,“ antwortete Leipzig.

„Was mache ich jetzt? Wie kann ich sie retten? Ich fühle, dass es hier nicht sicher ist.“

„Ich werde versuchen, dir zu helfen,“ sagte Leipzig.

Man sollte meinen, dass nur die ukrainischen Städte, die von Raketen getroffen worden waren, aufgewacht sind. Doch an diesem Morgen wachte jede deutsche Stadt auf. Durch Berlin zogen Windböen, die die Journalisten aufweckten. Sie verstanden selbst nicht, warum sie früher als sonst aufwachten, bis sie schockierende Nachrichten aus ukrainischen Städten sahen und begannen, Alarm zu schlagen, Artikel zu schreiben, Nachrichtensendungen zu organisieren. Weimar weckte voller Mitgefühl die deutschen Familien, und sie fragten sich, wie sie helfen können, und machten sich dann zur Grenze auf, um die ersten Flüchtlinge zu unterstützen. Auch in Leipzig wurde Alarm geschlagen, Krähen begannen zu krächzen, Wind blies durch die Ritzen, so dass die Ukrainer, die bereits in der Stadt waren, begannen, ihre Verwandten und Freunde in der Ukraine anzurufen.

„Ich nehme so viele Menschen auf, wie ich kann“, sagte Berlin.

„Ich auch,“ sagte München.

„Und ich auch,“ sagte Frankfurt.

„Und ich auch,“ sagte Dresden.

„Ich auch,“ sagte Leipzig.

Die ukrainischen Städte hörten Tausende europäische „ich auch“.

„Ich werde sie mit meiner Stille beruhigen,“ sagte Weimar. „Ich werde ihnen Schönheit schenken. Ich werde ihre Aufregung in meinen Parks zerstreuen. Ich werde versuchen, die schweren Winterwolken zu vertreiben, und die Sonne für sie scheinen zu lassen.“

„Ich werde sie mit meiner Straßenbahn in die buntesten Ecken bringen,“ sagte Leipzig. Ich werde ihnen meine schöne Architektur vorführen, die Gemälde meiner Museen zeigen und sie mit meinen Bewohnern anfreunden. Und meine Bewohner sind sehr gebildet und belesen, sie kümmern sich um die Umwelt, gehen zu Wahlen und Kundgebungen, zeichnen und schreiben Gedichte.“

„Und ich werde ihnen hunderte von Möglichkeiten eröffnen,“ sagte Berlin. Ich bin so groß, dass jeder einen Job finden wird, ob Architekt oder Sänger, ob Kellner oder Bauarbeiter, ob Künstler oder Lehrer. Sie werden in ihre Berufe eintauchen und diese Welt ein bisschen besser machen.“

„Ich werde sie mit Gerichten aus der ganzen Welt füttern“ sagte München. Sie werden deutsche Würste, ukrainischen Borschtsch, italienische Pizza und französische Schnecken genießen. Und mein Bier wird jeden Ukrainer ein bisschen bayrischer machen.“

Und während deutsche Städte Flüchtlinge gastfreundlich aufnahmen, versuchten ukrainische Städte, ihre Menschen zu schützen. Irpin versuchte ihr Bestes, um Granaten und Kugeln so umzulenken, dass seine schönen Bewohner nicht getroffen wurden. Sie brachte vereinsamte Menschen mit anderen zusammen, wies den richtigen Weg, hielt Autos an, damit sie nicht von Kugeln getroffen wurden. Irpin weinte oft, denn vor ihren Augen starben Kinder und Erwachsene, Hunde und Katzen, Papageien und Hamster einer nach dem anderen, Hochhäuser und Einfamilienhäuser wurden zerstört, Schulen und Kirchen wurden durchlöchert und unbrauchbar. Der Tod fühlte sich in Irpin wie zu Hause. Das Böse verdrängte immer mehr das Gute. Die Stadt musste das Blut seiner Bewohner saufen, so viel schlucken, dass sie fast daran erstickt wäre, sie musste am eigenen Leib erfahren, dass viel zu junge, unschuldige und wunderbare Menschen in ihrer Erde verscharrt wurden. Sie hätten weiterleben sollen. Irpin war übervoll mit Schmerz.

Plötzlich versiegten Irpins Tränen, als sie ein sechsjähriges Mädchen im Park sah. Es berührte einen Baum und bat um Vergebung.

„Verzeih Irpin, dass unsere Familie dich verlassen muss. Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte.“

Irpin war verwirrt. Sie verstand nicht, warum sich das Mädchen entschuldigte. Sie selbst sollte sich entschuldigen, denn sie war der Grund dafür, dass das Mädchen und die Familie gehen mussten.

„Wir wollten dich beschützen, aber wir müssen fort.“

Tränen liefen über das Gesicht des Mädchens. Sie wollte ihre geliebte Stadt nicht verlassen. Zum ersten Mal wurde Irpin klar, dass es seine Bewohnerinnen und Bewohner so sehr liebte und beschützen wollte, wie diese es liebten und beschützen wollten. Es stellte sich heraus, dass nicht nur Irpin für jeden Menschen leidet, sondern auch die Menschen für jede Bombe, die auf den Boden der Stadt fiel. Sie fühlten ihre Wunden wie ihre eigenen.

Das Mädchen berührte sanft die Rinde der Bäume. Irpin spürte ihre Sanftheit und Wärme. Es war so wohltuend, dass ihr das Mädchen Aufmerksamkeit schenkte. Für eine Sekunde vergaß sie alles andere auf der Welt. Doch plötzlich machte sie sich Sorgen um das Mädchen. Sie musste fort, rennen, so weit wie möglich wegrennen. Es gab keine Brücken mehr, die böse Macht rückte immer näher. Meter für Meter. Panzer fuhren vor, Stiefel von ungebetenen Gästen marschierten heran, gestohlene Autos preschten herbei. Die Macht des Bösen zerstörte auf seinem Weg alles, vernichtete, verletzte, brachte Schmerz.

„Rette dich!“ rief Irpin. Aber das Mädchen hörte nicht. Sie fuhr fort, die Rinde zu streicheln und sich zu entschuldigen.

„Rette dich!“ rief sie, aber das kleine Mädchen blieb, wo es war. Irpin ließ Krähen auffliegen und laut krächzten, und der Wind frischte auf, doch das Mädchen war wie erstarrt. Sie weinte und umarmte den Baum, entschuldigte sich immer wieder.

„Rette dich!!!“ rief Irpin noch einmal. Und das Mädchen hob den Kopf zum Himmel, als ob sie spürte, was Irpin ohne Worte ihrer Seele zurief.

Sie rannte zu ihren Eltern, die ihre Sachen bereits ins Auto geladen hatten und zur zerstörten Brücke wollten, um dort das Auto am Ufer abzustellen und den Fluss zu Fuß zu überqueren – einfach nur entkommen!

„Wir kommen wieder!“, rief das Mädchen aus dem Auto und verließ Irpin.

„Ich werde warten!“, sagte Irpin.

Und sie wartete. Jeden Tag. Sie war fast vollständig von Fremden besetzt. Diese hatten keine Ahnung was Zärtlichkeit und Liebe ist. Irpin erinnerte sich oft an die zarten Berührungen des kleinen Mädchens, ihre Finger und ihre Stimme, ihre Tränen, ihre Pläne für sie und das Land. Jetzt gab es keine Zärtlichkeit mehr. Nur Rauheit, Aggressivität, Gewalt und Grausamkeit. Mehr Blut, mehr zerstörte Häuser, mehr Brände, einsame, verlassene Hunde und Katzen, manchmal verzweifelte Freiwillige, die mit ihren Autos vorbeikamen, um Behinderte und Rentner zu versorgen. Irpin erduldete es, Irpin wartete.

Und das sechsjährige Mädchen kam nach Leipzig. Leipzig beruhigte sie, wie versprochen, mit schönen Parks, schöner Natur, einem Zoo mit vielen Tieren, freundlichen Kindern auf dem Spielplatz. Aber jeden Abend packte das Mädchen ihr Heft aus und zeichnete Irpin. Schließlich lebte diese Stadt in ihrem Herzen.

„Wir kommen wieder!“ sagte sie jeden Tag zu ihrer geliebten Stadt und küsste ihre Zeichnungen.

Man weiß nicht, ob sie es wusste oder nicht, dass Irpin alles fühlte. Und das gab ihr den Mut zu warten. Sie wusste, dass das Mädchen und Tausende andere wieder zurückkehren würden. Sie würden sie nicht im Stich lassen. Sie würden Häuser und Kinos mit ihrer Wärme füllen. Ebenso das georgische Restaurant und die japanische Sushi-Bar. Sie werden an der Uferpromenade und im Zentral-Park spazieren gehen. Sie werden auf Schaukeln emporschwingen und bei Schnee auf dem Platz Schneemänner bauen. Irpin wartete. Und wartete. Und sie kehrten zurück. Und Irpin spürte wieder Zärtlichkeit und Liebe.

 

(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)