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25.09.2025, 08:04 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 33: Ernst Lothar, Der Engel mit der Posaune (1946)

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Lothar Ernst © Paul Zsolnay Verlag

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Ernst Lothar, geboren 1890 in Brünn als Ernst Müller, Sohn eines Rechtsanwalts, beginnt auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Wien und promoviert. Doch seine wahre Leidenschaft gilt dem Schreiben, weshalb er seine Zeit bevorzugt in den Wiener Kaffeehäusern verbringt und dort an seinem ersten Roman arbeitet. 1910 ändert er seinen Familiennamen in Lothar, um sich von seinem Bruder Hans, ebenfalls Schriftsteller, abzugrenzen. Nach seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg, einer Tätigkeit als Staatsanwalt und einer Beraterstelle im Handelsministerium wird er mit Mitte Dreißig als „Hofrat“ pensioniert. Daraufhin zieht er sich zurück und widmet sich vollständig den Künsten. Es ist der Beginn seiner Karriere als Theaterkritiker. Nach einem Artikel zu einem Werk von Franz Grillparzer schlägt ihm der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal vor, selbst Regisseur zu werden. Bald darauf kann Lothar als Gastregisseur am Burgtheater arbeiten, wo ihm das Ensemble sogar anträgt, die Direktion zu übernehmen – ein Angebot, das jedoch aufgrund politischer Umstände scheitert, obwohl Lothar den Regie-Star Max Reinhardt für mehrere Inszenierungen gewinnen will. Das Verhältnis zwischen den beiden ist von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Auf Empfehlung Reinhardts wird Lothar 1935 Direktor des Wiener Theaters in der Josefstadt, wo er das Haus sowohl finanziell als auch künstlerisch äußerst erfolgreich leitet.

In Amerika, wohin beide aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vor den Nationalsozialisten fliehen müssen, trifft Lothar erneut auf Max Reinhardt. Der überzeugte Österreicher hat nicht nur seine Heimat, sondern auch seine Muttersprache und durch Krankheit zwei Kinder verloren. Gemeinsam mit Raoul Auernheimer gründet er in New York das Austrian Theatre, das sich jedoch nicht lange halten kann. Lothar verdient fortan seinen Lebensunterhalt mit Vortragsreisen, als Dozent am Colorado College sowie mit seinen im Exil verfassten Romanen, die in den Vereinigten Staaten ein breites Publikum finden. Als „lebenslanger Europäer“ sehnt er sich stets nach Österreich zurück, auch wenn er sich der Schwierigkeiten bewusst ist: „Ich kehre nicht zu Menschen zurück, sondern zu einer Landschaft, die ich zum Leben brauche.“

1946 geht Lothar als amerikanischer Offizier in seine Heimat zurück, um im Rahmen der Entnazifizierung im kulturellen Bereich tätig zu werden. Zwar fühlt er sich wieder zu Hause, doch ist ihm bewusst, dass er als Emigrant wenig willkommen ist, zumal der Antisemitismus nach wie vor in allen gesellschaftlichen Schichten tief verwurzelt ist. Er arbeitet erneut als Regisseur und spielt eine maßgebliche Rolle in der Wiederbelebung der Salzburger Festspiele, zu deren Direktorium er zeitweise gehört. Ernst Lothar stirbt 1974 in Wien.

Der Engel mit der Posaune, 1944 erstmals auf Englisch in den USA veröffentlicht, ist ein Familienroman, der sich über drei Generationen erstreckt und in einem historischen Wiener Stadthaus in der Inneren Stadt spielt, das insgeheim die Inschrift Haus Österreich trägt. Lothar gelingt es auf meisterhafte Weise, anhand einer Wiener Familie ein Kapitel europäischer Geschichte zu erzählen, das den Übergang vom Zerfall der Habsburger-Monarchie bis hin zum triumphalen Einzug der Nationalsozialisten umfasst.

Im Mittelpunkt des Romans steht Henriette, Tochter eines jüdischen Professors und einer Sängerin, deren Herkunft bei der traditionsbewussten Familie Alt, in die sie einheiratet, auf Missbilligung stößt. Die Familie Alt bewahrt eine Welt der gesellschaftlichen Konventionen, in der gesellschaftliches Ansehen und Wohlstand durch die Zahl der Bediensteten und die Pflege von Kammermusikabenden definiert werden. Doch hinter dieser alt-wienerischen Idylle brütet der steinerne Geist der verkrusteten k.u.k. Monarchie, verkörpert in pedantischen Beamten und verbitterten Ehefrauen. Hier ist Henriette eine Außenseiterin, die sich gegen das Leben sträubt, das ihr zugedacht wird. Ihre Beziehung zu Franz Alt, einem Klavierfabrikanten, ist von unerfüllter Liebe geprägt – eine Metapher für das Österreich der Zeit, das in seiner Bindung an die Habsburger-Monarchie seine eigenen Chancen auf einen Neubeginn verpasst.

Der Roman beginnt mit einer leidenschaftlichen, aber tragischen Affäre Henriettes mit dem unglücklichen Kronprinzen Rudolf, die schließlich in einem verzweifelten Versuch endet, der gemeinsamen Suizididee des Thronfolgers zu entkommen. Ein späterer Höhepunkt ist die peinliche Befragung Henriettes durch Kaiser Franz Joseph nach dem Freitod des Thronfolgers. Henriettes Ehe mit Franz Alt, in die sie gesellschaftliches Ansehen und Wohlstand erfährt, endet dennoch in einem unaufhörlichen Gefühl der Entfremdung.

Henriettes Lebenslüge, dass sie den Selbstmord von Rudolf hätte verhindern können, ist Ausdruck ihrer Suche nach Bedeutung und ihrer Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung. Doch der Schatten des aufkommenden Nationalsozialismus ist allgegenwärtig: Ihr Neffe Otto und später ihr Sohn Hermann lassen sich zum Antisemitismus verlocken, der in Österreich nach wie vor weit verbreitet ist und schließlich zur Nazifizierung führt.

Im Verlauf des Romans wird der Untergang der Familie Alt unter dem Terror der Nationalsozialisten dargestellt. Henriette, als Jüdin von der Gestapo ermordet, ist das tragische Opfer dieses Prozesses, während ihr Sohn Hermann, ein überzeugter Nationalsozialist, sich an der Ermordung von Dollfuß beteiligt und ebenfalls stirbt.

Lothar skizziert die Geschichte einer großbürgerlichen österreichischen Familie, die trotz ihrer Zugehörigkeit zur Bildungs- und Oberschicht wenig Widerstand gegen die Barbarei der Nationalsozialisten aufbringt. Die Erschütterung über den Untergang dieser Familie spiegelt sich auch in den Aussagen von Hans wider, einem Mitglied der Familie, der nach dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt und die geistige Erstarrung seiner Verwandten anprangert: „Sie wissen nichts! Sie machen sich nichts klar! Sie wollen von ihrem Guthaben nichts abschreiben! Aber die Guthaben bestehen nicht mehr!“

Ernst Lothars Roman enthält zahlreiche historische Anspielungen und reflektiert die politisch und gesellschaftlich turbulente Zeit in Österreich. Besonders bemerkenswert ist die Abwesenheit des „Roten Wiens“ der 1920er-Jahre, das für die Familie Alt kein Thema ist, obwohl es das soziale und politische Leben der Zeit tief beeinflusst. Lothar beschreibt die Veränderung des politischen Klimas, das schließlich in den Aufstieg des Austrofaschismus und den NS-Einmarsch mündet. Der Roman endet mit einem Hoffnungsschimmer: Ein Mitglied der Familie Alt stellt sich dem Widerstand, was als Ausblick auf bessere Zeiten gedeutet werden kann.

Ernst Lothar: Der Engel mit der Posaune. Roman eines Hauses. Mit einem Nachwort von Eva Menasse. Zsolnay, Wien 2016.

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