Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 32: Alma M. Karlin, Dann geh ich in den grünen Wald (1945)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
Alma Maximiliane Karlin kommt 1889 in Cilli (Celje) zur Welt, das damals zu Österreich-Ungarn gehört und heute zu Slowenien. In der Familie spricht man deutsch. Die Tochter eines Offiziers und einer Lehrerin hat eine schwierige Kindheit. Das kleinwüchsige, dünne Mädchen wird halbseitig gelähmt, mit Wasserkopf und schielend geboren; die Ärzte sehen kaum Überlebenschancen. Ihr Vater, schreibt Alma M. Karlin in ihrer Autobiografie Ein Mensch wird, habe sich als k. u. k. Offizier, „der wusste, dass nicht alle Schlachten gewonnen werden konnten, in das Unvermeidliche gefügt“; die Mutter aber „kränkte es in tiefster Seele, dass ich so hässlich war“. Ein Leben lang kämpft Karlin gegen ihre körperlichen Defizite an. Und zieht gleich nach der Matura nach Graz, Paris und London, wo sie Sprachen studiert und nach sechs Jahren ihr Examen in acht Fremdsprachen mit Prädikat abschließt. Nebenbei verdient sie ihren Lebensunterhalt mit Übersetzungen und Privatstunden. Der gescheiterten Liebe zu einem chinesischen Sprachschüler widmet sie 1921 ihren ersten Roman, dem sie den Titel Mein kleiner Chinese gibt.
1914 muss sie London wegen des Ersten Weltkriegs verlassen und lebt danach in Norwegen und Schweden. Nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie kehrt sie 1919 nach Celje zurück, um kurze Zeit später mit einem Koffer und ihrer Schreibmaschine eine Weltreise anzutreten. Und all dies ohne finanzielle Absicherung, geleitet vom Interesse für die Situation der Frau in den verschiedenen Kulturen, von ihren ethnologischen und botanischen Forschungen, von ihren Recherchen zu Religionen, Kulten und Traditionen. Sie bereist die Philippinen, Borneo, Australien, Neuseeland, die USA. Von Peru geht es nach Panama, von Japan nach China, auf die Fidschi- und die Salomoninseln, weiter nach Neuguinea, Indonesien, Malaysia, Thailand, Burma, Singapur, Indien, Pakistan. Mehrmals erkrankt sie lebensgefährlich und infiziert sich mit Malaria.
Auf diesen Reisen beginnt sie zu schreiben und veröffentlicht ihre Reiseskizzen in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Auch zahlreiche Bände mit Novellen aus exotischen Ländern sowie ihre Trilogie Einsame Weltreise (1928), Im Banne der Südsee (1930) und Erlebte Welt – Das Schicksal einer Frau (1933) machen sie international so bekannt, dass sie danach auf Vortragsreisen geht. Die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf schlägt Karlin für den Literatur-Nobelpreis vor. Die slowenische Autorin ist bekannt für ihren Witz und ihre Ironie, für ihren unbändigen Wahrheitsdrang, ihre intellektuelle Eigenständigkeit sowie ihre unabhängige Lebensweise.
Doch die Zeiten ändern sich. 1941 wird das Königreich Jugoslawien von den Achsenmächten besetzt, Slowenien soll „deutsch“ werden und ein brutales Programm der „Entslawisierung“ setzt ein. Die bekannte NS-Gegnerin Karlin gerät ins Visier der Besatzungsmacht. Als sie Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in ihrem Haus in Celje aufnimmt, bringt sie sich ins Lebensgefahr. Sie verliert die Möglichkeit, zu publizieren, wird bespitzelt und bedroht, schließlich von der Gestapo verhaftet und in ein Sammellager deportiert. Zunächst steckt man sie ins Cillier Gefängnis Stari pisker, anschließend wird sie nach Marburg an der Drau gebracht. Ihre Freundin Thea Schreiber-Gammelin erreicht durch ihre Beziehungen in Deutschland, dass Alma Karlin nicht in ein deutsches Konzentrationslager deportiert wird. Sie kommt wieder frei, weil der sie verhörende Offizier ihre Reisebücher liebt, und schließt sich 1944 den Partisanen an, jenen Frauen und Männern vom slowenischen Widerstand in Bela krajina, für die sie Geschichten in deutscher Sprache schreibt.
Unter dem Titel Dann geh ich in den grünen Wald werden 2021 erstmals in deutscher Sprache die autobiografischen Aufzeichnungen Alma M. Karlins aus der Zeit 1938-1945 veröffentlicht. Es sind vier große Kapitel, in denen sie beschreibt, wie sie von einer populären Autorin binnen kurzer Zeit zur Entrechteten und Verfolgten wird.
Das Kapitel „Der Transport“ ist zugleich ein vielschichtiges Porträt ihrer Mitgefangenen, deren Solidarität sie erfährt, obwohl sie Deutsch schreibt. Sie erzählt, wie sie nach ihrer glücklichen Freilassung weiterhin in ihrer Existenz bedroht bleibt. Im Spätsommer 1944, entschließt sie sich, „in den Wald“, zu den Partisanen zu gehen, um mit deren Hilfe nach England zu gelangen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Autorin Mitte 50, gesundheitlich angegriffen und mittellos. Was es heißt, in solch einem Zustand einen 300 Kilometer langen Marsch in ein sicheres Gebiet auf sich zu nehmen, mit aufgeweichten Schuhen und ohne ausreichende Nahrung, beschreibt die Autorin im Kapitel „Bei den Partisanen“. Sie würdigt Kameradschaft und Opferbereitschaft, kritisiert aber auch die Borniertheit der Kommunisten unter den Freiheitskämpfern, die ihr die Weiterreise nach England am Ende verwehren und sie lediglich nach Dalmatien bringen.
Da Misstrauen der slowenischen Partisanen gegen Alma Karlin setzt sich später im kommunistischen Jugoslawien fort. „Im neuen, sozialistischen Staat, in welchem das Deutsche als Sprache der einstigen Okkupanten noch lange nach Kriegsende verpönt ist, wird der deutsch schreibenden Autorin von der jugoslawischen Behörde kein Reisepass ausgestellt, so dass Alma ihre zahlreichen unveröffentlichten Texte im Ausland nicht vermarkten kann“, schreibt ihre Biografin Jerneja Jezernik. Da sie sich nicht nur dem Nationalsozialismus widersetzt hat, sondern auch eine überzeugte Antikommunistin ist, riskiert sie auch bei den meist kommunistischen Partisanen ihr Leben, indem sie die Meinung vertritt, es gebe nichts Höheres als die Freiheit jedes einzelnen Individuums. Sie ist sogar doppelt verdächtig: als Angehörige der einstigen deutschen Mehrheit im Land und als politisch unzuverlässige Frau, die zudem mit ihrem unkonventionellen Lebenswandel Anstoß erregt. Karlins Haus in Celje wird nach Kriegsende konfisziert, ihre letzten Lebensjahre muss die Autorin in einem kleinen Winzerhaus in den Bergen verbringen.
Die 1906 in Brunshaupten (heute Kühlungsborn) geborene Pastorentochter und spätere Malerin Thea Schreiber-Gammelin lebte seit den 1930er Jahren mit der damals berühmten Schriftstellerin im jugoslawischen Celje. Thea Gamelin ist ihre Freundin, Leserin ihrer Manuskripte und Illustratorin ihrer Bücher. In Karlins letzten Lebensmonaten wird sie von Thea Gamelin gepflegt. Als Karlin 1950 stirbt, ist sie völlig vergessen. Ihr Erinnerungsbuch ist ein eindrucksvolles Dokument des Überlebenswillens und des Widerstands.
Alma M. Karlin: Dann geh ich in den grünen Wald. Meine Reise zu den Partisanen. Hg. von Jerneja Jezernik. Drava Verlag 2021
Lesen Sie nächste Woche von einem österreichischen Autor, der vor in Wien als Theaterregisseur erfolgreich ist und im amerikanischen Exil einen meisterhaften Roman über den Zerfall der Habsburgermonarchie und den folgenden Einzug der Nationalsozialisten in Österreich verfasst.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 32: Alma M. Karlin, Dann geh ich in den grünen Wald (1945)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Alma Maximiliane Karlin kommt 1889 in Cilli (Celje) zur Welt, das damals zu Österreich-Ungarn gehört und heute zu Slowenien. In der Familie spricht man deutsch. Die Tochter eines Offiziers und einer Lehrerin hat eine schwierige Kindheit. Das kleinwüchsige, dünne Mädchen wird halbseitig gelähmt, mit Wasserkopf und schielend geboren; die Ärzte sehen kaum Überlebenschancen. Ihr Vater, schreibt Alma M. Karlin in ihrer Autobiografie Ein Mensch wird, habe sich als k. u. k. Offizier, „der wusste, dass nicht alle Schlachten gewonnen werden konnten, in das Unvermeidliche gefügt“; die Mutter aber „kränkte es in tiefster Seele, dass ich so hässlich war“. Ein Leben lang kämpft Karlin gegen ihre körperlichen Defizite an. Und zieht gleich nach der Matura nach Graz, Paris und London, wo sie Sprachen studiert und nach sechs Jahren ihr Examen in acht Fremdsprachen mit Prädikat abschließt. Nebenbei verdient sie ihren Lebensunterhalt mit Übersetzungen und Privatstunden. Der gescheiterten Liebe zu einem chinesischen Sprachschüler widmet sie 1921 ihren ersten Roman, dem sie den Titel Mein kleiner Chinese gibt.
1914 muss sie London wegen des Ersten Weltkriegs verlassen und lebt danach in Norwegen und Schweden. Nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie kehrt sie 1919 nach Celje zurück, um kurze Zeit später mit einem Koffer und ihrer Schreibmaschine eine Weltreise anzutreten. Und all dies ohne finanzielle Absicherung, geleitet vom Interesse für die Situation der Frau in den verschiedenen Kulturen, von ihren ethnologischen und botanischen Forschungen, von ihren Recherchen zu Religionen, Kulten und Traditionen. Sie bereist die Philippinen, Borneo, Australien, Neuseeland, die USA. Von Peru geht es nach Panama, von Japan nach China, auf die Fidschi- und die Salomoninseln, weiter nach Neuguinea, Indonesien, Malaysia, Thailand, Burma, Singapur, Indien, Pakistan. Mehrmals erkrankt sie lebensgefährlich und infiziert sich mit Malaria.
Auf diesen Reisen beginnt sie zu schreiben und veröffentlicht ihre Reiseskizzen in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Auch zahlreiche Bände mit Novellen aus exotischen Ländern sowie ihre Trilogie Einsame Weltreise (1928), Im Banne der Südsee (1930) und Erlebte Welt – Das Schicksal einer Frau (1933) machen sie international so bekannt, dass sie danach auf Vortragsreisen geht. Die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf schlägt Karlin für den Literatur-Nobelpreis vor. Die slowenische Autorin ist bekannt für ihren Witz und ihre Ironie, für ihren unbändigen Wahrheitsdrang, ihre intellektuelle Eigenständigkeit sowie ihre unabhängige Lebensweise.
Doch die Zeiten ändern sich. 1941 wird das Königreich Jugoslawien von den Achsenmächten besetzt, Slowenien soll „deutsch“ werden und ein brutales Programm der „Entslawisierung“ setzt ein. Die bekannte NS-Gegnerin Karlin gerät ins Visier der Besatzungsmacht. Als sie Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in ihrem Haus in Celje aufnimmt, bringt sie sich ins Lebensgefahr. Sie verliert die Möglichkeit, zu publizieren, wird bespitzelt und bedroht, schließlich von der Gestapo verhaftet und in ein Sammellager deportiert. Zunächst steckt man sie ins Cillier Gefängnis Stari pisker, anschließend wird sie nach Marburg an der Drau gebracht. Ihre Freundin Thea Schreiber-Gammelin erreicht durch ihre Beziehungen in Deutschland, dass Alma Karlin nicht in ein deutsches Konzentrationslager deportiert wird. Sie kommt wieder frei, weil der sie verhörende Offizier ihre Reisebücher liebt, und schließt sich 1944 den Partisanen an, jenen Frauen und Männern vom slowenischen Widerstand in Bela krajina, für die sie Geschichten in deutscher Sprache schreibt.
Unter dem Titel Dann geh ich in den grünen Wald werden 2021 erstmals in deutscher Sprache die autobiografischen Aufzeichnungen Alma M. Karlins aus der Zeit 1938-1945 veröffentlicht. Es sind vier große Kapitel, in denen sie beschreibt, wie sie von einer populären Autorin binnen kurzer Zeit zur Entrechteten und Verfolgten wird.
Das Kapitel „Der Transport“ ist zugleich ein vielschichtiges Porträt ihrer Mitgefangenen, deren Solidarität sie erfährt, obwohl sie Deutsch schreibt. Sie erzählt, wie sie nach ihrer glücklichen Freilassung weiterhin in ihrer Existenz bedroht bleibt. Im Spätsommer 1944, entschließt sie sich, „in den Wald“, zu den Partisanen zu gehen, um mit deren Hilfe nach England zu gelangen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Autorin Mitte 50, gesundheitlich angegriffen und mittellos. Was es heißt, in solch einem Zustand einen 300 Kilometer langen Marsch in ein sicheres Gebiet auf sich zu nehmen, mit aufgeweichten Schuhen und ohne ausreichende Nahrung, beschreibt die Autorin im Kapitel „Bei den Partisanen“. Sie würdigt Kameradschaft und Opferbereitschaft, kritisiert aber auch die Borniertheit der Kommunisten unter den Freiheitskämpfern, die ihr die Weiterreise nach England am Ende verwehren und sie lediglich nach Dalmatien bringen.
Da Misstrauen der slowenischen Partisanen gegen Alma Karlin setzt sich später im kommunistischen Jugoslawien fort. „Im neuen, sozialistischen Staat, in welchem das Deutsche als Sprache der einstigen Okkupanten noch lange nach Kriegsende verpönt ist, wird der deutsch schreibenden Autorin von der jugoslawischen Behörde kein Reisepass ausgestellt, so dass Alma ihre zahlreichen unveröffentlichten Texte im Ausland nicht vermarkten kann“, schreibt ihre Biografin Jerneja Jezernik. Da sie sich nicht nur dem Nationalsozialismus widersetzt hat, sondern auch eine überzeugte Antikommunistin ist, riskiert sie auch bei den meist kommunistischen Partisanen ihr Leben, indem sie die Meinung vertritt, es gebe nichts Höheres als die Freiheit jedes einzelnen Individuums. Sie ist sogar doppelt verdächtig: als Angehörige der einstigen deutschen Mehrheit im Land und als politisch unzuverlässige Frau, die zudem mit ihrem unkonventionellen Lebenswandel Anstoß erregt. Karlins Haus in Celje wird nach Kriegsende konfisziert, ihre letzten Lebensjahre muss die Autorin in einem kleinen Winzerhaus in den Bergen verbringen.
Die 1906 in Brunshaupten (heute Kühlungsborn) geborene Pastorentochter und spätere Malerin Thea Schreiber-Gammelin lebte seit den 1930er Jahren mit der damals berühmten Schriftstellerin im jugoslawischen Celje. Thea Gamelin ist ihre Freundin, Leserin ihrer Manuskripte und Illustratorin ihrer Bücher. In Karlins letzten Lebensmonaten wird sie von Thea Gamelin gepflegt. Als Karlin 1950 stirbt, ist sie völlig vergessen. Ihr Erinnerungsbuch ist ein eindrucksvolles Dokument des Überlebenswillens und des Widerstands.
Alma M. Karlin: Dann geh ich in den grünen Wald. Meine Reise zu den Partisanen. Hg. von Jerneja Jezernik. Drava Verlag 2021
Lesen Sie nächste Woche von einem österreichischen Autor, der vor in Wien als Theaterregisseur erfolgreich ist und im amerikanischen Exil einen meisterhaften Roman über den Zerfall der Habsburgermonarchie und den folgenden Einzug der Nationalsozialisten in Österreich verfasst.