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04.09.2025, 13:58 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 30: Ulrich A. Boschwitz, Der Reisende (1939)

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Ulrich A. Boschwitz, Studioportrait. Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Ulrich Alexander Boschwitz wird 1915 als zweites Kind von Sally und Martha Boschwitz in Berlin geboren. Sein Vater, ein jüdischer Kaufmann, der zum Protestantismus konvertiert ist und als Soldat im Ersten Weltkrieg dient, stirbt 1915, nur wenige Wochen nach Ulrichs Geburt, an einem Hirntumor. Seine Mutter stammt aus einer wohlhabenden Lübecker Senatorenfamilie und zieht ihre Kinder streng protestantisch auf.

Mit 20 Jahren soll Ulrich Alexander zur Wehrmacht eingezogen werden. Dies ist für ihn und seine Mutter der letzte Auslöser, Deutschland zu verlassen – Ulrichs Schwester Clarissa ist bereits 1933 im Alter von 22 Jahren nach Palästina emigriert. Gemeinsam fliehen Mutter und Sohn zunächst nach Norwegen und Schweden, 1936 dann nach Luxemburg und Frankreich. In den Jahren 1937/38 hält sich Boschwitz in Luxemburg auf, wird jedoch aus dem Land ausgewiesen, flieht weiter nach Belgien und schließlich, wieder zusammen mit seiner Mutter, 1939 nach England. Schon früh zeigt Ulrich Alexander Boschwitz ein bemerkenswertes Talent zum Schreiben. Sein erster Roman, Menschen neben dem Leben, erscheint 1937 unter dem Titel Människor utanför in Schweden.

Mit dem Kriegseintritt Großbritanniens im September 1939 leben dort etwa 80.000 so genannte „feindliche Ausländer“, hauptsächlich Deutsche und Österreicher, denen unterstellt wird, sie könnten Spione für Deutschland sein. Tatsächlich sind darunter jedoch 55.000 Menschen, die vor dem NS-Regime aus Deutschland geflohen sind – überwiegend Juden, aber auch politische Gegner des Nationalsozialismus. Ulrich Alexander Boschwitz und seine Mutter werden wie etwa 27.000 weitere Personen als enemy aliens eingestuft und in einem Lager auf der Isle of Man interniert.

Am 16. Mai 1940 entscheidet die britische Regierung, alle männlichen Internierten nach Übersee zu deportieren – eines der dunkelsten Kapitel der britischen Kriegsgeschichte. Ulrich Boschwitz wird im Juli 1940 nach Australien verschifft und kommt in ein Lager in Hay, New South Wales.

1942 darf er das Lager verlassen und plant, zu seiner Mutter nach England zurückzukehren. Zunächst reist er nach Südafrika und schifft sich dort auf der MS Abosso ein. Doch am 29. Oktober 1942 wird das Passagier- und Frachtschiff um 22:13 Uhr vom deutschen U-Boot U-575 torpediert und sinkt. Unter den 362 Todesopfern des Angriffs befindet sich auch der erst 27-jährige Schriftsteller Ulrich Alexander Boschwitz. Sein letztes Manuskript geht mit ihm unter.

Boschwitz’ zweiter Roman, Der Reisende, den er nach dem Novemberpogrom 1938 in nur wenigen Wochen in Paris schreibt, erscheint 1939 unter dem Pseudonym John Grane in London u.d.T. The Man Who Took Trains und 1940 in den USA als The Fugitive. Eine posthume französische Ausgabe erscheint 1945. In deutscher Sprache wird Der Reisende dagegen erst 2018 veröffentlicht, Boschwitz’ erster Roman, Menschen neben dem Leben, erscheint im Herbst 2019.

In Der Reisende schildert Boschwitz das bewegende Schicksal des assimilierten Geschäftsmanns Otto Silbermann, dessen jüdische Freunde und Nachbarn von den Nazis verhaftet werden, während es ihm selbst gelingt, aus Berlin zu fliehen. Das Deutschland der Novemberpogrome 1938 bildet den historischen Rahmen. Otto Silbermann sieht sich plötzlich gezwungen, mit seinem ehemaligen Prokuristen, der nun notgedrungen als „arischer“ Geschäftspartner fungiert, über die Übergabe seines Unternehmens zu verhandeln. Im weiteren Verlauf der Ereignisse setzt er alles daran, nach Belgien zu fliehen. Doch auf seiner Reise wird ihm schmerzlich bewusst, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse dramatisch verändern und die „Mechanismen der Ausgrenzung“ immer rigider greifen.

Aus seiner Wohnung vertrieben, mit einer Aktentasche voller Geld, das er vor den Häschern des NS-Regimes retten kann, irrt Silbermann ziellos umher. Zunächst glaubt er noch an die Möglichkeit einer Flucht ins Ausland, doch sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert. Schließlich sucht er Zuflucht in der Reichsbahn und verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen und in Bahnhofsrestaurants. „Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert“, sagt er über sich selbst. Während seiner Reise bemüht er sich, unsichtbar zu bleiben, nimmt Zug um Zug, begegnet Flüchtlingen und Nazis, guten wie schlechten Menschen. Doch die Ausreise bleibt ihm verwehrt, und die Widerstände, die er erfährt, treiben ihn schließlich zurück nach Berlin.

Silbermanns Odyssee wird zu einem surrealen Überlebenskampf inmitten eines alles durchdringenden Ausnahmezustands. In den Gesprächen, die er führt und mithört, spiegeln sich die erschütternde Lebenswirklichkeit jener Tage und die menschliche Tragödie wider. Die Gleichgültigkeit der Masse, das Mitleid einer kleinen Minderheit und nicht zuletzt die eigene, immer stärker werdende Angst werden dabei ebenso greifbar wie die verzweifelte Hoffnung auf einen Funken Menschlichkeit. „Es muss doch noch Leute geben“, sagt Otto Silbermann, „die trotz aller Gelegenheit anständig und Menschen bleiben.“

Otto Silbermann verliert zunächst seine soziale Existenz und schließlich auch den Verstand. In dieser erschütternden Fluchtgeschichte gehen Hoffnung und Verzweiflung, herzzerreißende Momente und makabrer Zynismus untrennbar miteinander einher. Der Reisende ist eine wundersam traurige Parabel, die die existenzielle Zerrissenheit ihres Protagonisten in eindrucksvollem Maße widerspiegelt. Was Ulrich Alexander Boschwitz in seiner Jugendzeit in Deutschland und während seiner Flucht erlebt hat, wird in diesem Roman zu einer überragenden, dabei jedoch stets leise und präzise gehaltenen Monografie der Gewalt.

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Familiengeschichte weiß Boschwitz, dass er mit diesem Werk etwas Außergewöhnliches geschaffen hat. An seine Mutter schreibt er auf Englisch: “I really believe there is something in the book, which may make it a success.” („Ich denke wirklich, dass in dem Buch etwas steckt, das es erfolgreich werden lassen könnte.“)

Ulrich A. Boschwitz: Der Reisende. Roman. Herausgegeben von Peter Graf. Klett-Cotta, Stuttgart 2018

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