Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 28: Lili Grün, Herz über Bord (1933)

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Am 16. März 1933 – in Deutschland ist Adolf Hitler eben zum Reichskanzler ernannt worden – publiziert der Wiener Zsolnay-Verlag Herz über Bord, den ersten Roman der Schriftstellerin Lili Grün. Die Jungautorin ist 1904 als jüngste Tochter eines jüdischen, aus Ungarn stammenden Kaufmanns in einem proletarischen Wiener Viertel geboren. Der Vater ist Schnurrbartbinden-Fabrikant und vertreibt Parfümerie- und Friseurbedarfsartikel in einem Ladengeschäft. Eine Jugend im Roten Wien. Beide Eltern sterben früh, sodass Lili noch vor ihrem 18. Geburtstag auf sich allein gestellt ist. Sie macht eine Ausbildung zur Büroangestellten. Offenbar nimmt sie auch privaten Schauspielunterricht. Von 1920 bis 1924 gehört sie zum Ensemble des Deutschen Volkstheaters in Berlin. Seit den 1920er Jahren wirkt sie darüber hinaus an der neu gegründeten Bühne der Sozialistischen Arbeiterjugend mit. Einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhalts verdient sie als Verkäuferin in einer Konditorei.
Mit gleichgesinnten jungen Künstlern gründet sie im Frühjahr 1931 das politisch-literarische Kabarett-Kollektiv Die Brücke. Die Spielstätte teilte man sich mit der Katakombe, einem politischen Kabarett mit Mitgliedern wie Ernst Busch oder Hanns Eisler. Grün trug dort eigene Gedichte vor. „Kommunistisches Hetzkabarett“ nennt die Deutsche Tageszeitung das Programm der Brücke. Die Zuschauer bleiben fern. In Berlin findet Lili Grün zum Schreiben. Im damaligen Berliner Zeitgeist-Magazin Tempo und im Prager Tagblatt kann sie erste Gedichte und Erzählungen veröffentlichen. Aber sie erkrankt an Tuberkulose und kehrt nach Wien zurück.
Ihr Romandebüt Herz über Bord erscheint im März 1933 im Paul Zsolnay Verlag. Der Schriftsteller Robert Neumann hat die Autorin an den Verlag vermittelt. In dem Buch verarbeitet sie die Erfahrungen, die sie 1931 als Mitglied des literarisch-politischen Kabaretts Die Brücke in Berlin gesammelt hat. Im Roman heißt das Kabarettkollektiv Jazz. Darauf bezieht sich der Titel der vom AvivA Verlag 2009 neu herausgebrachten Ausgabe Alles ist Jazz. Der Verlag begründet die Abweichung von dem ursprünglichen Romantitel mit dem Titelschutz. Es geht in dem Roman um Amouren, die Berliner Subkultur mit ihren Jazz- und Lesbenlokalen, die eigene Kabarett-Truppe. Mitten dazwischen sucht die Ich-Erzählerin namens Elli einen Partner auf Augenhöhe und nicht „bloß eine breite Männerbrust, an der man sich verkriechen kann“.
Der Roman erzählt die Geschichte dieser Elli, die von Wien nach Berlin gezogen ist, um dort ihre berufliche Laufbahn als Schauspielerin zu verfolgen. In Berlin verliebt sie sich unsterblich in den Jurastudenten Robert, der jedoch ihre künstlerischen Ambitionen nicht teilt. Seit dem Tod ihrer Mutter lebt Elli in schwierigen finanziellen Verhältnissen und fühlt sich zunehmend einsam. Erste Versuche, Freundschaften zu schließen, verliefen enttäuschend, sodass sie all ihre Hoffnungen auf Robert und ihre Zukunft in Berlin setzt.
Als ein Bekannter namens Hullo die Idee zur Gründung eines Kabaretts entwickelt, ist Elli begeistert und schließt sich ihm sowie anderen Schauspielern an, um das Kollektiv Jazz zu gründen. Unter den Mitwirkenden befindet sich auch die Schauspielerin Hedwig. Doch die Beziehung zwischen Elli und Robert gerät zunehmend unter Druck, da er das Theater als Zeitverschwendung betrachtet. Nach intensiven Vorbereitungen feiert das Kabarett schließlich seine Premiere, die ein großer Erfolg wird. Sofort beginnt die Gruppe, an einem weiteren Programm zu arbeiten.
Im Austausch mit Hedwig gesteht Elli, dass sie und Robert nicht zusammenpassen, doch sie fürchtet sich vor der Einsamkeit. Beide Frauen kommen zu der Erkenntnis, dass die idealen Partner nur in Träumen existieren. Kurz darauf muss Hedwig jedoch ins Krankenhaus. Elli besucht sie in einem erbärmlichen Zustand. Die Premiere des neuen Programms muss ohne Hedwig stattfinden, die bald darauf stirbt. Die Besucherzahlen des Kabaretts gehen zurück, und Hullo arrangiert für Elli ein Vorstellungsgespräch bei einem Theaterdramaturgen. Dieser erweist sich als arrogant und lässt sie mit dem Gefühl zurück, nichts für sie tun zu können.
Daraufhin vermittelt Hullo Elli ein Engagement in der Sternenbar, einem Treffpunkt für Transvestiten. Obwohl sie dort gut verdient, fühlt sie sich zunehmend unwohl. Weitere Bewerbungen bleiben erfolglos. Als Robert ihr gesteht, sie betrogen zu haben, sieht sich Elli nach einer Kabarett-Vorstellung mit einem zudringlichen Gast konfrontiert. Schließlich muss das Kabarett schließen. In ihrer Verzweiflung geht Elli eine Beziehung mit Hullo ein, dem sie ihre Gedanken über ihre Lebensmüdigkeit offenbart. Ein rührender Brief einer Freundin aus Wien und die Erinnerung an vergangene Erfolge schenken ihr neue Hoffnung.
Unerwartet erhält sie schließlich für die Sommermonate ein Engagement an einem Theater, und so blickt Elli, gestärkt und voller Zuversicht, hoffnungsvoll in die Zukunft.
Der Roman wird freundlich aufgenommen, eine zweite Auflage wir gedruckt. Im Oktober 1933 reist Elly Grün mit ihrem Lebensgefährten Ernst Spitz über Prag nach Paris. Doch die prekären Lebensumstände ändern sich nicht. Im November 1934 muss sie den geschützten Titel ihres Debütromans an einen Berliner Theaterverlag verkaufen. Das Geld kann Grüns Notlage nicht lindern.
Schwerkrank zieht sie Anfang 1935 wiederum nach Wien. Der Zsolnay Verlag führte eine Spendenaktion durch, um ihr einen mehrwöchigen Kuraufenthalt in Meran zu finanzieren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 und der damit verbundenen Verfolgung und Entrechtung der österreichischen Juden ist es der Jüdin Lili Grün nicht mehr möglich, als Schriftstellerin tätig zu sein. Die Flucht ins Ausland gelingt ihr aus finanziellen Gründen nicht. Ihre Wohnung wird gekündigt und sie muss mehrfach umziehen. Am 27. Mai 1942 wird Lili Grün aus Wien deportiert und am 21. Juni im Vernichtungslager Maly Trostinez in Weißrussland ermordet.
Lili Grün: Alles ist Jazz. Roman. AvivA Verlag, Berlin 2010.
Lesen Sie nächste Woche, welcher Autor in der Nazi-Zeit einen Homosexualität andeutenden Roman publizierte und mit 45 von Rotarmisten erschossen wurde.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 28: Lili Grün, Herz über Bord (1933)>

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Am 16. März 1933 – in Deutschland ist Adolf Hitler eben zum Reichskanzler ernannt worden – publiziert der Wiener Zsolnay-Verlag Herz über Bord, den ersten Roman der Schriftstellerin Lili Grün. Die Jungautorin ist 1904 als jüngste Tochter eines jüdischen, aus Ungarn stammenden Kaufmanns in einem proletarischen Wiener Viertel geboren. Der Vater ist Schnurrbartbinden-Fabrikant und vertreibt Parfümerie- und Friseurbedarfsartikel in einem Ladengeschäft. Eine Jugend im Roten Wien. Beide Eltern sterben früh, sodass Lili noch vor ihrem 18. Geburtstag auf sich allein gestellt ist. Sie macht eine Ausbildung zur Büroangestellten. Offenbar nimmt sie auch privaten Schauspielunterricht. Von 1920 bis 1924 gehört sie zum Ensemble des Deutschen Volkstheaters in Berlin. Seit den 1920er Jahren wirkt sie darüber hinaus an der neu gegründeten Bühne der Sozialistischen Arbeiterjugend mit. Einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhalts verdient sie als Verkäuferin in einer Konditorei.
Mit gleichgesinnten jungen Künstlern gründet sie im Frühjahr 1931 das politisch-literarische Kabarett-Kollektiv Die Brücke. Die Spielstätte teilte man sich mit der Katakombe, einem politischen Kabarett mit Mitgliedern wie Ernst Busch oder Hanns Eisler. Grün trug dort eigene Gedichte vor. „Kommunistisches Hetzkabarett“ nennt die Deutsche Tageszeitung das Programm der Brücke. Die Zuschauer bleiben fern. In Berlin findet Lili Grün zum Schreiben. Im damaligen Berliner Zeitgeist-Magazin Tempo und im Prager Tagblatt kann sie erste Gedichte und Erzählungen veröffentlichen. Aber sie erkrankt an Tuberkulose und kehrt nach Wien zurück.
Ihr Romandebüt Herz über Bord erscheint im März 1933 im Paul Zsolnay Verlag. Der Schriftsteller Robert Neumann hat die Autorin an den Verlag vermittelt. In dem Buch verarbeitet sie die Erfahrungen, die sie 1931 als Mitglied des literarisch-politischen Kabaretts Die Brücke in Berlin gesammelt hat. Im Roman heißt das Kabarettkollektiv Jazz. Darauf bezieht sich der Titel der vom AvivA Verlag 2009 neu herausgebrachten Ausgabe Alles ist Jazz. Der Verlag begründet die Abweichung von dem ursprünglichen Romantitel mit dem Titelschutz. Es geht in dem Roman um Amouren, die Berliner Subkultur mit ihren Jazz- und Lesbenlokalen, die eigene Kabarett-Truppe. Mitten dazwischen sucht die Ich-Erzählerin namens Elli einen Partner auf Augenhöhe und nicht „bloß eine breite Männerbrust, an der man sich verkriechen kann“.
Der Roman erzählt die Geschichte dieser Elli, die von Wien nach Berlin gezogen ist, um dort ihre berufliche Laufbahn als Schauspielerin zu verfolgen. In Berlin verliebt sie sich unsterblich in den Jurastudenten Robert, der jedoch ihre künstlerischen Ambitionen nicht teilt. Seit dem Tod ihrer Mutter lebt Elli in schwierigen finanziellen Verhältnissen und fühlt sich zunehmend einsam. Erste Versuche, Freundschaften zu schließen, verliefen enttäuschend, sodass sie all ihre Hoffnungen auf Robert und ihre Zukunft in Berlin setzt.
Als ein Bekannter namens Hullo die Idee zur Gründung eines Kabaretts entwickelt, ist Elli begeistert und schließt sich ihm sowie anderen Schauspielern an, um das Kollektiv Jazz zu gründen. Unter den Mitwirkenden befindet sich auch die Schauspielerin Hedwig. Doch die Beziehung zwischen Elli und Robert gerät zunehmend unter Druck, da er das Theater als Zeitverschwendung betrachtet. Nach intensiven Vorbereitungen feiert das Kabarett schließlich seine Premiere, die ein großer Erfolg wird. Sofort beginnt die Gruppe, an einem weiteren Programm zu arbeiten.
Im Austausch mit Hedwig gesteht Elli, dass sie und Robert nicht zusammenpassen, doch sie fürchtet sich vor der Einsamkeit. Beide Frauen kommen zu der Erkenntnis, dass die idealen Partner nur in Träumen existieren. Kurz darauf muss Hedwig jedoch ins Krankenhaus. Elli besucht sie in einem erbärmlichen Zustand. Die Premiere des neuen Programms muss ohne Hedwig stattfinden, die bald darauf stirbt. Die Besucherzahlen des Kabaretts gehen zurück, und Hullo arrangiert für Elli ein Vorstellungsgespräch bei einem Theaterdramaturgen. Dieser erweist sich als arrogant und lässt sie mit dem Gefühl zurück, nichts für sie tun zu können.
Daraufhin vermittelt Hullo Elli ein Engagement in der Sternenbar, einem Treffpunkt für Transvestiten. Obwohl sie dort gut verdient, fühlt sie sich zunehmend unwohl. Weitere Bewerbungen bleiben erfolglos. Als Robert ihr gesteht, sie betrogen zu haben, sieht sich Elli nach einer Kabarett-Vorstellung mit einem zudringlichen Gast konfrontiert. Schließlich muss das Kabarett schließen. In ihrer Verzweiflung geht Elli eine Beziehung mit Hullo ein, dem sie ihre Gedanken über ihre Lebensmüdigkeit offenbart. Ein rührender Brief einer Freundin aus Wien und die Erinnerung an vergangene Erfolge schenken ihr neue Hoffnung.
Unerwartet erhält sie schließlich für die Sommermonate ein Engagement an einem Theater, und so blickt Elli, gestärkt und voller Zuversicht, hoffnungsvoll in die Zukunft.
Der Roman wird freundlich aufgenommen, eine zweite Auflage wir gedruckt. Im Oktober 1933 reist Elly Grün mit ihrem Lebensgefährten Ernst Spitz über Prag nach Paris. Doch die prekären Lebensumstände ändern sich nicht. Im November 1934 muss sie den geschützten Titel ihres Debütromans an einen Berliner Theaterverlag verkaufen. Das Geld kann Grüns Notlage nicht lindern.
Schwerkrank zieht sie Anfang 1935 wiederum nach Wien. Der Zsolnay Verlag führte eine Spendenaktion durch, um ihr einen mehrwöchigen Kuraufenthalt in Meran zu finanzieren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 und der damit verbundenen Verfolgung und Entrechtung der österreichischen Juden ist es der Jüdin Lili Grün nicht mehr möglich, als Schriftstellerin tätig zu sein. Die Flucht ins Ausland gelingt ihr aus finanziellen Gründen nicht. Ihre Wohnung wird gekündigt und sie muss mehrfach umziehen. Am 27. Mai 1942 wird Lili Grün aus Wien deportiert und am 21. Juni im Vernichtungslager Maly Trostinez in Weißrussland ermordet.
Lili Grün: Alles ist Jazz. Roman. AvivA Verlag, Berlin 2010.
Lesen Sie nächste Woche, welcher Autor in der Nazi-Zeit einen Homosexualität andeutenden Roman publizierte und mit 45 von Rotarmisten erschossen wurde.