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25.01.2013, 12:42 Uhr
Norbert Niemann
Text & Debatte
Im Juli 2012 trafen sich vier tschechische und vier deutsche AutorInnen in Lidice, um den Gedächtnis-Ort kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Die Essays erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Lidice-Austausch]: Versuch einer Annäherung

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Es könnte der Blick auf eine idyllische Landschaft, einen ausgedehnten Park sein. Das Gelände liegt in einer Senke zwischen sanften Hügeln. In den frisch gemähten Wiesen stehen vereinzelt Bäume, Baumgruppen. Ein Weg schlängelt sich den Hang hinunter zu einem Steg über einen Bachlauf, führt auf der anderen Seite wieder aufwärts. An dieser und jener Stelle sind Reste von Grundmauern zwischen dem Gras zu erkennen. Ein schlichtes Holzkreuz, um dessen Mitte sich ein Kreis schlingt, steht auf einem von Buchsbaum und Koniferen umsäumten Areal. Rosen blühen dort. Rechts mündet der Bach in einen kleinen See. Auf der Anhöhe drüben sammelt ein Traktor Heu ein. Ein Hund läuft über das weitläufige Grün, vorbei an den zweiundachtzig Kindern aus Bronze.

Ich weiß, dies ist kein Park, keine Idylle. Wir stehen auf einem gepflasterten Platz oberhalb der Senke. Links von uns befindet sich das Museum. In wenigen Minuten werden wir uns die historische Dokumentation eines der großen Verbrechen Nazideutschlands ansehen. Lidice ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen längst nicht so verankert wie der Holocaust oder die Bombardierung Guernicas im Spanischen Bürgerkrieg durch die Legion Condor. Doch ich habe mich vorbereitet, eingelesen, so dass in mir bereits eine Vorstellung davon existiert, was mich im Museum erwartet. Vorher jedoch möchte ich diesen Blick haben. Den konkreten Ort sehen, an dem das Verbrechen geschehen ist. Ich kann nicht genau sagen, was ich mir davon erhoffe, vielleicht dass irgendetwas von der Geschichte dieses Orts an ihm selbst sichtbar geblieben ist, jenseits von dem, was Menschen unternommen haben und unternehmen, um sie dem Vergessen zu entreißen. Aber ich finde nichts.

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Am 27. Mai 1942 verübten Widerstandskämpfer einen Bombenanschlag auf Reinhard Heydrich, den „stellvertretenden „Reichsprotektor für Böhmen und Mähren“ und zweitmächtigsten Mann der SS nach Heinrich Himmler, dessen Folgen er kurz darauf erlag. Fallschirmspringer der tschechoslowakischen Exilarmee, aus England eingeflogen, waren dafür verantwortlich. Die NS-Führung konstruierte einen Zusammenhang zwischen den Attentätern und dem Dorf Lidice, um es am 9. und 10. Juni 1942 in einem beispiellosen Racheakt dem Erdboden gleichzumachen. Hundertzweiundsiebzig Männer über fünfzehn Jahre wurden sofort erschossen, die Frauen in Konzentrationslager gesteckt. Sieben noch nicht Einjährige brachte man in einem Prager Kinderheim unter. Von den nach Chelmno/ Kulmhof bei Lodz transportierten Kindern stufte man sieben als „germanisierbar“ ein und führte sie deutschen Pflegeeltern zu. Die anderen zweiundachtzig wurden in Vergasungswägen mit Kohlenmonoxid ermordet. Wenige Tage später zerstörte man auch das Dorf Ležaky und tötete seine siebenundvierzig Bewohner.

Im Museum sind Dokumente über die Vernichtung Lidices und seiner Menschen versammelt: Archivmaterial, Fotos des Dorfs vor seiner Auslöschung, die Gesichter und Namen der getöteten Menschen, Postkarten der ermordeten Kinder, auf Tonband von Kindern eingesprochen, einige wenige erhaltene Gegenstände; dazu NS-Wochenschauaufnahmen über die pompöse Aufbahrungszeremonie von Heydrichs Leiche im Hradschin, begleitet von Richard Wagner-Klängen.

Die Ungeheuerlichkeit des Vernichtungswillens der Nazis entzieht sich jedem Begreifen. Ich weiß das, bin darauf vorbereitet, aber hier im Museum überwältigt sie mich wieder. Neben der Willkürlichkeit dieses Massenmords dokumentiert sie sich auch darin, dass man, nachdem der Ort in Brand gesteckt worden war, Truppen des Arbeitsdienstes anrücken ließ, um noch dessen Überreste restlos einzuebnen. Nichts sollte übrigbleiben vom Dorf Lidice. Nicht einmal der Friedhof, dessen Grabplatten herausgebrochen, andernorts zum Kasernenbau verwendet wurden. Selbst die ursprüngliche Topographie wurde ausgemerzt, sogar der Bach sollte nicht mehr fließen, wo er immer geflossen war. Karl Hermann Frank, NS-Staatssekretär des Protektorats, anwesend bei den Erschießungen, sagte später vor Gericht, er habe den Wunsch gehabt, dass Getreide wachsen solle, wo Lidice stand.

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Wir begehen das Gelände. Es wächst kein Getreide dort, es wächst Gras. Der Grundriss der Kirche ist zu sehen, Restmauern des Hofs der Familie Horák, in dem die Exekutionen stattfanden. Sie sind teilweise rekonstruiert. Der Kreis, der sich um das Gedächtniskreuz schlingt, besteht aus Stacheldraht. Es ist an dem Ort aufgestellt, wo sich das Massengrab befindet, aber auch das ist keineswegs sicher.

Massengrabdenkmal von Lidice, im Zentrum das Gedächtniskreuz mit dem Kreis aus Stacheldraht

Das Stück Landschaft, durch das wir uns bewegen, ist selbst ein Werk der Nazis. Über die Vernichtung hinaus haben sie auch die Leere, den menschlichen Abgrund, den sie aufgerissen haben, noch nach ihrem Gutdünken gestaltet. Über dieser Leere, diesem bewusst gewollten, von Massenmördern gestalteten, blinden Fleck, ist die Gedenkstätte Lidice errichtet, um an eine Ausradierung zu erinnern, die so gründlich deutsch war, dass sie ohne die Anstrengungen erinnernder Aufarbeitung noch nicht einmal als solche erkennbar wäre.

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Unter anderem hier dürften die enormen Schwierigkeiten beim Gedenken an terroristische Gräueltaten generell zu suchen sein, unter anderem das scheint zum Programm solcher Taten zu gehören. Die Rechnung des Terrors geht auf, denke ich, während wir weiter das Gelände des ehemaligen Dorfes Lidice abschreiten, wenn ihm die Vernichtung total und irreversibel gelingt. Terror begnügt sich nicht mit Mord. Er möchte ein Loch in die Wirklichkeit reißen, das sich nicht wieder schließen lässt. Jeder Versuch, dieses Loch zu stopfen, kann nur behelfsmäßig sein. Bis zu einem gewissen Grad triumphiert der Terrorakt noch in der Vergeblichkeit dieses Versuchs. Er diktiert ein Bemühen, das von vornherein nicht gelingen kann.

Eine Stelle aus dem Roman Mao II des US-amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo fällt mir ein, ich denke oft an sie. „Was die Terroristen gewinnen, verlieren die Schriftsteller. Was sie an Einfluss hinzugewinnen, verlieren wir als Gestalter von Sensibilität und Gedanken“, sagt dort ein Schriftsteller im Interview. Terror macht sprachlos.

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Oder er erzeugt ein Sprechen, das ständig Gefahr läuft, von anderen Herrschaftsansprüchen instrumentalisiert zu werden. Denn andererseits kann, will, darf man natürlich nicht schweigen angesichts eines derart sprachlos machenden Grauens, wie es in Lidice geschehen ist. Natürlich muss es benannt, angeklagt, verurteilt werden. Verlangt es nach Trauerarbeit. „Der eine Mensch ist für den anderen sein Gewissen: und dies ist namentlich wichtig, wenn der andre sonst keins hat“, schrieb Friedrich Nietzsche. Aber gerade das macht dieses Sprechen wiederum anfällig für mehr oder minder bewusste Verfälschungen. Auch für Missbrauch.

Die Meldung von der Zerstörung Lidices im Juni 1942 ging sofort um die Welt, löste allenthalben Solidaritätsbezeugungen aus. Ein Dorf in den USA, Städte in verschiedenen Ländern Südamerikas wurden in Lidice umbenannt, als wollte man die Auslöschung des realen Dorfes symbolisch gleichsam zurücknehmen. Im Handumdrehen jedoch wurde der weltweite Aufschrei gegen die menschenverachtende Bestialität des Naziterrors von den kriegführenden Mächten für die eigene Propaganda genutzt. Ein britisches Plakat, veröffentlicht vom „Czechoslovak British Friendship Club“, zeigt links unten den brennenden roten Schriftzug „Lidice“. Über und hinter ihm herrscht schwarze Leere, die von einem ebenfalls roten Gewehrkolben und einer roten Faust abgeschnitten wird. Gewehr und Faust bilden die Diagonale, die das Bild in zwei etwa gleich große Flächen teilt. Auf der rechten und oberen Hälfte sieht man blauen Himmel, Wolken und ein im Sonnenlicht strahlendes Dorf mit Kirche. In weißen Lettern ist neben dem brennenden „Lidice“ zu lesen: „shall live!“ Das Massaker ist zum Kriegsappell geworden.

Gegen Ende unserer Begehung des einstigen Dorfgeländes frage ich Lucie Černohousová, die Leiterin des Prager Literaturhaus, welche Rolle Lidice in der tschechischen Öffentlichkeit spielt. Sie erzählt, dass hier während des Kommunismus Großveranstaltungen der Partei stattfanden, auf denen der Ort als Mahnmal gegen den westlichen imperialistischen Aggressor diente. Sie erinnerte sich, dass Lidice damals in erster Linie als Bestandteil kommunistischer Propaganda und Selbstinszenierung wahrgenommen wurde, weshalb die Gedenkstätte nach dem Ende des Sozialismus auch in einen vernachlässigten Zustand geriet. Erst in letzter Zeit sei sie im Zuge der Bemühungen, ihre vormalige ideologische Vereinnahmung abzustreifen, wiederhergestellt worden.

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Dazu gehört auch die historische Neubewertung des Geschehens. Für einen antifaschistischen Heroismus im Dienst der sozialistischen Sache ist darin heute kein Raum mehr, denn für die Rache der Nazis am Attentat auf Heydrich gab das Dorf Lidice keinerlei politisch motivierten Anlass. Die Wahl fiel zufällig auf diesen Ort. Auch dies gehört offenkundig zum Wesen des Terrors, dass er unberechenbar ist, seine Opfer absolut beliebig sind. Auch daraus bezieht er seinen Schrecken, erzeugt er diese Aura von Gewalt, die nicht zuletzt durch ihre weltweite Verbreitung als Nachricht über den bestialischen Vernichtungsakt selbst noch hinauswirkt.

Um die Demontage einer kommunistischen Lesart ist es auch dem Historiker Eduard Stehlik, Vizedirektor des Prager Instituts für Militärgeschichte, in seinem auf gründlicher Forschung fußenden Vortrag zu tun, den wir am Nachmittag hören. Ein wenig allerdings irritiert mich der breite Raum, den er späteren Verstrickungen von Kommunisten und ehemaligen Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg darin einräumt. Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Bei der Vernichtung Lidices spielen diese Verstrickungen jedenfalls keine Rolle. So kann der Eindruck entstehen, als dienten die Hinweise darauf eher dem Zweck einer ideologischen Abgrenzung, verlängerten bis zu einem gewissen Grad selbst wieder die Kette einer Instrumentalisierung der Ereignisse. Als sollte damit ein ähnlich absoluter Wahrheitsanspruch unterstrichen werden gegen eine Weltanschauung, der unter anderen genau dieser Absolutheitsanspruch vorzuwerfen ist. Festzustellen, dass die Kommunisten Lidice für ihre politischen Zwecke vereinnahmt haben, ist das eine, überlege ich im Vortragssaal der Lidicer Galerie. Im selben Kontext auf Fälle kommunistischer Zusammenarbeit mit ehemaligen Nationalsozialisten zu verweisen, rückt die Darstellung der Zusammenhänge zwar nicht in ein grundsätzlich falsches Licht, schafft jedoch eine Atmosphäre des Ressentiments, die mir nicht angemessen erscheint.

Was aber heißt das überhaupt: angemessen? Mehr und mehr beginnt die Frage in mir zu rumoren, wie man sich überhaupt einem zeitgeschichtlich so sehr belasteten Thema nähern kann. Schließlich ist mir bewusst, dass ich später diesen Essay zu schreiben habe. Skepsis gegenüber der Objektivität jedes historischen Standpunkts stellt sich ein. Geschichte ist keine objektive Wissenschaft. Ihr Blick wird stets mitbestimmt von der eigenen Zeitgenossenschaft. Je weiter ein Geschehen zurückliegt, je öfter es unterschiedlichen, selbst wieder historisch gewordenen Deutungen ausgesetzt gewesen ist, desto mehr wird es zusätzlich überlagert von eben diesen Deutungsschichten. Sie müssen erst abgetragen werden, um dann vielleicht zum Kern der Ereignisse vorstoßen zu können.

Nur wie vermeidet man es, bei diesem Abtragungsprozess nicht nur eine weitere Deutungsschicht über die früheren zu legen? Woher nimmt man die Legimitation für seine Grabung? Vermutlich steht und fällt sie mit der Methode, die man zur Anwendung bringt. Wird nicht sehr viel darauf ankommen, eben diese Methode so transparent wie nur irgend möglich zu machen? Um wenigstens ihre Grenzen und Schwächen kenntlich zu machen, wenn sie schon nicht vollumfänglich zur Rekonstruktion von Wahrheit imstande ist? Käme man so dem nahe, was der Begriff „angemessen“ sagen will?

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Und was genau ist das, was es zeigen, zu benennen gilt? Am Nachmittag treffen wir Marie Šupíková, die uns als „Zeit-Zeugin“ der Auslöschung Lidices angekündigt wurde. Frau Šupíková ist eine alte Dame, die als eines der sieben Kinder den Massenmord überlebt hat. Sie schildert, wie sie zusammen mit den anderen Kindern von ihren Müttern getrennt, mit dem Zug in ein Sammellager verbracht wurden, wie ein SS-Mann sie zusammen mit den anderen wenigen Kindern zur Umerziehung zwecks späterer Adoption auswählte, während alle anderen vergast wurden. Sie erzählt uns von der Zeit bei ihren deutschen Pflegeeltern. Davon, wie sie nach dem Krieg ohne Vorbereitung, ohne Abschied nehmen zu können, buchstäblich von einer Minute zur nächsten von ihnen getrennt wurde. Dass sie diese beiden Menschen später nie wieder gesehen, aber immerhin den Ort, die Straße, das Haus wiedergefunden hat, an dem sie damals mit ihnen lebte.

Es ist ein eindringlicher, ein bewegender Bericht, den Frau Šupíková uns gibt. In ihm vermittelt sich etwas von dem unermesslichen Leid des Verbrechens von Lidice, ohne den Umweg über eine Gedenkstätte, über ein Mahnmal. Dass ihre Schilderungen „angemessen“ sind, versteht sich beinahe von selbst. Immer wieder entstehen diese Momente, wo uns, ihren Zuhörern, die unheilbaren Wunden des Naziterrors nachvollziehbar werden. Während ich gebannt ihren Worten folge, tauchen Bilder aus dem Museum wieder auf in meinem Gedächtnis, die alte Schwarzweißaufnahmen von einem gewöhnlichen Dorf mit seinem für jene Zeit gewöhnlichen Alltagsleben. Ich sehe auch das Gelände von Lidice vor mir, aber so, als könnte ich es jetzt gleichsam ein wenig mit den Augen von Frau Šupíková sehen. Für sie ist diese Landschaft nicht leer, spüre ich, sie wird immer erfüllt sein von dem, was da vorher war, von dem Schmerz über das, was dort geschehen ist, ihr für immer genommen wurde. In ihr bleibt es lebendig, solange sie lebt.

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Während ich dies aufschreibe, befallen mich ständig Zweifel über die „Angemessenheit“ meiner eigenen Darstellung, meines Tons. Einerseits weil mir das, was ich über die Wirkung von Frau Šupíkovás Schilderung mitteilen will, so selbstverständlich erscheint. Andererseits weil Erlebnisse, Erfahrungen sich immer in etwas anderes verwandeln, wenn man sie festzuhalten versucht. Sie werden zu Aufzeichnungen. Also etwas künstlich Gemachtes. Die authentische Erfahrung, die sich während Frau Šupíkovás Bericht sofort auf uns überträgt, kann nicht konserviert werden. Solange sie erzählt, wird sich diese Unmittelbarkeit niemals verlieren. Dies aber ändert sich schlagartig in dem Augenblick, wenn wir versuchen, Authentizität zu fixieren.

Noch leben Zeitzeugen der Naziverbrechen, doch bald werden auch die letzten von ihnen gestorben sein. Vermutlich rührt es auch daher, dass die Verwendung sogenannter „Oral History“ in Dokumentationen nicht nur über das Dritte Reich inzwischen geradezu Mode geworden ist. Hör- oder Filmmitschnitte von Interviews werden zwischen Archivmaterial und Spielszenen geschnitten, um etwas von der Wirkung der Erlebnisberichte in die Darbietung des historischen Geschehens zu integrieren.

Kritiker stoßen sich allerdings an diesem Format, weil es in ihren Augen oft Authentizität suggeriert, wo es sich in Wahrheit um bearbeitetes Material handelt. Der Vorwurf, den sie zurecht erheben, lautet, dass durch die Auswahl sowohl der Interview-Ausschnitte als auch der Zeitzeugen, deren Erinnerung prinzipiell nicht als verbindlich gelten kann, die Gefahr der Manipulation, ja, der Geschichtsklitterung besteht. Denn gerade der authentische Ton verstelle die Sicht auf die Konstruktion der Darstellung, verschaffe ihr den Nimbus einer unwiderleglichen Rekonstruktion der Ereignisse.

Auch Frau Šupíkovás Erinnerungen sind Rekonstruktionen der autobiographischen Vergangenheit nach Maßgabe ihrer spezifischen Gedächtnisarbeit, ihrer individuellen Psychologie. Dazu tritt der Umstand, dass sie – wie viele Zeitzeugen – ihre Erlebnisse immer wieder vor wechselnden Zuhörern aus wechselnden Generationen zu Gehör gebracht hat, so dass manche Erinnerungsfragmente vermutlich erst mit der Zeit zu einem sinnvollen Ganzen zusammengewachsen sind, indem Kenntnisse von außen hinzutraten, eingewoben wurden, undsoweiter. Doch so wenig individuelles Erinnern jemals objektiv sein kann, so wenig hindert diese Tatsache, dass wir an ihrem und am Schicksal Lidices Anteil nehmen, solange wir mit ihr beisammensitzen und sie uns davon erzählt.

Wenn es einst die Möglichkeit eines solchen Beisammensitzens nicht mehr gibt, kommt den Audio- und Filmaufnahmen von Zeitzeugen noch einmal gesteigerte Bedeutung zu. Zwar können sie das Gespräch nicht ersetzen, aber die Atmosphäre ihres Entstehens lässt sich teilweise bewahren durch den behutsamen Umgang mit dem Ton- und Bildmaterial. Anstatt es durch Schnitte zu verstümmeln, sollte der Aufzeichnungscharakter stets möglichst ungeschönt kenntlich bleiben, um zu verhindern, dass Oral History zur Legitimation historischer Lesarten oder zur Herstellung von Scheinobjektivität missbraucht wird. Eingebettet in den Rahmen wissenschaftlich historischer Aufarbeitung können diese weitgehend unbearbeiteten Zeugnisse dann auch auf spätere Zuhörer und Zuschauer etwas von jener Aura authentischer Erfahrung übertragen, den Quellen und Daten nicht bieten.

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Aber Schriftsteller sind keine Historiker. Für uns je vier tschechische und deutsche Autoren, die man nach Lidice eingeladen hat, sind die Voraussetzungen noch einmal andere, denn wir bewegen uns auf dem Feld der Fiktion. Genauer gesagt in einem Zwischenbereich von Phantasie und historischen Fakten. Anders als bei frei ausgedachten Geschichten müssen wir uns im Fall von Stoffen aus der Geschichte mit dem Verhältnis von „Dichtung und Wahrheit“ auseinandersetzen. Dies gilt zumal, wenn es sich um ein Thema handelt, das mit so viel Tod und menschlichem Elend verbunden ist. Nichts stößt zu Recht auf harschere Kritik und Ablehnung, als die „unangemessene“ Darstellung von Naziverbrechen in Film und Literatur. Auch Fiktionen können bekanntlich ideologisch missbraucht werden, sind immer wieder, mindestens ebenso sehr wie nicht-fiktionale Formate der Geschichtsvermittlung, in den Dienst propagandistischer Absichten genommen worden, die von der Verharmlosung bis zur Hetzkampagne reichten.

Die Grenze zwischen erfundener Handlung und historischen Fakten zu bestimmen, erweist sich allerdings als schwierig. Darüber tauschten wir uns in einer abschließenden Diskussionsrunde aus. Als Beispiel sei an die Debatte um den Spielfilm Das Leben ist schön (Roberto Benigni; Italien) von 1997 erinnert. Das Grauen der Konzentrationslager in eine bitter-absurde Komödie zu überführen, die den Holocaust gleichsam verlacht, polarisierte die Öffentlichkeit. Was für die einen inakzeptabler Tabubruch war, stellte für die anderen erst jene menschliche Würde her, die den Nazis restlos auszulöschen beinahe gelang.

Bei den meisten, oft selbst längst historisch gewordenen Bearbeitungen von Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus sind die Motive leicht erkennbar. So stehen der bereits 1943 entstandene Kurzfilm The Silent Village (Humphrey Jennings; Großbritannien) und der Spielfilm Hitler’s Madman (Douglas Sirk; USA) über die Vernichtung von Lidice ganz im Zeichen des Zweiten Weltkriegs. Beide Filme wurden gedreht, um aus den spärlichen Nachrichten, die man damals von dem Verbrechen besaß, eine Vorstellung an das Kinopublikum weiterzugeben, in dem ein möglichst drastisches Bild vom Kriegsgegner gezeichnet und über die Solidarität mit den Opfern die Kriegsbereitschaft verstärkt werden sollte. In diesen Filmen dient das Dorf Lidice als Symbol, das den Krieg gegen Deutschland zur unabdingbaren Notwendigkeit erhebt – angesichts der tatsächlichen Bestialität des Naziregimes ein durchaus nachvollziehbares Anliegen.

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Der Fall des unmittelbar nach der Auslöschung Lidices im Sommer 1942 entstandenen Romans Lidice von Heinrich Mann liegt komplizierter. Dieses Buch des bedeutenden deutschen Schriftstellers, des Autors von Der Untertan und Professor Unrat, dessen Verfilmung 1930 als Der blaue Engel durch Josef von Sternberg, mit Emil Jannings und Marlene Dietrich in den Hauptrollen, Weltruhm erlangte, ist kaum bekannt und heute in Deutschland fast in Vergessenheit geraten. Die Ursache hierfür dürfte nicht zuletzt darin suchen sein, dass der Roman als literarische Aufarbeitung der Ereignisse um Lidice als missglückt anzusehen ist. Doch dieses Scheitern eines so erfahrenen Autors, dessen Durchdringung der sozialen Charaktere und Milieus im militaristischen Deutschland des Wilhelminismus Maßstäbe gesetzt hat, scheint mir geeignet, ein erhellendes Licht sowohl auf die historisch neue Qualität des Naziterrors als auch auf die Probleme ihrer ästhetischen Verarbeitung zu werfen.

Heinrich Mann scheitert in Lidice auf hohem Niveau. Er lebt bereits im amerikanischen Exil in Los Angeles, als sich die Nachricht vom Racheakt der Deutschen auf das Heydrich-Attentat über die Welt verbreitet. Sie regt ihn zu einem Roman über die Ereignisse an, den er noch im Sommer 1942 zu Papier bringt. Über die genaueren Umstände ist zu dem Zeitpunkt wenig bekannt. Der einundsiebzigjährige Autor füllt die fehlenden Daten mit einer eigenen Fabel, in der ein Student namens Pavel Ondracek aus Lidice die Hauptrolle spielt. Nachdem Heydrichs Wagenkolonne im Dorf aufgehalten wird, weil ein streunender Hund einen Unfall verursacht hat, bekommen die Bewohner Lidice zum ersten Mal die Unsitten der Nazis zu spüren. Sie werden drangsaliert. Doch Pavel entdeckt bei der Gelegenheit seine Fähigkeit, Heydrichs Stimme nachzuahmen (diese wurde schon damals als seltsam hoch und piepsig für diesen Vorzeige-Arier der NS-Führungsriege belächelt), die er im weiteren Verlauf des Romans zur Imitation der ganzen Person ausbaut. Eine Abwesenheit Heydrichs im Hradschin ausnutzend, stürzt er – nicht zuletzt mit Unterstützung Prager Theaterschauspieler – als dessen Doppelgänger die Besatzungsmacht in heillose Verwirrung, so dass der Größenwahn Heydrichs und der nationalsozialistische Drill der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Schließlich fällt Heydrich einer Verschwörung innerhalb der SS zum Opfer, die aus diesen Verwirrungen hervorgeht. Die Lidicer Bevölkerung wird als Rache für die Demaskierung der Nazis umgebracht, während Pavel nach Jugoslawien entkommt, wo er sich Partisanen anschließt.

Heinrich Mann macht aus Lidice eine Komödie. Dahinter steht (ähnlich wie bei Benigni) die Idee, dass der Geist der Kultur den Ungeist der Barbarei mit den Mitteln des Theaters – und in diesem Fall: des tschechischen Humors – aushebeln kann. Unverkennbar sind die Anleihen bei Jaroslav Hašeks Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, Carl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick und  Charlie Chaplins The Great Dictator, der 1940 in die Kinos kam. Auch Chaplin macht sich über die Nazis, über Hitler und Mussolini lustig, auch bei ihm wird aus einem – jüdischen – Opfer ein Doppelgänger, der in einer pathetischen Schlussrede die faschistischen Ideologien überwindet. Doch was hier – mit Abstrichen – gelingt, gerät bei Heinrich Mann schnell ins Straucheln. Eine Ursache scheint in einer Verschiebung innerhalb des Themas zu liegen. Anders als bei Chaplin bildet nicht das Regime selbst und dessen Bloßstellung das Zentrum der Handlung, sondern der Terrorakt von Lidice, wie der Titel des Romans nahelegt. Da bei der Lektüre ständig das Wissen um das Ausmaß des Verbrechens mitschwingt, wirkt der Komödienstoff makaber und aufgesetzt. Eine Hochstapelei à la Köpenick hat skrupellosem Massenmord nun einmal nichts entgegenzusetzen. Lidice wird zur Fassade.

Heinrich Manns gesellschaftskritische Poetologie ist vom Wilhelminismus und von Ersten Weltkrieg geprägt. Die ästhetischen Mittel, mit denen er sich der Epoche stellte, versucht er auch auf den Nationalsozialismus und auf Lidice anzuwenden. Doch sie greifen nicht angesichts der enthemmten Brutalität eines Terrorismus, der jedes menschliche Maß außer Kraft setzt. Mann war sich des Dilemmas offenbar selbst bewusst, spätestens nachdem er einen Brief vom Literarischen Beirat des von Exilautoren in Mexiko gegründeten Verlags El libro Libre erhielt, wo der Roman dann auch veröffentlicht wurde. Der Beirat schlägt vor, einen anderen Titel zu wählen. „Solange die Wunden noch bluten, scheint es uns nicht ganz ungefährlich, einer grotesk-satirischen Darstellung den tragischen Titel Lidice zu geben.“ Es unterzeichneten unter anderem Anna Seghers, Ludwig Renn und Egon Erwin Kisch. Mann arbeitete das Manuskript nach den Vorschlägen des Beirats um, behielt den Titel aber bei. „Lidice ist allerdings vom Hohn das Äußerste, was ich konnte“, schreibt er.

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Die Auslöschung Lidices stellt in gewisser Hinsicht einen Präzedenzfall für einen Typus von Terrorismus dar, wie er heute gang und gäbe ist. Hier zum ersten Mal wird die Verbreitung des Grauens als massenmediale Botschaft zu einem wesentlichen Bestandteil des Verbrechens selbst. Bekanntlich verstand es die NS-Propaganda als erste in der Geschichte, die damals neuen Medien Funk und Film im großen Stil für ihre Zwecke zu nutzen. Willkürlicher Massenmord besetzt die öffentliche Aufmerksamkeit, zwingt zur Gegenpropaganda, die dem Verbrechen jedoch von vornherein kaum gerecht werden kann. Die Frage, wie den Fanalen des Terrors angemessen zu begegnen sei, ist aktueller denn je. Um Antworten wird nach wie vor gerungen.