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22.01.2013, 12:02 Uhr
Marek Šindelka
Text & Debatte
Im Juli 2012 trafen sich vier tschechische und vier deutsche AutorInnen in Lidice, um den Gedächtnis-Ort kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Die Essays erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Lidice-Austausch]: Lidice und der Krieg um die Erinnerung

Früher glaubte man, jemand, der so schwer an einer Erinnerung trägt, dass er mit dieser Last nicht weiter leben möchte, solle sich einen Baum suchen, ein Stück Rinde aushacken und diese seine Erinnerung in die Wunde hineinflüstern. Das Rindenstückchen solle er sodann wieder am Stamm anlegen, es würde anwachsen und die Last der Erinnerung für immer im Baumstamm verbergen. Bäume standen stets in einem Bezug zum Tod: die heidnischen Völker im europäischen Raum brachten ihnen rituelle Opfer dar und bis vor nicht allzu langer Zeit hatte sich der Glaube gehalten, dass die Seelen der Toten in Bäume einziehen; eben deswegen hat man auf Gräbern und Friedhöfen Bäume gepflanzt, sozusagen als Unterkunft für die Toten.

Unweit von Prag, inmitten der Gedenkstätte für die Gemeinde Lidice, die vor siebzig Jahren als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich dem Erdboden gleich gemacht wurde, steht ein alter, schiefer Birnbaum: ein unschöner Baum mit einer zerschlagenen, zerzausten Krone, der tatsächlich den Eindruckt erweckt, als trüge er etwas Fremdes in sich: er wirkt krank durch fremde Erinnerung, die er noch nicht verkraftet hat, wirkt wie ein überfülltes Sammelbecken für Tote. Ein Baum, dessen Früchte zu essen, man gut überlegen sollte. Die Auslöschung von Lidice überlebt haben siebzehn Kinder, ein paar Dutzend Frauen und dieser eine Birnbaum. Im Jahr 1942 ein kleiner Baum, dem die Detonation bei der Sprengung der Kirche die Krone zerriss, deshalb hielt man ihn auch für tot. Aber der nackte Stamm hat überlebt, wuchs über lange Jahre hin hoch und wurde zur Ikone der gesamten Tragödie.

Jener oben erwähnte Aberglauben des Volkes, jene keltischen und germanischen Traditionen stehen mit der kaltblütig geplanten Vernichtung von Lidice in einem tieferen Zusammenhang, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Aktion hatte in allem den Charakter eines Rituals: Männer, die älter als fünfzehn waren, wurden exekutiert, die Frauen in Konzentrationslager verschickt, die Kinder vergast, die Kirche in die Luft gesprengt, die Häuser niedergebrannt und bis auf die Grundmauern geschleift, mit ihrem Schutt der Weiher verschüttet, die Landschaft in ihren Konturen verändert. Und damit auch die genaue Lage des Ortes nicht mehr zu lokalisieren wäre, verlegte man selbst den Lauf des Bachs. Man fällte die Bäume, entriss ihre Wurzelstöcke der Erde. Aus den Gräbern grub man die Toten aus, zerstörte die Särge, transportierte die Grabsteine ab, die beim Bau von Nazi-Kasernen Verwendung fanden. 

Lidice war bei weitem nicht das einzige Dorf, das von den Nazis ausgelöscht wurde. An der Ostfront wurden Hunderte dem Erdboden gleich gemacht und dennoch hat sich keines von ihnen so tief ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit eingeschrieben. Natürlich ist das auch deswegen so, weil der politische Racheakt gegen die Zivilbevölkerung von Lidice so weit hinter der Front stattfand. Die ganze Sache reicht aber tiefer. Dass Lidice „von der Landkarte getilgt wurde“ – das ist zu wenig gesagt, das fasst es nicht ganz. In Lidice wurde ein Ritual vollzogen, mit dem Ziel, ein Dorf definitiv und bis auf die letzte Spur aus dem menschlichem Bewusstsein zu tilgen: seine gesamte gegenwärtige, gewesene und zukünftige Existenz in Abrede zu stellen.

Bekanntmachung der deutschen Besatzungsmacht vom 10. Juni 1942, abgedruckt in der deutschen Besatzungszeitschrift Der neue Tag am 11. Juni 1942

Die Vehemenz dieser Annullierung war so groß, sie erfolgte mit einer solch zwanghaften Präzision und zeigte sich so kundig darin, nach welchen Mechanismen das menschliche Erinnern funktioniert, welchen Regeln die Nostalgie folgt, dass sich fast schon von einer schrecklichen Variante der Poesie sprechen ließe. Warum begnügte sich die nationalsozialistische Rache nicht mit der Liquidation der Bewohner, mit einem kalt konsequenten Durchschneiden der genealogischen Linien, mit einer Demolierung der Gebäude? Warum erstreckte sich die Gewalt in scheinbar absurder Weise auch auf die Landschaft, warum wandte sie sich auch gegen etwas so Wehrloses und auch wieder so Gleichgültiges wie das Terrain?

Hier von Poesie zu sprechen ist keineswegs unangebracht, es ist auch keine billige Provokation: die gesamte nationalsozialistische Ideologie wurde von einer starken volksromantischen Welle getragen, von sentimental unterfüttertem Gedankengut, für das der Sammelbegriff Blut und Boden steht. Die fast heilige Bindung des Menschen an einen Ort gehört zu den fundamentalen Elementen der nationalsozialistischen Ideologie (mit ihr hängt auch die unter den Führungseliten des Reiches so populäre und inzwischen vielfach untersuchte Neigung zum Okkultismus zusammen, man denke vor allem an Himmler). Der Verweis auf altgermanische Kulte, die mystische Beziehung zum Boden, eine gleichsam agrarische Romantik, die Verherrlichung des dörflichen Lebens (das Land galt als Quelle deutschen Blutes) bei gleichzeitiger Abwertung des „verweichlichten“ städtischen Lebens, ein spezifische Auslegung der Naturgesetze, die utilitaristische Interpretation von Darwins Gedanken zur Evolution, das alles auf ungeheuerlich pathetische Weise zusammengemixt diente dem Nationalsozialismus als ideologische Grundlage. Genau in diesem Licht ist auch der rituelle Charakter zu sehen, den die Auslöschung von Lidice an sich hat. Die Vergeltung für den Tod des Reichsprotektors wandte sich demonstrativ gegen genau das, was für die nationalsozialistische Ideologie die Keimzelle der ganzen Gesellschaft war: gegen ein ganzes Dorf, das hier für ein ganzes Volk steht – gewissermaßen en miniature. Daraus erklärt sich auch die enorme Wirkung dieser Tragödie. Die nationalsozialistischen Entwürfe Lebensraum und Generalplan Ost sahen vor, die besetzten östlichen Gebiete zu Kolonien zu machen, zu Rohstoffbasen und Getreidekammern fürs Reich, die slavischen Völker sollten teils vernichtet, teils weiter nach Osten umgesiedelt und teils auch germanisiert werden. Was sich in Lidice abgespielt hat, erinnert an die Prinzipien der sympathischen (resp. homöopathischen) Magie: wie wenn man Nadeln in eine Puppe bohrt, wurde hier an einer kleinen Gruppe exekutiert, was bald ganze Völker treffen sollte.

Den Berichten der letzten Überlebenden – einige wenige Kinder, die der Vergasung in Chelmno entgangen waren – ist durchweg etwas gemeinsam, was keine historisch- wissenschaftliche Studie erfassen kann: eine ungewöhnliche Präzision in manchen Details, besondere Kleinigkeiten, die im Gedächtnis haften geblieben sind und die eine geradezu überraschend starke imaginative Aufladung haben. Die Zeitzeugin Marie Šupíková zum Beispiel erwähnt in ihren Erinnerungen an Lidice ein scheinbar bedeutungsloses Detail: eine Bonbonsdose beim Krämer in Lidice, die Bonbons klebten von ihnen am Glas, man musste erst leicht dagegenschlagen, damit sie herausfielen. Warum ist es gerade dieses Geräusch, das Klackern der Bonbons in der Stille des Ladens, das sich eingeprägt hat, warum nicht eine der objektiv wichtigeren Erinnerungen? Was verschafft der Bonbondose das Privileg im Gedächntis hängen zu bleiben, während die Gesichter vieler Menschen daraus lange entschwunden sind? Aber so funktioniert das Erinnern: Es hält sich an Kleinigkeiten, an Klänge, Düfte, den Geruch eines Interieurs. An Dinge, einst so vertraut, dass man sie gar nicht mehr wirklich beachtete und die sich dennoch so tief ins Gedächtnis gruben, dass die geringste Andeutung reicht, ein Dufthauch, und schon ersteht um dieses Detail eine ganze Welt.

Denkmal der Kinder von Lidice

Wollte ich mich möglichst kurz fassen, würde ich sagen: Lidice – das ist der Krieg gegen die Bonbondose. Die Vernichtung war erst vollzogen, als auch die letzte, allergeringste Erinnerung des kleinsten Kindes gelöscht war. Die Liquidation war so total konzipiert, griff so tief, dass sie die Bürger von Lidice nicht nur ihres Lebens beraubte, sondern auch Rache an ihrer Erinnerung nahm. Wie aber Rache nehmen an den Erinnerungen der Toten? Je absurder das Ganze, desto schrecklicher.Allein die so aggressiven, geradezu neurotischen Vorkehrungen gegen die reine Eventualität, dass jemand kommen und sich erinnern könnte „hier gleich am Bach war der und der Baum, wenn seine Blätter rauschten, dann klang das so und so, am Sonntag saßen wir hier in seinem Schatten und haben erzählt“, allein diese so zielstrebigen, so systematisch und bis ins Kleinste durchdachten Maßnahmen, damit niemand mehr seine Erinnerungen verorten könnte, dass man Bäume samt Wurzeln ausreißt, das Bachbett verlegt und den Weiher verschüttet, das alles ist so erniedrigend, trifft den Menschen so bewusst in seinen innersten Bezirken, dass es wirklich kaum zu fassen ist.

Allen Zweifeln zum Trotz handelte es sich um ein streng rationales Vorgehen. Der Nationalsozialismus in seiner Präzision ist nie Amok gelaufen, alles Böse wurde am Reißbrett erdacht. Die Auslöschung von Lidice folgte einer eigenen schrecklichen Logik: die raffinierteste Form der Gewalt, die man einem westlichen Menschen antun kann, ist seinem Gedächtnis Gewalt anzutun. Das ist ein direkter Angriff auf seine Identität. Die Auslöschung von Lidice war eine souveräne Botschaft an die Welt, wie weit zu gehen Deutschland bereit sei: wer immer es wagt, sich ihm entgegenzustellen, wird ein für allemal mit Stumpf und Stiel aus der Geschichte ausradiert. Ob es ein Einzelner ist oder ein ganzes Volk. Diese Botschaft hatte freilich weitgreifende Folgen, denn sie machte die nationalsozialistischen Absichten ganz und gar transparent. Doch die Auslöschung von Lidice hatte nicht den gewünschten Effekt, die Gemeinde fiel nicht dem Vergessen anheim, ganz im Gegenteil, sie wurde zum Symbol des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

Das Moment des Geschichtsverlusts lohnt einer genaueren Betrachtung. Jeder Krieg wird natürlich um die Erinnerung geführt: um die Geschichte. Um ihre Formulierung. Was nicht in die Geschichte eingeht, hört mit der Zeit definitv auf zu bestehen. Gerade daran war  den archaischen Zivilisationen und Naturvölkern so gelegen, die man unter dem treffenden Terminus prähistorisch zusammenfasst (es geht nicht um Völker vor der Historie, vor der Geschichte, sondern um Völker, bei denen die Aufzeichnung von Geschichte nicht zu den kulturellen Strategien gehört): Sie reinigten in regelmäßigen Abständen ihre Zeit von den Anschwemmungen der Geschichte. Eine nichtlineare Zeit, eine zyklische Zeit. Alles kehrte an seine Uranfänge zurück, Geschichte war in diesem System überflüssig, war eine Art malignes Wuchern, das die bestehende Gesellschaftsordnung gefährdete.

Die euroamerikanische Kultur hingegen kann seit etlichen Jahrhunderten als eine Erinnerungskultur gelten. Die westliche Gesellschaft gründet auf einer geradezu obsessiven Anhäufung vergangener Zeit und deren ständig neuer Interpretation. Die Gesellschaft als Ganzes muss sich unaufhaltsam weiter entwickeln, vollenden, soll immerzu ihre Grenzen überschreiten, ins Unendliche wachsen. Und diese Entwicklung wird von der Geschichte dokumentiert und auch stimuliert, Geschichte ist ein Grundpfeiler der Gesellschaft und das effektivste Machtinstrument überhaupt. Erinnerung heißt immer auch Kontrolle. Wer die Kontrolle über die menschliche Erinnerung hat, über die Formulierung und Interpretation der Geschichte, hat auch Kontrolle über die Menschen selbst. In „Die Unsterblichkeit“ schreibt Milan Kundera provokativ: Die große Kultur ist nichts anderes als ein Kind der europäischen Perversion, die sich Geschichte nennt, das heißt jener Besessenheit, ständig voranzuschreiten, die Abfolge der Generationen als Staffelllauf zu betrachten, bei dem ein jeder seinen Vorgänger zu überrunden sucht, um dann selbst von seinem Nachfolger überrundet zu werden... Robespierre, Napoleon, Beethoven, Stalin, Picasso – sie alle gehören zu dieser Stafette, gehören ins selbe Stadion.

In dem Moment, als Hitler den Stab in diesem Staffellauf übernahm, wurde deutlich, welchem Zweck die Erinnerung in der politischen Struktur dienen sollte: Der Nationalsozialismus fußte auf einer kompletten Umformulierung der bisherigen Geschichte, auf der Ablehnung einer „weichen Geschichte“ Europas und dem Gedanken eines einzigen Ausnahmevolkes, das einen großen Bogen zu den ältesten heidnischen Wurzeln Europas schlug. Jede politische Ordnung basiert auf der Wahl einer bestimmten Geschichte. Darauf verweist auch Hans-Georg Gadamer, wenn er sagt, dass Geschichte nie die objektive Darstellung des in der Vergangenheit Geschehenen sei – das zu erfassen ist völlig unmöglich – sondern nichts als ein Text, der interpretiert werden kann.

Was aber passiert, wenn der westliche Mensch – dieses schreckliche Tier, das sich im Urwald seiner Erinnerungen eingewöhnt hat – diesen Text plötzlich verliert? Wenn ihm der Zugang dazu verwehrt wird? Vergessen hat immer auch eine existentielle Dimension: es ist ein direkter Verweis auf das Nichts, auf das Nichtsein. Genau das wollte man in Lidice und allen anderen Gebieten unter nationalsozialister Herrschaft erreichen. Alle diese Menschen sollten dem Vergessen überantwortet werden.

Der Kampf um die Erinnerung in Lidice hatte nach dem Krieg ein eigentümliches Nachspiel. Die Kinder, die überlebt hatten, weil sie germanisiert werden sollten, hatten in ihren Adoptivfamilien ein völlig neues Leben begonnen, die deutsche Erziehung sollte ihre Muttersprache ganz und gar löschen – es waren sehr kleine Kinder – , ihre ursprünglichen Erinnerungen sollten durch neue ersetzt werden, wie mit einem Instrumentarium im Labor  sollte dem zuvor sorgfältig desinfizierten Kindergedächntis ein hundertprozentiges Deutschtum eingepflanzt werden. Das war die Endphase der Liquidierung von Lidice, die freilich durch die deutsche Kapitulation und das Ende des Krieges wieder aufgehoben wurde. Mit der Zeit konnten die Kinder ausfindig gemacht und ihren Müttern oder Verwandten wieder gegeben werden. Mit einem Mal kehrte sich alles um, das hundertprozentige Deutschtum verwandelte sich vom Heilmittel in eine Krankheit, die Erinnerungen, die vor Kurzem noch ausgelöscht und durch neue ersetzt werden sollten, wurden zum kostbarsten Besitz überhaupt: echte Kleinodien, die man von Neuem aus der Tiefe ans Licht holen musste. 

Eines dieser repatriierten Kinder war Zdeněk Petřík. Auch ihn hatte man in Deutschland gefunden und seiner Mutter zurückgegeben, auch bei ihm reinstallierte man Erinnerungen an eine Kindheit in Lidice. Das Problem war nur, dass er, wie spätere Blutanalysen zeigten, nie in Lidice gelebt haben konnte. Man hatten ihn und den wahren Zdeněk Petřík, der vermutlich mit den anderen Lidicer Kindern in Chelmno ums Leben kam, irrtümlicherweise vertauscht. Die wirkliche Identität des Jungen konnte nie festgestellt werden. Man hatte ihn seinen deutschen Adoptiveltern weggenommen; von ihnen hatte er den Namen Walter Lager bekommen. Während des Krieges hatten sie ihn aus dem Lager in Lodz zu sich geholt; dort waren vor allem die Kinder polnischer Widerstandskämpfer interniert. Seine Wurzeln lagen wahrscheinlich also in Polen, aber auch das ist nicht sicher.

Mit den Blutanalysen hatte der Junge seine Identität verloren. Er konnte zwar den Namen Zdeněk Petřík behalten, aber den Anspruch auf Erinnerungen hatte er eingebüßt. Er befand sich in einem historischen Vakuum, dem er nicht mehr entrinnen konnte. Während mitten in diesem rationalen zwanzigsten Jahrhundert – auf dem Höhepunkt der westlichen Entwicklung – das größte und absurdeste Geschehen der modernen Geschichte vor sich ging, verlor dieses kleine Kind dreimal hintereinander seine Eltern, seine Herkunft und sein Zuhause. Zdeněk Petřík konnte nie herausfinden, wer er eigentlich ist, er blieb irgendwo zwischen Tür und Angel der geschichtlichen Ereignisse hängen. Er hat geheiratet, hatte eine Tochter, aber die Ehe zerbrach. Den Rest seiner Tage verbrachte er, zum Alkoholiker geworden, als Obdachloser und nächtigte – wie bezeichnend – im Bushäuschen der Haltestelle von Lidice, im Niemandsland, von wo aus man nirgendshin fliehen kann und ebenso wenig kehrt man hierher nach Hause zurück. Die Überreste seiner Leiche wurden 1998 im Abwasserkanal von Kladno gefunden, Fachgutachten zufolge lagen sie dort bereits fast ein Jahr. Zdeněk Petřík hat ein Jahr lang nicht einem einzigen Menschen gefehlt.   

Der Zweite Weltkrieg, der Krieg der Welt gegen den  Nationalsozialismus (dessen Ideologie sich aus einer völkischen Romantik speiste) ist in der gegenwärtigen Mehrheitsgesellschaft (deren Ideologie sich aus einer Konsumromantik speist) zum Popkultur-Kitsch erster Güte geworden. Die Gedenkstätte für die Tragödie von Lidice tritt dennoch sehr direkt und unpathetisch in Erscheinung: Sie ist wie ein Park. Es ist gut, dass die Erinnerung gerade an dieses Ereignis landschaftliche Gestalt hat. In den Baumkronen singen die Vögel, ein Bach ist hier, ein Netz von Pfaden, auf denen, mit Kopfhörern bewehrt, Wochenend-Jogger entlang traben. Auch einen Rosengarten gibt es, in dem man Hochzeiten feiert. Lidice ist heute ein Ort, an dem ein schöner Sommernachmittag möglich ist. Und das ist richtig so: das Leben ist trotz allem hierher zurückgekehrt. Und mitten im Gelände der Birnbaum mit der zerborstenen Krone, seine Blätter rascheln im Wind, der Baum, der alle menschlichen Zeugen des Geschehenen überleben wird, wird selbst zu einer letzten Holz gewordenen Erinnerung.

Ob Zdeněk Petřík, als er noch am Leben war, beim Anblick dieses Baumes (ein sicher häufiger Anblick) je in den Sinn kam, wie sehr sie einander im Grunde gleichen. Voll mit fremden Erinnerungen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Beide zufällig verstrickt  in ein Geschehen, das sie gar nicht betraf und sie doch für ihr ganzes Leben gezeichnet hat. An beiden offenbart sich die ganze Tragödie en miniature, in ihren kleinen Symbolen: auch die Bürger von Lidice wurden durch einen unglückseligen Zufall in etwas verstrickt, was sie gar nicht betraf, in den großen pathetischen Kampf um den Verlauf der Weltgeschichte. Auch wenn der Birnbaum besser dran ist, er ist Teil des Gedenkens. Zdeněk Petřík hat sich in einen traurigen Seufzer verwandelt: seine ganze Hinterlassenschaft besteht aus einem schmutzigen Kamm, einer leeren Zigarettenschachtel und dem traurigen Seufzer seiner früheren Frau, die diese Abfälle für eine Dokumentarsendung mit rührseliger Melodie vor die Kamera hält. Lidice hat den Krieg um seine Erinnerung gewonnen, Zdeněk Petřík – der unbekannte Mann mit dem Namen eines toten Kindes – hat ihn leider verloren.

[Deutsch von Kristina Kallert]

Marek Šindelka, geboren 1984 in Polička (Region Pardubice), studiert neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit Kulturwissenschaft an der Karls-Universität Prag sowie Drehbuch an der Prager FAMU. Für sein Debüt, den Gedichtband „Strychnin a jiné básně“ („Strychnin und andere Gedichte“), erschienen 2005 im Verlag Paseka, erhielt er im Jahr 2006 den Jiří Orten-Preis. 2008 veröffentlichte Šindelka seinen ersten Roman „Chyba“ („Der Fehler“) im Verlag Pistorius & Olšanská, der 2011 auch als Comic erschien. Außerdem verfasste Šindelka Beiträge für die tschechischen Literaturzeitschriften Souvislosti, A2 und Host.

Tschechische Originalfassung des Essays